Ich tanze seit einer Weile nicht mehr. So gut wie nicht. Für die Online-Konzerte des “Cuarteto Rotterdam” haben meine Frau und ich regelmäßig den Wohnzimmerteppich eingerollt. Zuletzt zum 19. Geburtstag, den das berliner “Tangoloft” im Varietee-Theater “Wintergarten” gefeiert hat. Tolle Musik, auch wenn sie in unseren Ohren ziemlich wehmütig klang. Aber nach ein, zwei Runden haben wir uns aufs heimische Sofa gesetzt und nur noch zugehört. Ein Solo Paar macht eben noch keine Milonga. Wir haben auch die alljährlichen Weihnachtsgeschenk-Tänze für meine Schwiegermutter absolviert, die im Sterben lag. http://kroestango.de/aktuelles/tango-und-weihnachten-und-tod/ Aber das war’s.
Ich liebe den Tango, als Musik, als Tanz. Aber ich bin nicht besessen von ihm. Notabene bin ich mit bald 70 Jahren auch aus jenem Alter raus, da mich Verbotenes gerade scharf gemacht hätte. Den Marlboro-Milonguero auf der Suche nach Freiheit und Abenteuer über meine innere Pampa zu jagen, reizt mich nicht.
Nun warten wir eben, bis es wieder anders wird in dieser Welt und die Lebensgefahr durch den Corona-Virus uns nicht mehr in den Bann schlägt.
Ich erinnere mich noch gut an den Anfang der “Epoca Corona”. In dieser Phase avancierte die Facebookgruppe für “Tangoflashmobs” zeitweilig zum wichtigsten Veranstaltungsforum. Damals haben wir bei sommerlichem Wetter regelmäßig draußen getanzt. Tagsüber. Zu den Abend-Milongas bin in nie gegangen, weil meine Frau nicht teilnehmen konnte. Berufliche Frühaufsteherin. Ich weiß allerdings, es wäre für mich kein Problem gewesen, eine Tänzerin zu finden. Ich kenne einige Singles, die Protokoll über ihre PartnerInnen geführt haben. Ob das alles gesundheitsamtlich korrekt verlief? Wahrscheinlich nicht.
“Kein Partnerwechsel” lautete damals schon erste Hygiene-Gebot. Auch eine – aus heutiger Sicht paradiesisch hohe – Obergrenze für Paare auf der Pista gab es. Wir haben uns (fast immer) dran gehalten. Im Lauf eines Nachmittags haben wir dann aber doch mit “fremden” PartnerInnen getanzt – allerdings nur mit solchen, die wir kannten. Manchmal mit Maske, manchmal ohne. Damals – das war am Beginn dessen, was wir heute die “erste Welle” nennen. Bei allem Kribbeln im Nacken hatte unser Umgang mit der Gefahr noch etwas, nun ja, durchaus Spielerisches. Die meisten von uns kannten den Virus nur aus und in den Medien. “Kennst Du jemanden persönlich” lautete eine viel gestellte Frage. Und fast immer wurde sie mit “Nein” beantwortet. Doch das hat sichin zwischen geändert. Der erste Bericht eines Erkrankten, der mich schier umgehauen hat, stammt von Joachim Huber https://www.facebook.com/joachim.huber.96, einem früheren Kollegen beim “Tagesspiegel”. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/corona-ueberlebenskampf-eines-tagesspiegel-redakteurs-ein-zweites-mal-diese-tortur-das-wuerde-ich-nicht-schaffen/26222964.html oder als Video https://www.zdf.de/nachrichten/video/panorama-covid-ueberlebender-huber-lanz-100.html
So gut es ging, habe ich mich lange aus den allfälligen Diskussionen im Netz herausgehalten (höchstens ab und an ein paar Beiträge auf Facebook geteilt, die mir bemerkenswert erschienen). Gerhard Riedl hat sie akribisch verfolgt und in etlichen Beiträgen in seinem Blog mit gewohntem Biss kommentiert. http://milongafuehrer.blogspot.com
Nun hat Jörg Buntenbach vom Internetportal “Tango argentino online” ein Thema öffentlich gemacht, das seit einiger Zeit unter der Oberfläche schwelt: In der Tangoszene gibt es so etwas wie die “Speakeasys” der 1920er Jahre in den USA. https://www.tango-argentino-online.com/post/tango-im-untergrund In diesen keineswegs immer leisen Flüsterkneipen wurde während Prohibition Alkohol ausgeschenkt. Schwarz gebrannt und von der Mafia organisiert, die mit den Erlösen ihren Aufstieg finanzierte. Nun ist im Tango auch in der “Epoca Corona” heute nicht das große Geld zu verdienen. Aber – vorsichtig formuliert: Die Gefahr dort gesundheitlich zu Schaden zu kommen, ist nicht geringer als damals durch den Genuss illegal gebrannten Fusels.
Jörg Buntenbach berichtet in seinem Text:
“Im Schatten des Virus wird auch in Zeiten hoher Fallzahlen und vielerorts ausgeschöpften Kapazitäten an Intensivbetten zu geheimen Milongas eingeladen. Gleichgesinnte laden Gleichgesinnte ein – oder die, die dafür gehalten werden. Frei nach dem Motto: Lasst uns tanzen, bis der Arzt kommt! Nicht alle Tänzer*innen, die eine solche Einladung erhalten, fühlen sich geschmeichelt. Im Gegenteil: Sie zeigen Unverständnis, lehnen die Einladung dankend ab – und werden teilweise trotzdem mit den üblichen Methoden der Impfgegner und Coronaleugner konfrontiert, die mit psychologischer Manipulation versuchen, ihre unwilligen Zielpersonen auf Linie zu bringen.”
Auf der anderen Seite, so berichtet Jörg, gibt es eine Diskussion darüber, ob es richtig oder sogar angebracht sei, die OrganisatorInnen solcher “Geheimmilongas” anzuzeigen. Einerseits wolle niemand den “Blockwart” machen. Aber er fragt, wo die Grenze zu ziehen sei “zwischen Denunziation und einer sinnvollen und notwendigen sozialen Kontrolle, die eine funktionierende Gesellschaft braucht?” Die Vorsicht, mit der er das Thema anfasst, lässt mich darauf schließen, dass die Zahl derer, die von ihren Gegnern gelegentlich als “Covidionten” bezeichnet werden, zumindest in dem von ihm in Augenschein genommenen Teil der Tangoszene nicht kleiner ist als in der Gesamtgesellschaft. Auch ich bereits durch Oberflächliches Surfen, auf Beiträge gestoßen, in denen Menschen von Veranstaltungen mit C 19-Infektionen berichten, aber keine Namen nennen. Begründung: Sie wollten niemanden persönlich kritisieren.
In seiner Vorsicht vermeidet es Jörg Bundtenbach, seine Schlussfolgerungen in Aussagesätzen zu formulieren. Vielmehr lässt er den Text in zwei (rhetorische) Fragen münden:
“Macht es Sinn, sich in Pandemie-Zeiten zu privaten Feiern zu verabreden, wenn die Gefahr besteht, andere mit einem tödlichen Virus anzustecken und damit aktiv zur Verbreitung beizutragen, während gleichzeitig nebenan im nächsten Krankenhaus Corona-Patienten um ihr Leben kämpfend nach Luft ringen und Ärzte und das gesamte Krankenhauspersonal verzweifelt nach Wegen suchen, um eine drohende Triage zu vermeiden und nicht über Leben und Tod entscheiden zu müssen? Oder wäre es besser, so lange damit zu warten, bis die Gefahr nachweislich gebannt ist?”
Meine Antwort ist eindeutig: Ich würde beide Sätze mit einem Punkt beenden. Eher noch mit einem Ausrufungszeichen. Ja, ich möchte gern wieder Tango tanzen. Aber ich muss es nicht. Schon gar nicht sofort und um jeden Preis. Es lässt sich sicher mit mehr oder weniger guten Gründen über die Maßnahmen zur Einhegung und Bekämpfung der Pandemie debattieren. Aber ich bin kein Experte. Meine Frau und ich sind schlicht vorsichtig. Es gib (wenige) Menschen, mit denen ich im realen Leben den Kontakt meide. Außerdem hab’ noch nie so viele Nutzer auf Facebook “entfreundet” wie in diesem Zusammenhang. Aber ich füge hinzu: Das ist, wie im großen “Rest” der Gesellschaft eine verschwindend geringe Minderheit.
Ich mag mich hinter niemandem verstecken. Aber schlichter und besser als ein paar Sätze, die ich auf Facebook gefunden habe, kann ich es nicht ausdrücken:
“Wir haben uns den Sommer über auch getroffen, trotz Corona, und draußen getanzt. Was auch erlaubt war. Aber nun und so, wie sich die Situation heute darstellt, ist damit Schluss. Das Tangofieber ist stark in uns allen, aber irgendwann muss man dann auch wieder vernünftig sein. Wir wollen ja, dass hinterher alle noch da sind …”
5 Comments
Respekt Thomas klarer und unterstützenswerter Text. Ja, die Zeiten führen zu Klärungen: Auch ich habe mich von Menschen aus der Tangoscene entfreundet, die mir einen Mix von „Sorgen“, Russia Today, alle möglichen „Experten“, AFD und sonst noch was angeboten haben. Danke.
Lieber Thomas, auch ich habe mich zum ersten Mal von einigen Faceboook-Freunden „entfreundet “, weil ich die Kommentare einfach nicht mehr ausgehalten habe. Mir fehlt der Tango sehr und es macht mich sehr traurig, dass immer noch kein Ende abzusehen ist. Im Sommer habe ich es genossen, ein kleines Stückchen Tangonormalität zu spüren und habe die Regeln auch mal übertreten. Bei den gegenwärtigen Infektionszahlen könnte ich allerdings nicht mehr entspannt mit anderen tanzen. Ich bin enttäuscht und besorgt, dass auch durch die Tango- Community ein großer Riss geht.
Lieber Thomas,
klare Gedanken und ich finde es schön, dass du sie auch nieder geschrieben hast und veröffentlichst. Wir alle verstoßen in unserem selbstbestimmten Leben oft bewußt gegen Regeln. Und das ist auch okay, sofern wir in der Hauptsache nur uns selber gefährden. Bei dieser Krankheit sieht es anders aus. Es gab in der Berliner Tangoszene viele Kommentare in Sozialen Medien, die sich gegen Haltungen und Menschen richteten, für die Corona eine ernst zu nehmende Krankheit war und ist. Es gibt diese Kommentare heute kaum noch. Ob das daran liegt, dass ihre Verfasser und Verfasserinnen ihre Meinungen geändert haben? Öffentlich gemacht hat niemand (nach meiner Kenntnis) von ihnen einen derartigen Wandel. Sie haben lediglich aufgehört zu kommunizieren. Gerade deswegen ist wichtig was du schreibst, denn du traust dich mehr als sie und setzt dich “uns allen” aus. Und das auf eine sehr ehrliche Art. Chapeau!
Grüße aus einem Berliner Krankenhaus.
Lieber Thomas,
ein wunderbarer Beitrag, der mir aus der Seele spricht!
Ich habe selbst den Sommer über mit sehr wenigen festen Partnerinnen draußen getanzt und das natürlich nach dem ersten Lockdown auch sehr genossen. Aber dabei war eine Voraussetzung von vorneherein klar: Keine Partnerwechsel und Abstand zu allen anderen! Ich dachte, dass das eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Aber weit gefehlt – es wurde rundherum fleißig gewechselt, als wäre die Pandemie schon lange Geschichte.
Und als die Zahlen im Herbst dann wieder beunruhigend gestiegen sind, sind wir aus den spontanen Milongas auch sehr schnell wieder ausgestiegen. Manche Veranstaltungen mit grenzwertigen Teilnehmerzahlen habe ich recht schnell wieder verlassen. Es gab ja noch ein paar Kurse mit reduzierter Teilnehmerzahl, Abstand und sonstigen Spielregeln zur Social Distance, aber ab November dann sowieso nichts mehr. Ein paar mal haben wir das zu zweit zu Hause versucht, aber das begeistert dann auch nur noch alle paar Wochen mal. Das ist vielleicht Training, aber eben nicht Tanzen. Ich kenne Leute, die im Gesundheitswesen arbeiten, eine Tanzpartnerin gehört auch dazu. Die sehen das noch viel ernster als ich.
Wir können uns vielleicht wieder nächstes Jahr im Sommer draußen treffen, ohne Partnerwechsel, vielleicht auch noch mit Maske, vielleicht aber auch noch gar nicht. Das ist die Realität und mit der müssen wir uns arrangieren. Auch wenn´s schwerfällt.
Ich weiß natürlich nicht, in welchen Lebensumständen diejenigen leben, die das alles nicht ernst genommen haben, aber das müssen die wohl mit sich selbst ausmachen. Ob sie sich selbst gefährden, wen sie noch gefährden – das ist alles wie Überholen auf der Landstraße bei dichtem Nebel Freitag Abend nach der Disco. Wird schon nichts passieren! Aber dann nehmen die eben auch noch ein paar Leute mit auf ihrem Trip in die Unterwelt …
Letztlich sollte sich natürlich jeder selbst soweit wie irgendwie möglich aus dem Verkehr ziehen. Aber gegen Ignoranz gibt es leider keine Impfung und die, die sie am nötigsten hätten, würden sie vermutlich auch ablehnen. Dieser Riss geht durch die gesamte Gesellschaft und damit natürlich auch durch die Tango-Community. Das sind ja alle auch nur als Menschen.
Ich habe so viele Jahre nicht getanzt, weil die Rahmenbedingungen nicht gepasst haben. Jetzt werde ich wohl auch noch ein paar Monate ohne überleben!
Danke und viele Grüße, Robert
Ich danke für die sehr sachlichen Kommentare hier. Ein Hinweis: Auf Facebook gibt es zu dem Beitrag von Jörg Buntenbach, der mich zu meinem Text angeregt hat, eine ausführliche Diskussion.