“Als Tänzer umarmen wir ständig fremde Menschen, und das trägt sicher auch zu einem besseren Miteinander außerhalb der Tanzfläche bei”
Fil Kirchner, Tango-Veranstalter
(Ein Zitat aus Zeiten, die wir uns bald wieder wünschen)
Ich kann’s nicht leugnen: Ein bisschen bin ich neidisch auf Ulrike Wronski. Ein Buch wie das ihre hat auch mir vorgeschwebt. Aber ich konnte meine vagabundierenden Gedanken nie einfangen und in eine passende Form bringen. Meine Trägheit… Deshalb gleich zu Beginn: Glückwunsch! Mit Fortschreiten der Lektüre ist mein Neid übrigens immer größerem Respekt gewichen. Ich hätte es sicher anders geschrieben. Aber dass ich es besser hinbekommen hätte, glaube ich nicht.
Nun hat die Autorin Pech: Ihr Führer durch die Berliner Tango-Szene erscheint zu einem Zeitpunkt, da niemand einen Führer durch irgendeine Szene braucht. Die Welt nicht nur der Tanzenden steht still. In diesem Fall hat das allerdings einen kleinen Vorteil. Wir können bei der Lektüre den Service-Teil beiseite lassen. Stattdessen haben wir umso mehr Zeit, uns jenem Schatz zu widmen, der sonst womöglich zwischen all den nützlichen Tipps untergegangen wäre. In präzise und wohl informiert geführten Gesprächen stellt Ulrike Wronski jene Menschen vor, die uns den Tango in Berlin nahe bringen. So können wir das Buch in viel umfassenderen Sinn als Reiseführer durch die Tango-Szene lesen.
Ulrike Wronski, Tango-Guide Berlin: Die besten Tanzschulen, Milongas und Festivals, 240 S., Books on Demand 2020, als Taschenbuch 16,95 Euro, digital 9,99
Besonders beeindruckend finde ich die Vielfalt, die dabei zum Ausdruck kommt. Ein Beispiel: Judith Preuß zählt zu den erfahrensten Tango-Lehrerinnen der Stadt. Zusammen mit dem “Nou” und dem “Tango tanzen macht schön” bildet ihr “Mala Junta” das Dreigestirn der drei großen Tango-Schulen der Stadt. Von ihr lese ich unter anderem den Satz: “Es braucht meiner Meinung nach (…) keinen Regelkanon für die Milongas. Die Leute sollen selbst aufpassen, dass sie nicht gegen den Tisch tanzen.” So weit ich die LehrerInnen ihre Schule kenne, dürfte sie mit dieser Auffassung in der Minderheit sein. Stört sie das? Offenbar nicht.
Ganz anders Frank Seifert. Er hat vor gar nicht so langer Zeit die inzwischen höchst erfolgreiche Milonga “Cafe Dominguez” in Leben gerufen. Er hat nichts dagegen, als “Tangopolizist” bezeichnet zu werden – weil er streng auf die Einhaltung von Regeln rund um die Pista achtet. Ein Besuch in Buenos Aires 2008 habe ihm “die Augen geöffnet”, berichtet er: “Die Leute tanzten so geordnet.” Das hat er sich zum Vorbild genommen. Das “CaDo” findet zur Untermiete in den Räumen des “Mala Junta” statt. Die meisten TänzerInnen unterstellen, dass es zum “Mala Junta” gehört. Stimmt nicht. Aber Judith nimmt es hin.
Faszinierend finde ich auch, wie oft in den Gesprächen ein Name fällt – ob von Tänzern, Lehrern oder Musikern: Astor Piazzolla. Viele, wenn nicht die meisten der heutigen Akteure über 40 oder 50 sind durch seine Musik zum Tango gekommen. Leider merkt man das den heutigen Milongas nicht mehr an.
Um so bemerkenswerter, wie häufig aus der Generation, die früheren Zeiten bis zu den Anfängen des Tango in Berlin erlebt hat, die Klage zu hören ist, der Tango sei so eintönig geworden. Der Amerikaner Korey Irland ist vor Jahren nach Berlin gekommen, weil er nach neuen Möglichkeiten suchte. Heute leitet er das “Tango Community Orchester”, das aus Profis und Laien besteht. Sein Repertoire orientiert sich strikt an der “Goldenen Epoche”. Dennoch findet er: “Im Moment kommt in der Berliner Tango-Szene die Individualität leider zu kurz”. Offenbar sehnten sich die Leute nach einer Zeit des Experientierens “nach einem vermeintlichen Ideal”, vermutet er und hofft auf einen neuen Pendelausschlag in die andere Richtung.
Die Älteren fanden es zum Beispiel toll, sich von vorgegebenen Figuren zu befreien. So schwärmt Thomas Rieser, der vor gut 15 Jahren zusammen mit Hagen Schröter das “Nou” gegründet hat: “Lange bevor unsere Zusammenarbeit begann, waren wir gemeinsam auf Milongas unterwegs. Als Experiment nahmen wir uns vor, keine Figuren zu tanzen, sondern nur musikalisch zu gehen. Und das hat funktioniert! Keine unserer Tanzpartnerinnen hat sich beschwert, dass das langweilig sei.”
Die Jungen heute scheinen anders zu ticken, Pedram Shahyar (mit dunklem Hemd in der Performance vom HBF zu sehen) organisiert die “Milonga Popular” – den Hotspot der jungen Tangoszene in Berlin. Er fand es total langweilig, als er in Buenos Aires im Tango-Unterricht erst einmal Gehen sollte. Deshalb geht es bei ihm ganz anders los: “In der Milonga Popular lernen die Anfänger schon in der ersten Stunde eine kleine Schrittfolge”. Die Technik wird nachgereicht, “wenn sie Feuer gefangen haben”. Das Pendel, von dem Korey spricht, ist offenbar in ständiger Bewegung.
Aber ich will nicht zu viel vorweg nehmen. Außerdem hat Ulrike Wronski etliche Gespräche auf Facebook veröffentlicht. https://www.facebook.com/ulrikewronski Nur zwei Musiker möchte ich noch zu Wort kommen lassen: Judith Brandenburg und Pablo Woiz.
Der Pianist ist den Weg von Piazzolla zurück zu den Klassikern gegangen. Heute findet er es “schwerer, traditionelle Tangos zu spielen” als die Musik des Avantgardisten – nicht wegen der Melodien und Harmonien, sondern wegen ihrer besonderen Phrasierung, die nicht in den Noten festzuhalten ist. Mit seinem Tango-Trio (mit Bandoneon und Kontrabass) spielt er in Milongas zum Tanz. Im Ensemble “Milonga Roots” (mit Basss und Schlagzeug) erkundet er die perkussiven Wurzeln des Tango im Candombe, ursprünglich der Musik der Sklaven. Diese drei sind eher in Jazzklubs zu hören. https://www.pablowoiz.com
Zu viele traditionelle Milongas hält Judith Brandenburg “für eine Sackgasse”. Das Kopieren der alten Orchester sei “für den Lernprozess wichtig”, sagt die Bandoneonistin und Komponistin, “aber dauerhaft finde ich das nicht sinnvoll”.. Viele ihrer Stücke seien “nicht primär zumTanzen gedacht”, räumt sie ein, fügt aber an: “Das kann man dazu trotzdem sehr gut” . Am glücklichsten ist die Musikerin, wenn sie “improvisieren kann und die Leute dazu tanzen”.
Brandenburg und Woiz sind übrigens beide Stammgäste beim “Contemporary Tangofestival” im Berliner Hauptbahnhof – gewesen, muss ich leider hinzusetzen. Denn wegen der ökomischen Probleme in die Corona die Geschäftsleute bringt, hat die Werbegemeinschaft des HBF die Förderung erst einmal gestrichen.
PS: Eine kurze Bemerkung zum Serviceteil kann ich mir dann doch nicht verkneifen. Bei den Tanzschuh-Geschäften hat die Autorin eine Institution vergessen: Tanzsport Bürger https://www.tanzsport-boutique-buerger.de Der Laden liegt fern aller hippen Gegenden in einer Lichterfelder Ein-Familien-Haus-Siedlung. Aber hier haben Generationen Berliner Tänzerinnen und Tänzer ihre Schuhe gekauft – ob Standard/Latein, Tango, Swing, Hiphhop oder Ballett. Die Beratung durch die Inhaberinnen (Mutter und Tochter) ist legendär.