Ines Moussavi gehört zu den erfahrensten TangolehrerInnen hierzulande. Sie gibt nicht nur Unterricht, darüber hinaus organisiert sie Tanzreisen. Ihr Werdegang spiegelt auch die Entwicklung des Tangotanzens in Deutschland wider. Ich kann nicht „journalistisch neutral“ über sie schreiben. Denn ich habe etliche Workshops bei ihr besucht und bin Stammgast in ihrer Berliner Milonga – obwohl mir der Musikgeschmack der Djs nicht immer behagt. Aber ich mag die ungezwungene Atmosphäre. Außerdem hab ich mal in der Nähe gewohnt. Der folgende Text ist zuerst in der Tangodanza 3/2018 erschienen. Ich habe mit der Veröffentlichung in meinem Blog gewartet, bis die neue Nr. der Zeitschrift auf dem Markt ist. Inaktuell ist er deshalb noch lange nicht. Die beiden Videos zeigen Ines mit ihren beiden wichtigsten Partnern als Lehrer: Constantin Rüger und Eric Joerissen.
Was ist das Besondere an diesem Ort? Der mühsame Aufstieg, fünf Stockwerke hoch ins Dachgeschoss eines Berliner Hinterhauses? Der grandiose Blick von der kleinen (Raucher-)Terrasse? Das gepflegte helle Schwingparkett oder die international erfahrenen DJs? Nichts davon. Es ist der Tisch. Am Kopfende des gut 80 Quadratmeter großen Studios steht er. Auf der anderen Seite eine Spiegelwand für den Unterricht. Dazwischen die Tanzfläche. Aber hier vorn schlägt das Herz der Milonga, Montag- für Montagabend.
Zehn, zwölf Menschen haben hier Platz, wie an einem großen Wohnzimmertisch. „Wieso wie?“ wirft die Hausherrin ein. „Das ist mein Wohnzimmer.“ Man bedient sich selbst vom kleinen Küchenbuffet mit Snacks und Getränken. Eine ‚Kasse des Vertrauens‘ unterstreicht die familiäre Note. Die meisten Gäste sitzen in bequemen offenen Nischen. Aber der Tisch bestimmt die Atmosphäre. „Drink doch enne met“, singen die Kölschrocker von ‚Bläck Föös‘. Der Tisch sagt es auf Hochdeutsch: Setz dich, schau, sprich und tanz mit uns! In keiner anderen Milonga der Stadt ist die Gefahr so gering, dass eine neu hereingeschneite Tänzerin einfach sitzen gelassen wird.
Seit bald zehn Jahren „regiert“ Ines Moussavi von diesem Dachgeschoss aus ihr kleines, aber weitgesstecktes Tangoimperium. Es reicht von Wilmersdorf bis ins Wendland, von Kroatien bis Kapstadt. Und wenn sie selbst einmal entspannt tanzen will, dann setzt sie sich ins Auto und fährt nach Nijmegen. Dort hat Eric Joerissen seinen in alle Welt ausstrahlenden „Tango-Ashram“ El Corte eingerichtet. Ines organisiert für ihn Workshops und unterrichtet gemeinsam mit dem charismatischen Lehrer aus den Niederlanden.
Die Vorgeschichte ist etwas länger – und begann mit einem Korb. Vor 30 Jahren war nur ein Zimmer des riesigen Dachgeschosses bewohnbar. Der Rest: Baustelle. Ines suchte damals per Anzeige einen Mitbewohner Ein Interessent hatte einen – aus ihrer damaligen Sicht – ungewöhnlichen Wunsch. Er suchte ein WG-Zimmer mit einem „tanzfähigen Gemeinschaftsraum“.
Ulrich Demmel sollte für einige Jahre Ines’ Tanz- und Lebenspartner werden. Aber erst einmal bekam er einen Korb. Dennoch meldete er sich wieder. Ob Ines nicht Lust hätte, einmal mit zum Tango Argentino zu kommen, wollte er wissen. „Ach, dieser komische Tanz, wo man immer den Kopf hin und her schmeißt?“ Ein Tanzabend im Maxixe, einer der ersten alternativen Berliner Ballroom-Tanzschulen, belehrte sie eines Besseren.
Denn da gab’s eine kleine Tangoshow. Und die faszinierte sie. So ist Ines Moussavi bei Juan Dietrich Lange gelandet. Aus dem Estudio Sudamerica des Deutsch-Uruguayers sind viele deutsche Tangolehrer hervorgegangen. Dass sie einmal dazu gehören würde, ahnte Ines damals noch nicht. Aber das Estudio war für sie alternativlos, denn nur hier konnte sie als Singlefrau hingehen.
Ihre erste Tangostunde absolvierte sie dort bei einem weiteren Urgestein der Szene: Michael Rühl, dessen Milonga im Roten Salon die wohl älteste der Republik ist. „Erste Stunde, die Base,“ erinnert sie sich. „Männlein hier, Weiblein dort. Auswendig lernen.“ Hat sie das nicht abgeschreckt? „Erstaunlicherweise nicht“, lacht sie. „Da wusste ich, dass ich das wirklich lernen will. Denn bis heute tue ich mich schwer, mir Schrittfolgen zu merken.“
Mit Ulrich hat’s dann doch noch geklappt. Erst als Tanzpartner, später auch im richtigen Leben. Und schon bald begann auch, was für Ines heute nicht weniger wichtig ist als das Tanzen: Sie fing an zu organisieren. Ihre erste Veranstaltung mit Ulrich war ein Workshopwochenende auf einem Bauernhof bei Berlin. Als Lehrer gewannen sie Debra Ferrari und Emiliano Giménez, ein Profipaar aus Buenos Aires, das Mitte der 1990er-Jahre in der Stadt hängen geblieben war.
Das war alles noch sehr informell, mit Schlafsackübernachtung im Gemeinschaftsquartier. Doch wenig später folgte ein Ort, an dem Ulrich (mit Judith Kotal von der Berliner Tanzschule Bebop) heute wieder Tangourlaube veranstaltet: Schloss Lagow, nicht weit hinter der polnischen Grenze. Hier begann Ines’ Karriere als professionelle Veranstalterin von Tangoreisen. Heute bestreitet sie damit den größten Teil ihres Lebensunterhalts.
Anderen den Tanz beizubringen, wo man eben nicht ‚den Kopf hin- und herschmeißt‘, dafür fühlte sie sich längst noch nicht reif nach einem Jahr Tango. Aber der Gedanke war verführerisch. Folgerichtig schloss sich die Begegnung mit Urgesteinen Michael Domke und Gerrit Schüler an. Die beiden hatten gerade begonnen, ein Curriculum für die Ausbildung von Tangolehrern zu entwickeln. Also pendelte sie von Berlin nach Bremen.
Damals ging alles schneller als heute. Die Tangoszene war längst nicht so groß und vor allem nicht so professionalisiert. Also rutschten Ines und Ulrich hinein ins pralle Tangolehrerleben. Wo das Ganze stattfand? Im Schoß von ‚Mutter Kirche‘ – im Saal einer Evangelischen Gemeinde in Berlin-Schöneberg.
Zur Komplettierung der Tangounternehmerin Ines Moussavi fehlte jetzt noch eine Milonga. Viele gab es davon nicht im Berlin kurz nach der Jahrtausendwende. Aber in jenem Haus, in dem sie bis heute wohnt und arbeitet, residierte eine kleine private Bühne: das Windspiel-Theater. Das hatte am Montag seinen Ruhetag. „Eine der Betreiberinnen tanzte Tango“, erinnert sich Ines. „Die hat uns dann gefragt: ‚Wollt ihr nicht ‘ne Milonga machen?‘“
Deshalb findet ihre Milonga Berlinesa bis heute an diesem Tag statt, mittlerweile allerdings einige Stockwerke höher – und nicht ganz so konkurrenzlos wie am Anfang. Weil die Berliner Szene, zumindest darin Buenos Aires ähnlich, nicht mehr ohne die Touristen auskommt, heißt sie inzwischen Private Rooftop Milonga.
Schon damals hatte Ines einen Sinn für Stil und Dekoration: weiße Tischdecken, frische Blumen – was im Berliner Tangoleben bis heute nicht gerade üblich ist. Den Eröffnungsabend hat sie aus einem anderen Grund nicht vergessen. Der engagierte DJ ließ sie im Stich. Und nun? Sie hatte immerhin ihres CDs schon ‚getaggt‘, wie man heute sagen würde: „Tangos zackig, Tangos romantisch, dramatisch und so weiter.“ Die bekam ihr WG-Partner in die Hand gedrückt, der nichts mit Tango zu tun hatte. Dazu die Maßgabe: „Immer vier Stücke von einer CD.“ Und noch ein Grundsatz galt: Jede dritte oder vierte Tanda musste aus Non-Tangos bestehen.
„Davon war ich ein unbedingter Fan“, sagt Ines, „damals aktuelle Popmusik, aber auch Chansons oder eine Kurzversion des Bolero von Maurice Ravel. Alles Mögliche eben, worauf man Tango tanzen konnte.“ Später bespielte sie die Westberliner Diskothek Far Out war für ihre besonders wilde Mischung bekannt. Heute legt Ines nur noch selten selbst auf. Und für ihre Dachmilonga wirbt sie mit der Versicherung, dass es nur „sorgsam ausgewählte, klassische Tangos“ zu hören gibt.
Einen muskulösen Türsteher wie damals in der Disko gibt es ebenso wenig. Aber auch keinen ständigen Tanz(lehrer)partner, mit dem sie das Leben teilte. Heute arbeitet sie mit wechselnden Lehrern für die führende Rolle zusammen. Irgendwann machte eine britische Tangofreundin ihr Mut, es doch auch allein zu probieren. In Ruth Rozelaars (früher Ruth Zimmermann) Tangomango im britischen Devon hatte sie bereits anderen Frauen Einzelunterricht gegeben. Dabei musste sie ja auch führen. „Mach, was du kannst“, hatte Ruth ihr geraten. „Du wirst dich schon reinfinden.“ Sie fand sich rein.
Aber selbstverständlich arbeitet Ines auf ihren Tangoreisen weiter mit männlichen Partnern zusammen – mit Fernando Guidi etwa, den sie in Devon kennengelernt hatte. Vor allem aber mit zwei Tänzern, mit denen sie bis heute eine tiefe Freundschaft verbindet: Eric Joerissen aus Nijmegen und dem Berliner Constantin Rüger. Mit ihm und dessen langjähriger Tanzpartnerin Judith Preuß von der Schule Mala Junta hat sie auch begonnen, selbst Tangolehrer auszubilden.
Die wichtigste Änderung in ihrem Tangoleben hat Ines allerdings noch gemeinsam mit Ulrich durchgemacht. Sie fand auf ihrer ersten großen Pilgerfahrt nach Buenos Aires statt. Gleich in ihrer ersten Nachmittagsmilonga erhielten die beiden eine unbezahlte Lektion, die sie nie wieder vergessen sollten. Das deutsche Paar tanzte die großen Figuren, auf die es so stolz war. So sah der Tango im Film und in den Shows aus. Aber eben nicht in Buenos Aires. Hier kesselte die Schwarmintelligenz der erfahrenen Milongueros und Milongueras die beiden ein, bis sie … jedenfalls nicht mehr so tanzen konnten, wie sie es gewohnt waren.
Aber sie wollten doch den ‚richtigen‘ Tango tanzen und zu Hause lehren, so wie er hier in ‚Mekka‘ üblich war. Durch einen glücklichen Zufall stießen sie auf Ana Maria Shapiro. Zusammen mit Susana und Oscar ‚Cacho‘ Dante gehörte sie zu den ProtagonistInnen des Milonguero-Stils. Privatstunde um Privatstunde quälte sich das Paar aus Alemania mit der engen Tanzhaltung, die beide zunächst „furchtbar unbequem“ fanden, wie Ines sich erinnert. Ihre Figuren passten nicht zu dem für sie neuen Stil.
Heute ist bei Ines genau richtig, wer lernen will, die kleinen, kaum wahrnehmbaren gelaufenen Rückwärtsachten im Milonguero-Stil zu tanzen und zu führen. Von ihrer argentinischen Lehrerin lernten die beiden obendrein, nicht nur ihr Figurenrepertoire irgendwie im Takt zu zelebrieren, sondern wirklich auf die Musik zu hören, sich von der Musik führen zu lassen.
Ines Moussavi ist inzwischen immer seltener in ihrem Wohnzimmer anzutreffen. Sie kann sich auf ihre DJs verlassen und auf die Freundinnen und Freunde, die an ihrer Stelle in die Gastgeberrolle schlüpfen. Im Sommer ist sowieso Pause. Dann besucht die Chefin die verschiedenen Stationen ihres Tangoreichs. Oder sie kundschaftet neue Locations aus. Wer ihr auf Facebook folgt, wird Zeuge ihrer Reisen. Der scharfe Blick, mit dem sie Schwächen und Stärken ihrer SchülerInnen analysiert, zeichnet sie auch als Fotografin aus.
Traditionell beginnt Ines das Jahr gemeinsam mit Eric Joerissen in Kapstadt, es folgen mehrere Wochen im Wendland. Die Proitzer Mühle, wo sich früher vor allem Freunde keltischer Musik tummelten, hat sie zu einem Zentrum des Tango gemacht. Hier arbeitet sie mit verschiedenen Formaten – vom klassischen Tangourlaub mit durchgehendem Kurs bis zu den ‚Labs‘, an deren Entwicklung ihr besonders liegt. Nach dem Vorbild des Tangomango herrscht in diesen ‚Laboratorien‘ große Offenheit. Es können Singles ebenso teilnehmen wie Paare. Jeder kann sich jede(r) aussuchen, ob und wie viele Kurse er oder sie besuchen oder einfach nur tanzen will. Dabei ist ihr stets die Kooperation mit unterschiedlichen LehrerInnen wichtig.
Tja, und dann gibt es da noch Vis, eine kleine Insel vor der Küste Kroatiens, die ihre nicht ganz bequeme Erreichbarkeit vor dem Verhängnis des Massentourismus bewahrt hat. Wenn Ines einmal beginnt, von ihrer „zweiten Heimat“ zu schwärmen, ist die auf manchen eher kühl wirkende Tangolehrerin kaum noch zu stoppen. „Join us in Paradise“ wirbt sie gemeinsam mit ihrer alten Freundin Ruth Rozelaar. Gemeinsam pflegen die beiden ein besonderes Anliegen: „Wir freuen uns besonders über alle, die ‘open role’ tanzen.“
Selbstverständlich hat sich nicht nur Ines’ Tango verändert seit dem großen Umbruch, damals in Buenos Aires. Längst wird über die Angemessenheit der Begriffe ‚Führen‘ und ‚Folgen‘ debattiert. Immer mehr Frauen wollen nicht mehr vom Wohlwollen der Männer abhängig sein, um zu tanzen. Häufig gibt es in den Milongas den viel beklagten „Frauenüberschuss“. Der werde „unverdrossen weiter produziert“, ärgert sich Ines, weil viele Tanzstudios männliche ‚Springer‘ den weiblichen Single-Nachwuchs betanzen ließen.
Doch inzwischen wollen immer mehr Frauen selbst die Führungsrolle übernehmen – mindestens aber, dazu in der Lage sein. Denn sie haben gelernt, wie sehr die Kenntnis der anderen Rolle ihren eigenen Tanz bereichert. Damit wird auch experimentiert, wenn die Hausherrin zu den Ladies Weeks in ihr Berliner Studio einlädt. Da geht es nicht längst nicht bloß um ‚Frauentechnik‘ für besonders schöne Verzierungen, sondern um die Grundlagen des Tango. Ines organisiert die Workshops als offenen Austausch zum Üben und Klönen und Feiern – rund um dem großen Tisch in ihrem Wohnzimmer.