Manchmal dauert es, ehe ein Text seine Wirkung entfaltet. Als ich kurz nach Beginn meiner Blogger-Tätigkeit Anfang des Jahres „Zu Piazzolla tanzen? Warum nicht!“ veröffentlich habe, blieb er Monate lang einer meiner am wenigsten geklickten Posts. Doch dann nutzte ich die Ankündigung eines Piazzolla-Seminars der Münchener Djane und Tango-Expertin Theresa Faus, um noch einmal Werbung für meinen publizistischen Ladenhüter hinzuweisen. Und siehe da: “With a little help from my friends“ explodierte das Interesse.
Zu danken habe ich daher Gerhard Riedl, den ich nicht vorzustellen brauche, sowie dem Münchener Blogger und Tango-DJ Jochen Lüders, der sich einen Namen als Freund von Musik auch diesseits der goldigen Zeiten einen Namen gemacht hat. Theresa Faus hat auf Facebook nur Lüders’ Text verlinkt, der eher davon abrät, Piazzolla zum Tanzen zu spielen. Dennoch nutzte die Dreier- Konstellation meinem Post, der die Debatte ausgelöst hatte. Er beziehe sich in seiner Argumentation „exemplarisch“ darauf, schreibt Lüders. (**) Nicht weniger exemplarisch setze ich mich hier mit ihm auseinander.
Trotzdem stammt mein Lieblingssatz zum Thema von einem Musikjournalisten. Astor Piazzollas Tango-Kompositionen seien „nicht tanzbar“, schrieb Eckhard Weber schon vor geraumer Zeit, mit dem Zusatz „zumindest nicht im herkömmlichen Sinne“. Seine Begründung: „Sie fordern vielmehr zum konzentrierten Hören auf“. (***) Ob das Hören im Sitzen, Stehen oder Liegen zu erfolgen hat, teilte er nicht mit. Fest steht für ihn offenbar bloß: In Bewegung geht’s gar nicht. Seltsam, dass sich – Piazzolla hin oder her – aus der Tango-Gemeinde niemand gegen die Unterstellung gewehrt hat, man höre beim Tanzen nicht konzentriert zu.
Schon vor Erscheinen dieser Replik hat Jochen Lüders moniert, dass ich mich auf Facebook gefreut habe, weil er sich so schön über meinen Text „aufregen“ könne. Er legt dagegen Wert auf eine „sachlich argumentative Auseinandersetzung“. Wenn’s seiner Art von Wahrheitsfindung dient… Für mich schließen sachliche Auseinandersetzung und Aufregung einander nicht aus. Deshalb meine ich es auch keineswegs herabwürdigend, wenn ich seinen Text als Polemik werte. Im Gegenteil: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Behauptung, bei einem Beitrag im Meinungsstreit handele es sich nur um „sachliche Auseinandersetzung“, oft nur ihren polemischen Gehalt verschleiern soll. Zu einer ordentlichen Polemik gehört es (übrigens auch außerhalb Bayerns), erst einmal einen Watschen-Mann aufzubauen, auf den sich schadlos drein dreschen lässt, damit jede(r) gleich weiß, wie unhaltbar die Meinung des jeweils anders Denkenden ist.
Mit einer Mischung aus List und Sachlichkeit fordert Lüders, zunächst zu klären, welcher Piazzolla gemeint sei, wenn ich mehr davon in den Milongas fordere – der sanft melodische oder der rhytmisch komlexe oder… sonst argumentiere man aneinander vorbei. Kein Einspruch! Vorsichtshalber nimmt er sich dann aber ein Stück vor, das auch auf meiner Tanzbarkeitsskala weit unten rangiert: „Four, for Tango“. Piazzolla hat es 1987 für das Kronos Quartett geschrieben – pure Avantgarde für den klassischen Konzertsaal. (****) Auf die Idee, mir gutwillig zu unterstellen, dass ich mit meinem Plädoyer für mehr Piazzolla in den Milongas derlei Stücke nicht meine, kommt er nicht. Denn dann müsste er womöglich seine Polemik zugunsten einer eher „sachlich argumentativen Auseinandersetzung“ mäßigen.
Mit dem Verdikt, bei Piazzollas Musik handeles es sich mindestens zum Teil um “Knarzen, Kratzen und Quietschen”, nimmt Jochen Lüders die gängige Unterstellung auf, Musik müsse aus herkömmlichem Wohlklang bestehen. Anderes macht ihm schlicht „keinen Spaß“ – so wenig wie „Freejazz oder Zwölftonmusik“. In diesem Ton pflegt auch das konservative Opernpublikum zu reagieren, wenn ihm der neue Intendant seines Heimathauses statt der gewohnten Mischung aus „Lustiger Witwe“ und „La Boheme“ zu viel „Lulu“ oder gar wirklich Zeitgenössisches zumutet. Damit kein Zweifel daran bleibt, was er von derlei Modernismus hält, äußert Lüders den „Verdacht, dass das Bekenntnis zu Piazzolla lediglich als Alleinstellungs- bzw. Distinktionsmerkmal dient, um sich vom musikalisch ungebildeten anspruchslosen Tango-Plebs“ abzuheben. „Solche Diffamierungen“ könnten jedoch nichts daran ändern, „dass auch in Zukunft die meisten Tänzer auf die Frage ‘Zu Piazzolla tanzen?’ antworten werden: ‘Nein danke – warum?’ “ Anders formuliert: Wer mehr will als Franz Lehar oder das Orchesta Tipica Victor (als pars pro toto genommen) ist ein elitärer Sack (und was immer die weibliche Form sein mag).
Jochen Lüders stößt sich insbesondere an meiner Behauptung, auf komplizierte Musik müsse man nicht unbedingt kompliziert tanzen. Ich wollte mit dieser, zugegeben, auch für andere Menschen provozierenden These vor dem verbreiteten Perfektionismus in großen Teilen der Tango-Szene warnen, dem zufolge man ein Stück erst genauestens studiert habe müsse, ehe man darauf tanzen könne. Sonst komme immer nur „rum Murksen“ dabei heraus. Spontaneität ist in einem solchen Konzept nicht vorgesehen – obwohl Tango doch angeblich ein total improvisierter Tanz sein soll.
Ich habe mich habe ich mich bei meiner These an einer Passage aus Michael Lavocahs Buch über Osvaldo Pugliese orientiert, deren Grundgedanken ich auch auch auf Astor Piazzolla für anwendbar halte. „Mehr denn je muss man die Atmosphäre und das Gefühl tanzen, das in der Musik enthalten ist, und nicht versuchen, alle Details zu interpretieren“. Und dann zitiert er Jose Libertella, den Mitgründer des Sexteto Mayor: „Die Leute haben gewöhnlich in Harmonie mit der Violine getanzt, mit den Sängern; was die Leute zu Pugliese getanzt haben, war nichts anderes als Gefühl.“ Haben sie deshalb Takt, Tempo oder Dynamikwechsel vernachlässigt, wie Lüders mir unterstellt, wenn ich behaupte, man müsse komplizierte Musik nicht kompliziert tanzen? In meinem kurzen Aufenthalt in Buenos Aires habe ich erlebt, dass Portenas und Portenos meines oder weiter fortgeschrittenen Alters für die Augen eines deutschen Tangoschul-Absolventen eher schlicht tanzen. Aber tanzen sie deshalb schlecht? Im Gegenteil. Denn sie bewegen sich stets nicht nur mit, sondern in der Musik.
Michael Lavocah zitiert einen erfahrenen Pugliese-Tänzer der 60er Jahre mit dem Satz: „Du musst Deine Ohren offen halten!“ Als Vorbild für die tänzerische Interpretation von Don Ovaldo führt er Carlos Gavito an: „Er tat nicht viel. Er hat nie versucht, alle Details der Musik zu interpretieren. Aber was er tat, war Pausen zuzulassen. Er erlaubte der Spannung und dem Drama der Musik, ihn zu überspülen wie eine Welle.“ Selbstverständlich wird aus uns mehr oder minder begabten Amateuren so schnell kein Carlos Gavito. Dennoch kann seine Grundeinstellung Vorbild sein für den tänzerischen Umgang mit dem Tango – nicht nur wenn er so kompliziert wird wie oft (wenngleich nicht immer) die Musik von Pugliese oder Astor Piazzolla. Also: Geduld haben; Pausen Genießen; die Spannung auskosten! Wo ginge das besser als mit Stücken wie „Vuelvo al sur“ oder „Deus Xango“?
(*) http://kroestango.de/aktuelles/zu-piazzolla-tanzen-warum-nicht/ Der Ursprungstext ist sogar noch älter. Bei dem Blog-Beitrag handelt sich um die erweiterte Fassung eines Artikel, den ich in der Tangodanza 4/2014 veröffentlicht habe.
(**) http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/12/milonga-in-der-nicht-tanzbar.html, http://www.jochenlueders.de/?p=13894, https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/12/hier-irrt-luders.html
(***) Eckhard Weber, Astor Piazzolla – Der Schöpfer des Tango Nuevo. unitedberlin.de/tango/tango/Weber.pdf. Gerhard Riedl hat die Formulierung in unzähligen Varianten im Internet gefunden.
(****) In “Five tango sensations”, Piazzollas gemeinsamem Album mit den vier Musikern, ist es nicht enthalten. Sie nahmen es in “Winter was hard” auf, eine Sammlung von Kompositionen zeitgenössischer Komponisten, an der AP selbst nicht mitgewirkt hat.
(*****) Michael Lavocah, Osvaldo Pugliese, Milonga Press 2016, S. 183 f.
9 Comments
Piazzolla tanzbar?
Was ist Tanz?
Wikipedia:
Tanz, in der Regel auf Musik ausgeführte Körperbewegungen,
Tanz (von altfranzösisch: danse, dessen weitere Herkunft umstritten ist) ist die Umsetzung von Inspiration (meist Musik und/oder Rhythmus) in Bewegung.
What makes me moving?
Seit den 70er Jahren, seit Beginn des letzten Tango-Revivals spukt die Frage, ob Piazzolla tanzbar sei oder nicht, durch die Tangoszene. Astor Piazzolla trug ja zumindest in Berlin Anfang 1980 zur Wiederbelebung des Tangos bei, denn zu dieser Zeit war seine Musik ja in vielen Kneipen sozusagen als Hintergrundbeschallung zu hören. Seine Konzerte in der HdK und diversen Musikkneipen und ein Sternartikel über die aufkeimende Tango-Szene machten den Tango wieder zu dem Gesprächsthema in der Kulturszene in Berlin.
Komponiert wurde seine Musik nach Piazzollas eigenen Aussagen zumindest nicht zum Tanzen, die Tänzer waren ihm wahrscheinlich egal, weil sie, nicht mehr in der Mehrheit, über Erfolg oder Nichterfolg durch Kauf und oder Kaufverweigerung entschieden. Das Hörerpublikum sollte angesprochen werden. Piazzolla wollte endlich die kompositorische Freiheit, die ihm bis dahin durch die musikalische Einzäunung der „Tanzbarkeit“ versagt blieb.
Der Begriff „Tanzbarkeit“ ist irreführend oder zumindest zu radikal, denn eigentlich ist jede Musik tanzbar. Zumindest choreografisch! Der Begriff Tanzbarkeit bezog sich auf die in den 40-50er Jahren gebräuchliche analog sichtbare ad-hoc-Interpretation zur Musik der EdO.
Die eigentliche Diskussion ist eigentlich nicht entstanden, ob Piazzollas Musik tanzbar ist, sondern deshalb weil es in der tango-tanzenden Gemeinde unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was Tanzen überhaupt bedeutet:
A*: ist es einfach nur Bewegung die durch Inspiration der Musik entsteht?
B:* ist es sich nach außen sichtbare Umsetzung des Gehörten in Bewegung?
(wer genau wissen möchte, was damit gemeint ist, sollte sich mal das Video (Gustavo Naveira & Giselle-Ann Don Juan, Link: https://youtu.be/s5FOjT959J0) anschauen. Hier sieht man eine Choreographie, die so ausgetüftelt ist, als wenn eine besondere Partitur speziell für die Tänzer geschrieben worden wäre.)
*im folgenden Text werden ich nur noch die Erläuterungen zu A oder B beziehen.
Bei A wäre der Tänzer völlig frei, ob mit Umarmung oder nicht, musikalisch oder nicht, man könnte die normalen stilistischen Mittel eines Tangos völlig weglassen. Die Inspiration zur Bewegung wäre ausschlaggebend. Es ist ähnlich der Bewegungsform im Discotanz, das uns völlige Freiheit (zum Kennenlernen eines Partners nur innerhalb des Nichtlächerlichen tauglich) läßt. Dadurch ist, glaube ich, die Ableitung des Wortes „freies Tanzen“ entstanden. Wenn wir dies nun in einer Umarmung tun, dann kommt etwa das heraus, das einigen der ersten Versuche einiger Tangostänzer Angang der 80er Jahre in Berlin ähnlich sehen würde. Ich habe die Bilder noch vor Augen.
Bei B wird es schon deutlich schwieriger. Denn um das Gehörte umzusetzen, brauche ich Musikkenntnisse über das jeweilige Stück das ich (auch) sichtbar machen möchte. Entweder setze ich dann das Stück choreografisch um, nach einem starren Schema, oder ich improvisiere die Bewegungen aus dem Musik-Gedächtnis, bzw. aus einer Ahnung des Voraushörbaren heraus. Die Musik könnte aber auch so gestaltet sein, dass sie dem Tänzer einerseits voraushörbare Hilfe gibt, sei es durch einen durchgehenden Taktschlag, eingängige Melodien, wiederholte Phrasen.
Wie beim klassischen Tango der EdO. Diese Musik war aber außerdem als Tanzmusik einzigartig, weil sie nicht nur die Melodie auf den Grundtakt legt, sondern dem Tänzer auch noch zusätzlich Wahlmöglichkeiten gibt, unterschiedliche Instrumente zu interpretieren oder gar durch weglassen (Pausen) nur Akzente zu tanzen.
Piazzollas Musik dagegen ist oft sprunghaft, jazzig, klassisch, der Grundtakt ist oft nicht hörbar, jähe „breaks“, kurzum: nur schwer voraushörbar. Da ein Führender in einem Tanzpaar die Musikakzente innerhalb eines Paares zur Kommunikation zumindest in einem gewissen Rahmen vorausplanen muss, mindestens 1 Taktschlag, ist das bei den meisten Stücken Piazzollas sehr schwierig, oder zumindest für B Tänzer sehr stressig.
Es gibt aber auch sehr eingängige Stücke von Piazzolla, die durchweg einen Taktschlag haben oder eine eingängige Melodien, die gut tanzbar sind.
Die Frage ist nun, ob die Umsetzung jeder der Musik von Piazzolla mit den Stilmitteln des Tangos der 40er Jahre improvisatorisch auf niedrigem Tanzniveau im Gewühl einer vollen Tanzpiste möglich oder sogar genussvoll sein kann?
Und genau hier liegen die Wahrnehmungen der einzelnen Parteien sehr weit auseinander:
Gruppe A hat damit keine Probleme, solange sich die Bewegungen in der Umarmung harmonisch anfühlen.
Gruppe B hat große Schwierigkeiten damit, aus Gründen der technischen Praktikabilität oder Sensibilität, weil sie ein ungutes Gefühl damit verbinden, wenn das nicht gelingt. (Übrigens Zuschauer auch, zumindest die, die eine optische Umsetzung erwarten; aber nicht jeder Tanz ist auch unbedingt für Zuschauer gedacht.)
Oft wird ja auch das Argument herangezogen, dass auch Showpaare zu Piazzolla tanzen. Hierzu muss man allerdings sagen, dass dies ja eine Performance ist, in der entweder das Stück choreografiert wird oder so gut improvisiert wird, dass es für den Zuschauer als musikalisch getanzt empfunden wird. Sieht man sich z.B. Chicho Mariano Frumboli & Juana Sepulveda mit dem Stück „Ave Maria“ von Piazzolla an (https://youtu.be/fCH2n3v66Fo), sind die Bewegungen so an die Melodie angepasst, das es musikalisch getanzt erscheint, den es fehlt in diesem Stück jeder betonte Taktschlag. Dieses Video verführte jedoch viele A-Tanzpaare dazu, einfach nur im Zeitlupentempo zu tanzen. (Zumindest ein Versuch der Musik gerecht zu werden.) Aber Vorsicht, in diesem Vortrag von Chicho & Juana stecken mehr musikalische Umsetzung und Raffinesse als einfach nur Zeitlupe.
Fazit: Seien wir alle, auch wir Tango-Klassik-Taliban, einfach mal pragmatisch und gelassener mit diesem Thema – und ich meine damit auch mich selbst, denn ich bin einer der vehementesten Gegner der „Piazzolla-Tanzerei auf Tangopisten“ gewesen. Haben wir einfach Respekt vor jedem Tanzpaar, in dem wir seine Art die Musik zu interpretieren (oder nicht), respektieren und uns nicht als Wertungsrichter aufschwingen. Wenn ein Paar auf die Tanzfläche geht und sich zur (oder während der) Musik bewegt, egal wie, ist das Tanz! Nicht in jedermanns Auge, aber zumindest im Gefühl dieses Paares.
„Wir führen in unserem Alltag fast ausschließlich zweckmäßige Bewegungen aus. Die einzige scheinbar unzweckmäßige Bewegung, die nur unserem Gefühlsleben Ausdruck verleiht, ist der Tanz, egal zu welcher Musik. Deshalb tanzen wir so gern.“
Und noch etwas: Wenn es uns Europäern doch schon allein genetisch unmöglich sein soll, den wahren Tango Argentino zu tanzen, dann kann es uns und den Argentiniern doch egal sein, wie wir es tun.
Klaus Wendel
> Wenn ein Paar auf die Tanzfläche geht und sich zur (oder während der) Musik bewegt, egal wie, ist das Tanz!
Wenn jemand irgendwie gegen einen Fußball treten kann, spielt er bereits “Fußball”? Nö, ist doch Quatsch, oder?
> Haben wir einfach Respekt vor jedem Tanzpaar, in dem wir seine Art die Musik zu interpretieren (oder nicht), respektieren und uns nicht als Wertungsrichter aufschwingen.
Warum sollte ich Respekt vor dem sterbenslangweiligen Encuentro-Gelatsche haben? Oder vor jemand, der nicht mal die 1 bei einem Vals trifft, aber glaubt Piazzolla “interpretieren” zu müssen bzw. zu können?
Wenn Du nach dieser ausführlichen Beschreibung über ein Missverständnis solche Kommentare abgibst, warst du offenbar damit überfordert. In keinem Wort war in meinem Beitrag über die Qualität eines Tanzes, noch war darin Rede davon, ob es auch als Tanz gleichzeitig Tango ist. Und wenn man einen Fußball tritt, macht dieser Tritt einen Ball zu einem Fußball, aber nicht gleichzeitig zu einem Fußballspiel. Du solltest mal genauer lesen, kausale Zusammenhänge erkennen und dann versuchen es besser verstehen zu wollen. Aber in meinem Text steht noch die Bitte, sich nicht als Wertungsrichter aufzuschwingen über das, was manche Leute als Tanz bezeichnen. Der Respekt, um den ich bitte, ist gegenüber den Menschen und das, was sie tun und nicht wie sie es tun. Ich selbst kann manchen Tanzstilen oder dem Dilettantismus mancher Encuentro-Elitären auch nichts abgewinnen, aber diese Leute treten ja auch nicht auf damit, sondern machen es einfach aus Spaß an dem was sie tun. Wenn Du wirklich Mut hast, kannst Du ja mal zu einem Encuentro gehen, kurz um Ruhe bitten und dann laut verkünden, dass Du alle Tänzer schlecht findest. Bitte tob Dich ruhig aus, aber in Foren laut rumtönen ist nicht gerade mutig. Das unterscheidet sich nicht von anonymen Beleidigungskommentaren in sozialen Netzen.
Eine ausgefeilte Argumentation – Kompliment!
Übrigens dürfte es den Argentiniern egal sein, ob wir zu zu Piazzolla tanzen oder nicht. Im positiven Fall jedoch erwarte ich eine Flut von Piazzolla-Workshops…
Wow, Hut ab und Kompliment lieber Klaus Wendel, du hast da fast alles sprachlich treffend ausgetanzt, was amorph in mir anklang beim Lesen dieses sich selbst aufpeitschenden Disputs. Mit diesem unparteiisch klärenden Segen können sich die Wellen legen. Hoffentlich. Damit jede/r nach seiner Façon seelig werden kann. Danke.
Danke Thomas auch dir nochmal für deine vertiefenden Klarstellungen und Beispiele aus diesem Text, besonders für das Lavocah Zitat mit der Welle, von der man sich als Tanzender in großer Ruhe durch die Musik über- und umspielen lassen kann, um dann Akzente zu setzen, wo und wie sie in dir entstehen. Es tut mir gut, diesen Raum immer öfter wahrzunehmen und zuzulassen … 😌
Vielleicht legt der DJ Piazzolla auf, vielleicht nicht. Vielleicht habe ich Lust darauf zu tanzen, vielleicht nicht. Vielleicht finde ich eine Tanzpartnerin dafür, vielleicht nicht. Vielleicht erlebe ich das Tanzen als schön, vielleicht nicht. Vom DJ über die Lust bis zur Tanzpartnerin war das meine Entscheidung und ich kann hoffentlich mit Erlebten auch leben.
> Vom DJ über die Lust bis zur Tanzpartnerin war das meine Entscheidung
Echt jetzt? DU entscheidest über den DJ und ob eine Frau Lust hat mit dir zu tanzen???
Eine schöne Argumentation von Klaus Wendel, die ich einfach noch ein bisschen aus der Sicht eines Tänzers und Musikers ergänzen möchte.
Tango ist ein improvisierter Tanz, und um zu einer Musik improvisieren zu können, muss ich Änderungen in der Musik (Rhythmus, Dynamik, Agogik etc.) vorab erkennen können. Sonst bin ich nicht „in“ der Musik, sondern laufe der Musik hinterher. Das gilt übrigens nicht nur für den Tanz, sondern ebenfalls für die musikalische Improvisation. (Wie sagte Gavito: der Tanz ist wie eine weiteres Instrument im Orchester – nur mit den Zehen gespielt). Dafür gibt es jetzt drei Möglichkeiten:
1. Das Stück ist durchgehend gleichmäßig aufgebaut, keine Rhythmus- oder Dynamikwechsel.
So etwas ist einfach zu tanzen. Da es eine der herausragenden Eigenschaften des Tangos ist, mit wechselnden Rhythmen und Tempi tanzen zu können, wahlweise auf Rhythmus oder Melodie, ist das meiner Meinung nach aber eher langweilig. Manche Elektrotangos würde ich in diese Kategorie einordnen wollen.
2. Das Stück hat eine bekannte (oder hörbare) Struktur, Wechsel finden vorhersehbar am Ende einer Phrase oder eines Teils statt.
Zu dieser Kategorie gehören die meisten Tangos aller Epochen. Die Arrangeure oder Musiker geben sich alle Mühe das Stück abwechslungsreich zu gestalten, mit deutlichen Rhythmuswechseln, Wechsel von Rhythmus zu Melodieführung, Dynamikwechseln, Lead-Instrumentenwechseln etc. Alles vorhersehbar zum Ende einer Phrase. Ich muss nur in einer kurzen Pause am Ende einer Phrase abwarten und zuhören wie es weitergeht – und ich bin perfekt in der Musik, auch wenn ich das Stück nicht genau kenne. Ich muss allerdings Phrasen und Teile hören können. Und das muss man lernen (@Tangolehrer!).
Ich habe schon gesagt, dass es da keinen Unterschied zwischen Tanz und Musikimprovisation gibt. Das gilt hier ganz besonders. Ich lese in Kommentaren manchmal, dass die Stücke zu „jazzig“ seien. Wer Jazz macht und im Jazz improvisiert, weiß, dass es dort (meist) genau diese Strukturen gibt und sie den Rahmen für die individuelle Improvisation vorgegeben. Eine Übung in einem Jazz Workshop war es, das Stück bei Stille im Kopf weiter zu verfolgen und, auf Fingerzeig des Lehrers, exakt in der Struktur wieder einzusetzen. Im Tango könnte man Übungen machen, in denen die Schüler nur zuhören und Phrasenenden mit Handheben anzeigen. Kann man auch mit Bewegung/Ruhe oder rechte Hand=Rhythmusführung/linke Hand=Melodieführung machen usw.
3. Das Stück hat keine feste Struktur und unvorhersehbare Wechsel
In diesem Fall muss ich das Stück auswendig kennen, um Veränderungen „in“ der Musik mitmachen zu können. Natürlich sind solche Stücke tanzbar, aber hier verwischt sich ganz schnell die Grenze zur Choreographie (oder auch die zwischen Tango und Ballett). In der Musik sind das Stücke, die man ausarrangiert „vom Blatt“ spielt. Improvisation kommt hier nicht vor. Natürlich kann das fabelhafte Musik sein. Solche Stücke haben aber meiner Meinung nach eher keinen Platz in einer normalen Milonga. Allerhöchstens vielleicht mal in einer „Experimentaltanda“, wenn die Tanzfläche schon wieder leer ist. Ihre Erarbeitung oder die Ausarbeitung einer Choreographie kann aber sicher Spaß machen.
Ach ja – Piazzolla: das überlasse ich jetzt jedem einzelnen, welches Stück von Piazzolla er welcher Kategorie zuordnet.