“Bei Durchsicht meiner Bücher” hat Erich Kästner sein erstes Buch genannt, das nach dem Ende des III. Reichs wieder erscheinen konnte – eine Sammlung von Gedichten aus den vier Bänden in der in der Weimarer Republik. Ich bin kein Kästner. Die Zeitläufte sind ganz andere. Aber ich find’ den Titel so schön. Deshalb rund um den (demnächst) 100. Text dieses Blogs eine kleine Auswahl aus “mYlonga” unter dem Motto: Bei Durchsicht meiner Werke… Ich hab’ sie im Original gelassen, einschließlich aller erkannten (und nicht erkannten) Irrtümer (ohne erkannte Rechtschreibfehler). Manchmal gibt’s ein paar Erläuterungen davor und Ergänzungen in den Artikeln, die ich durch Fettung kenntlich gemacht habe. Dies hier ist der mit Abstand erfolgreichste Text in meinem Blog: Mehr als 3800 Klicks bisher. Die Tänzerin, von der ich berichte, treffe ich immer weder auf Milongas. Ich tanze gern mit ihr. Aber dies Erlebnis erwies sich als unwiederholbar. Darüber gesprochen haben wir immer noch nicht.
Ich war irritiert. Ein so ein starkes, schnelles Herzklopfen bin ich nicht gewöhnt. Nach einer Runde Quickstep auf Benny Goodmans „Sing Sing Sing“ vielleicht… aber mitten in einem Tango der langsameren Sorte: Seltsam. Außerdem kontrahierte der Hohlmuskel, den ich da wahrnahm, auf der falschen Seite. Er pulsierte rechts von außen gegen meinen Brustkorb. Das Herz meiner Tanzpartnerin. Wie sich mein Herzschlag wohl für sie angefühlt haben mag?
Wir waren so mit einander im Einklang, dass uns für eine kleine Ewigkeit nichts trennen konnte. SIE blieb in meiner, nein, in unserer Umarmung – nach dem Ende des ersten Stücks, das wir gemeinsam tanzten und nach den weiteren. Wie lange? Keine Ahnung. Und die Musik? Ebenso wenig…. Cortinas gab es nicht an diesem Abend. Aber wahrscheinlich hätte auch ein Fetzen Benny Goodman uns nicht auseinander swingen können.
Irgendwann haben wir uns dann doch von einander gelöst und die Sache auf sich beruhen lassen. Vernunftbegabte Wesen. Konventionsgesteuert. Kein Wort über unser Erlebnis. Auch nicht beim Abschied. Über so etwa spricht man nicht, hat unserein(e) in jungen Jahren gelernt. Erst ein paar Tage später hab ich mich an ein Wort erinnert, das ziemlich gut beschreibt, was wir da miteinander geteilt haben: Einen Tangasmus (*)
Den Begriff hat die amerikanische Autorin und Bloggerin Sasha Cagen geprägt. Die begeisterte Tangotänzerin organisiert Reisen für Frauen nach Buenos Aires und verspricht ihnen ein authentisches Tanzerlebnis bis zum Höhepunkt – „Tangasm“ eben. Über die Seriosität des Unternehmens mag ich nicht rechten. Aber als Journalist hab’ ich etwas übrig für schlagzeilenträchtige Begriffe. Und dieser bringt plakativ auf den Punkt, was viele von uns vielleicht nicht sehr oft, aber doch immer wieder einmal erleben: Ein außergewöhnlich intensives Gefühl der Befriedigung, das ein Stück weit hinausgeht über die Freude an einem gelungenen Tanz. Wir spüren ein atemloses Glück, wie es sonst nur in weit intimerem Zusammenhang zu erleben ist.
Aber was ist es genau, das der Tango da mit uns macht? Ich bin nicht sicher, ob ich es exakt in Worte fassen kann. Zunächst finde ich die englische Unterscheidung zwischen „sensual“ und „sexual“ sehr hilfreich in diesem Zusammenhang – wenngleich nicht erschöpfend. Einerseits spricht sie die emotionale Seite des tänzerischen Geschehens an. Andererseits unterstreicht sie die Differenz zwischen einem einfühlsamen Tanz und der direkten geschlechtlichen Aktivität oder ihrer Anbahnung.
Dennoch finde ich die prononcierten Keuschheitsbekundungen bezüglich des Tango ein wenig verkrampft, die versuchen den „social Dance“ möglichst weit weg zu rücken von der Netzstrumpf/Dekollete´-Erotik des Bühnentanzes. Mich erinnert das an die verdrucksten Bemühungen einiger Lordsiegelbewahrer in Buenos Aires, die etwas unseriöse Entstehungsgeschichte unseres Tanzes zu säubern. Da wird mit großem Aufwand an Rhetorik und Recherche betont, der Tango sei nicht im Bordell entstanden, wie es immer wieder heiße. (***) Dabei bleibt unzweifelhaft, dass er aus eben jenen finsteren Vierteln stammt, wo der Puff gleich n e b e n der Tanzdiele zu finden war.
Dem konservative Blogger „Tangomentor“ gilt der sexuelle Aspekt gut katholisch als die „dunkle Seite des Tango“. Mit der (Ab-)Wertung „schmutzig“ ist er schnell bei der Hand. Da halte ich es lieber mit der fröhlichen Aufforderung von Melina Sedo: „Let’s talk about sex“. (***) Mir scheint ihr ein paar Jahre alter Befund nach wie vor aktuell: Sex ist eins der „offensichtlichsten und am meisten gemiedenen Themen“ in der Tangoszene. Wir werden spätestens daran erinnert, wenn wir Menschen, die zum ersten Mal eine Milonga besuchen, erklären müssen, dass die eng aneinander geschmiegten Paare auf den Pista gaaar nichts anderes im Sinn haben als… Tanzen.
Mit den Worten des Uralt-Bloggers Cassiel hat sich das social Dancing in den letzten Jahren vom „bewegungsfocussierten“ zum „umarmungsfokussierten“ Tango entwickelt. Doch gerade diese neoklassische Wende zur engen Umarmung auf der Pista bringt den Tango für die TänzerInnen nahe an George Bernard Shaws viel gescholtene Sentenz von der vertikalen Befriedigung eines horizontalen Bedürfnisses – weit näher jedenfalls als die leichtgeschürzte Klischeeakrobatik des Bühnentango oder die raumgreifenden Figuren des Tango Nuevo. (****) Auf den Punkt gefragt: In welchem anderen Tanz kommen die Paare einander so nahe, dass sie unmittelbar fühlen könnten, wie heftig das Herz der Partnerin/des Partners pocht?
Der „Klammerblues“ unserer Jugendjahre blieb der Freundin/dem Freund vorbehalten. Beim Tango gehen wir auch mit Wildfremden in den Clinch. Die Annäherungsqualität der Tanz-Partner erinnert an jene „Kuschelparties“, wie sie etlichen Großstädten hierzulande gang und gäbe sind. Da treffen sich Menschen verschiedenen Geschlechts zum Austausch von Zärtlichkeiten unter Aussparung der sekundären und primären Geschlechtsmerkmale. Kein Sex. Keine Verbindlichkeit – aber mit jenem Hang zu esoterischer Überhöhung, den wir auch aus Teilen der Tango-Community kennen. Die Fülle der Warnhinweise auf der Homepage einer geschlossenen Facebook-Gruppe in Berlin deutet mir die Schwierigkeiten an, das Unterfangen von Grenzüberschreitungen frei zu halten. (*****)
Im Tango haben wir es einfacher – weil der Kuschelkonsum nur als Kollateraleffekt des Tanzens daherkommt. Offiziell jedenfalls. Obendrein helfen ein paar Regeln und Gebräuche bei der Einhegung überschießender Bedürfnisse: Allen voran die Organisation der Musik in Abschnitte (Tandas) von drei bis vier Stücken, die schicklicherweise mit der/demselben Partnerln getanzt werden. Dies Gebot sorgt für die emotionale Abkühlung allzu heiß getanzter Paare. Andererseits potenziert das tänzerische Promiskuitätsprinzip die (Sehn-)Sucht der Beteiligten, in den Armen der/des nächsten einen womöglich noch intensiveren Tripp zu erleben.
Intellektuell klingt die plakative Unterscheidung zwischen „sensual“ und „sexual“ ziemlich verführerisch. In der Praxis sind die beiden Sphären allerdings längst nicht so leicht zu trennen wie in der Welt der Begriffe. Im Gegenteil. Wir bewegen uns zwischen ihnen in einer steten, manchmal etwas wackeligen Gratwanderung. Und mal ehrlich: Ist es nicht gerade dieser Balanceakt, der Kuschelparties wie Milongas so im Wortsinn: reizvoll macht? Mich erinnert das einschlägige Gefühl an den Blick vom Balkon eines sehr hohen Stockwerks. Ich hab nicht die Absicht zu springen. Aber Kopf und Oberkörper so weit wie möglich hinaus zu lehnen, erzeugt tief in der Magengegend einen eigenartigen Sog, der sich tendenziell auf den gesamten Körper ausbreitet. Genau diesen Schwindel erregenden Extrakick aber kann ein Tanz mit dem eignen Partner, der eigenen Partnerin nur in den seltensten Fällen bieten. Womit ich wieder bei der Wahrnehmung und lnterpretation weiblicher (oder männlicher) Herztöne wäre…
PS: Die Frau, mit der ich es liebe zu leben (und zu tanzen), ist die erste Leserin meiner Texte
(*) https://www.huffingtonpost.com/sasha-cagen/tangasm-vs-orgasm-or-is-t_b_6413098.html?guccounter=1
Gerhard Riedl bescheinigt mir, dass ich den Text kurz nach Erscheinen gefunden habe. Ich kann mich nicht daran erinnern, auch nicht an mein damaliges Urteil. Er hat sich über den Tex lustig darüber gemacht. http://milongafuehrer.blogspot.de
(**) http://www.todotango.com/english/history/chronicle/103/Reflections-about-the-origins-of-tango/
(***) http://tangomentor.com/dark-side-of-tango/; https://melinas-two-cent.blogspot.de/2011/04/lets-talk-about-sex.html; Melina Sedo, Geschlechterrollen im argentinischen Tango, Diplomarbeit an der Universität des Saarlandes 2003.
(****) http://tangoplauderei.blogspot.de/2011/06/zum-gefuhlten-widerspruch-zwischen.html; „Tango is a vertical expression of a horizontal desire.“ http://tangoplauderei.blogspot.de/p/zitate.html. Eine Primärquelle für diesen Satz hab ich nirgends im Internet gefunden.
(*****) Siehe die Facebook-Gruppe „Kuscheln, Fühlen, Spüren, Berühren… für Körper, Geist und Seele“4
15 Comments
Lieber Thomas,
den Text von Sasha Cagen hast du damals tatsächlich gefunden! Meiner Erinnerung nach war es ein neutraler Hinweis. Mein Artikel ist nicht als fundamentale Kritik an diesem Artikel zu verstehen – das etwas anzügliche Thema klang nur in der Original-Google-Übersetzung so putzig…
http://milongafuehrer.blogspot.de/2016/02/cat-content.html
Inhaltlich gebe ich dir völlig Recht: Die erotische Anziehung wird vielfach kleingeredet. Man verliebt sich ziemlich oft im Tango – meist aber nur für eine Tanzrunde…
Einen sehr intensiven Text hast Du geschrieben. Ich fand ihn sehr spannend zu lesen. Es freut mich für Dich, wenn Du offensichtlich im Tangohimmel warst – sehr schön.
Ich möchte dennoch zwei weiterführende Denkanstöße beisteuern.
Da ist zunächst diese Geschichte mit der Vergangenheit des Tangos („wurde in den Bordellen in Buenos Aires getanzt bzw. ist dort entstanden“). Soweit ich weiß, wurde der Tango in den Bordellen getanzt, ob er dort entstanden ist? Das würde ich bezweifeln – der Tanz ist wohl älter.
Ist diese Vergangenheit nun ein handfester Grund, die sexuelle Komponente des Tanzes zu betonen? Ich bin da sehr vorsichtig. Als wohlhabende Westeuropäer des 21. Jahrhunderts vergessen wir allzu leicht die Umstände, die damals herschten. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts war Buenos Aires die Metropole mit den meisten Immigranten (das Verhältnis der Geschlechter war wohl 1 zu 11 – also auf eine Frau in der Bevölkerung kamen 11 Männer). Viele (männliche) Einwanderer sind allein gekommen und haben ihre Familien zunächst in Europa gelassen. Damit erklärt sich die Institution des Bordells in einer Immigrationsgesellschaft. Dass nun in den Bordellen Tango getanzt wurde, kann man vordergründig als Beleg für die sexuelle Konnonation dieses Tanzes werten. Etwas weiter gedacht muss man sich aber die Frage stellen, warum wurde das Tangotanzen (was nun deutlich außerhalb des Kerns des Geschäftsrinzips eines Bordells liegt) dort so populär. Meine Vermutung: Die männlichen Kunden haben neben dem Geschlechtsverkehr im Bordell etwas anderes gesucht – nämlich emotionale Geborgenheit, eine Möglichkeit, ihre Einsamkeit zu ventilieren usw. Insofern wäre ich sehr vorsichtig, diese sexuelle Komponente heutezutage übermäßig zu betonen. Die Verhältnisse heute und im damaligen Buenos Aires sind zu unterschiedlich.
Ein zweiter Gedanke betrifft das Wechselspiel von Distanz und Nähe. Ich denke, die Gesamtheit der Verhaltensweisen im Tango zielt darauf ab, möglichst allen in der Milonga eine Umgebung zu bieten, in der der von Dir beschriebene Tangohimmel erreicht werden kann. Klar gibt es Nähe. Du hast ja über den Herzschlag Deiner Tanzpartnerin geschrieben. Aber es gibt auch Distanz. So ist beispielsweise die Strukturierung in Tandas nicht zuletzt ein Werkzeug, möglichst allen die Möglichkeit von super-schönen Erfahrungen zu bieten. Solche Überlegungen lassen sich dann auch für andere Konventionen anstellen. Die Ronda soll einen möglichst störungsfreien Rahmen für die einzelnen Paare bieten. Der Cabeceo soll sicherstellen, dass das matching der Paare möglich optimal und gerecht verläuft und … und … und …
Nach meinen Erfahrungen ist das Erreichen des Tangohimmels ein wichtiger Schritt auf der Leiter zum Tango. Der nächste Schritt ist dann wohl das Erleben des Tangos als Tanzpaar in der Gemeinschaft einer Milonga. Zugegeben: Das erlebe ich auch sehr selten, aber das gibt es. Wenn eine komplette Tanzfläche miteinander verbunden ist und tanzt. Da könnte man dann zwischen den Tönen des Tangos eine Stecknadel auf den Boden fallen hören können – so fokussiert sind alle Beteiligten. Aber das ist ja gerade das Schöne im Tango. Es gibt immer neue Erfahrungen …
Ich freue mich auf weitere kraftvolle Texte hier.
Einstweilen viele Grüße nach Berlin
c.
> Da könnte man dann zwischen den Tönen des Tangos eine Stecknadel auf den Boden fallen hören können – so fokussiert sind alle Beteiligten.
Dazu passend: http://www.jochenlueders.de/?p=13650
Viele Dank Cassiel. Ausführliche Antwort folgt – aus Berlin. Wohin auch immer…
Sehr interessantes Thema. Mit viel Einfühlung geschrieben. Für die Menschen außerhalb der Tango-Szene scheint festzustehen, dass Tango hocherotisch und von Übel für jede Paarbeziehung ist. Siehe dazu auch den kleinen Beitrag auf meinem Blog abrazos.de. http://abrazos.de/wie-erotisch-ist-tango-20180529/.
Lieber Thomas,
mit Vergnügen bin ich ein gernlesender Genießer deiner mylonga Geschichten und Gedanken und kann ihnen nachfühlen und nachdenken.
Hier nun in diesem Beitrag sprichst du die Seite des Tango Argentino an, die, wie du sagst, von sensueller bis sexueller Facette reichen soll. Ich weiß, dass gerade beim Tango Argentino dieser nie erlahmende sexuelle Aspekt hervorgeholt und gepflegt wird, um das Klischee als erotischster Tanz der Welt weiterleben zu lassen, so dass sich vor allem Tangolaien hierin immer wieder in ihrer Vorstellung bestätigt fühlen Tango Argentino ist beinahe sowas ähnliches wie ein SwingerClub.
Mir persönlich ist allerdings diese Komponente noch nie widerfahren. Ich nehme wohl jedeTangopartnerin als Frau mit ihren eigenen weiblichen Reizen wahr, aber dennoch kam mir weder vor, noch bei und schon gar nicht nach dem Tanz in den Sinn, an etwas zu denken, was über die reine Tanzfreude hinausgeht. Mag sein, dass ich mich zu sehr während des Tanzens auf die Musik, die Partnerin, den Raum, die Schritte, die Figuren konzentriere, dass ich darüber hinaus nicht zum Tangasm oder ähnlichen versteifenden Gefühlen gelangt bin.
Das empfinde ich gerade (für mich) als die besondere Seite des Tango Argentino, dass es eben gerade kein Schwoof ist, keine Anmache ist, um auf Fang zu gehen, sondern dass ich die mir gebotene körperliche Nähe wie auch meine Nähe als Teil des Rituals zulasse , weil ich weiß, die momentane (erotische) Nähe ist nicht der Beginn von etwas, was beide Tanzpartner nicht suchen und nach dem Tanz vorbei ist.
Auch wenn wir alle sicher Frauen bzw. Männer kennen, mit denen wir am liebsten tanzen, ist doch der Grund eher in den tänzerischen Qualitäten als in den körperlichen zu sehen. Und darum tanze ich neben Lieblingstänzerinnen auch leidenschaftlich gern mit der fremden Frau, da der besondere Reiz des Tango Argentino in meinen Augen von seiner Idee als reiner Improvisationstanz lebt und sich durch Überraschung im Tanz mit der Fremden bereichert und durch immer neues Gestalten und Ausprobieren ergänzt.
Ich bin neugierig auf die weiterhin journalistisch sprudelnden Tangogedanken.
JK
Die extremste Kommentatorin dieses Beitrags auf Facebook konnte ich leider nicht dazu bewegen, ihre Gedanken auch hier zu posten. Sie tanzt schlicht und ausschließlich mit ihrem Ehemann. Wenn sie und er glücklich damit sind… Ich kann dazu nur Juckue zitieren, der meinte, dass ihr da etwas entgehe.
“Du darfst mich lieben für drei tolle Tage” heißt es in einem legendäre Karnevalshit (https://youtu.be/L5npOPvsqEY). Beim Tango sind es meistens vier Stücke. Aber mit Liebe oder auch nur Verliebtheit, wie du formulierst, lieber Gerhard Riedl, hat das bei mir auch in den intensivsten Fremdtanzereien eher wenig zu tun. Ich muss offenbar meine Gefühle noch genauer beschreiben. Demnächst in diesem Theater.
Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar, Cassiel. Aber ich fürchte, im ersten Teil hast Du mich gründlich missverstanden. Für mich ist die Vergangenheit des Tango keineswegs heute ein “Grund, die sexuelle Komponente des Tanzes zu betonen”. Mein Argument war, dass mich die aktuellen Art, diese Seite herunter zu spielen, an die Versuche erinnern, die halbseidene Frühzeit des Tango zu seriosifizieren. Beides halte ich für falsch.
Die weiteren Codigos hab ich bewusst nicht eingeführt, um eng bei meinem Thema zu bleiben: Der Cool-Down-Funktion des Tanda/Cortina-Prinzips. Du sagst selbst, dass die magische Gemeinschaft einer gesamten Milonga nur selten vorkommt. Ich hab sie noch nie erlebt. Mir reicht es auch auf Edo-Veranstaltungen schon, wenn mich niemand molestiert. Was die Stecknadel angeht: Die höre ich gelegentlich auf der Silent Milonga mit gemischter Musik, die ich gelegentlich in Berlin besuche. Bei meiner Stippvisite in Buenos Aires hab ich dergleichen übrigen nie erlebt. Da war immer Partystimmung.
Dein Kommentar, lieber Juekue, zeigt mir die Diffizilität des Terrains, auf das ich mich begeben habe. Deine tänzerischen Fähigkeiten übersteigen die meinen erheblich. Aber für mich fängt die Intensität des Tanzes erst jenseits der Sphäre an, in der ich an Schritte etc. denke. Da wird der Tanz für mich (ich gebrauch’ das Wort jetzt mal) zur Mediation. Allerdings zu einer ganz besonderen. Wenn ich von Sex/Erotik im Tango spreche, hat das für mich nichts mit Anmache zu tun, sondern mit einem Gefühl weit jenseits von Technik (aber auch Sex), das für mich auch über das hinausgeht, was ich etwa beim Slowfox erlebt habe – meinem Lieblingstanz im Ballroom-Bereich. Der kommt für meine Begriffe übrigens dem Tango am nähesten.
Zum Schluss komme ich wieder auf die monogame Tänzerin vom Anfang zurück und beziehe die Erfahrung ein, die Du, Edgar Franzmann in Deinem Blog “abrazos.de” schilderst. Menschen außerhalb unserer Szene (plus die eifersüchtigen innerhalb) können meist nicht verstehen, dass Paare außerhalb ihrer Beziehung tanzen. Sie unterstellen, dass da “mehr” dahintersteckt. Da kann ich, jedenfalls was die meinige und mich angeht, nur Ernst Jandl zitieren: “Werch ein Illtum”. Ich mag niemandem zu nahe treten, aber die Unterstellung , konkret ausformuliert: “Wer allein eng tanzt mit fremden Menschen, der will auch mit denen ins Bett” ist doch eher unterkomplex. Sie sagt aus meiner Sicht eher etwa über diejenigen aus, denen derlei Phantasien durch den Kopf gehen. Übrigens: Erotik, wenn sie den Namen verdienen soll, lässt sich meiner Meinung nach nicht auf Geschlechtsverkehr oder das Streben danach verkleinern. Wir sollten auf keinen Fall das spielerische Element vergessen.
Lieber Thomas,
nachdem du inzwischen schon Werbung mit deinen Kommentatoren machst, will ich doch noch etwas Inhaltliches nachliefern:
Was gerade die Männer im Tango zum Thema Gefühlsleben sagen zu müssen meinen, überzeugt mich selten – und auch Sasha Cagen habe ich lieber per Google-Übersetzung verblödelt als sie ernsthaft zu kommentieren.
Klar interpretieren Außenstehende viel mehr in das beim Tango übliche „Fremdtanzen“ hinein als es tatsächlich ausmacht. Und vor allem Frauen meinen, Männer benötigten zum Fremdgehen verfängliche Situationen wie den Tango. Ein fataler Irrtum!
Besonders lustig wird es, wenn gerade die Herren vorgeben, sie verfügten über ungefähr 87 verschiedene Gefühlsarten von Geilheit bis Meditation. Und natürlich würden sie beim Tango gar nü nücht an was Unanständiges denken… Schon gar nicht daran, wie es mit der gerade umherbewegten Traumtänzerin im Bett wäre. Igitt!
Ich habe auf die Schnelle eine Studie gefunden, nach der Männer im Schnitt 34 Mal täglich an Sex denken (Frauen nur 20 Mal). Unter Abzug der Schlafenszeit also alle 30 Minuten. https://www.elle.de/so-oft-denken-maenner-an-sex
Also, meine Damen, wenn der Typ schon länger als eine halbe Stunde auf einer Milonga weilt, ist es sehr wahrscheinlich, dass er schon mal an Sex gedacht hat – und wenn Sie besonderes Pech haben, möglicherweise in Bezug auf Sie!
Nach meinen Erfahrungen wird auf Milongas teilweise drastisch gebaggert. Ich habe genügend Männer erlebt, welche so lange zu den Stammgästen einer Veranstaltung gehörten, bis die Zuneigung eines speziellen Beuteschemas sich endgültig verflüchtigte. Ums Tanzen oder gar die Musik ging es dabei eher nicht…
Daher plädiere ich bei diesem Thema inständig darum, den Ball flach zu halten anstatt sich die Taschen vollzulügen!
Hallo Thomas, ich denke, ich habe Dich schon richtig verstanden. Allein durch Deine knackig formulierte Überschrift, in der Du vom „Tangasmus“ sprichst, verleitet (nicht nur Außenstehende) doch gerade dazu, die sexuelle Komponente unverhältnidmäßig zu betonen.
In meinem vergleichsweise kurzen Tangoleben habe ich da auch schon einen bunten Strauß an Erfahrungen gesammelt. Da war beispielsweise der Typ, der beim Schuhwechsel nach der Milonga virtuell breitbeinig behauptete, bei ihm habe noch „jede Frau eine Orgasmus während des gemeinsamen Tanzens“ bekommen. Außerdem gab (und gibt) es da noch die Notzüchtler, die alles daran setzen, ihren Oberschenkel während einer gemeinsamen Tanda zwischen die Beine der Partnerin zu bekommen (um nur einmal zwei Beispiele zu nennen).
Wenn man den Begriff „Erotik“ in seiner ursprünglichen Form (dazu empfielt sich einmal der Blick in die Schrift „Symposion“ von Platon) im Tango verwendet, dann ist genau diese antiken Idee im Tango verwirklicht (nämlich die Entwicklung von der spontane Begierde nach einem „schönen Körper“ hin zu einer „Schau“ des „absolut Schönen“. (Dieser – eher philosophische – Sprachgebrauch wandelte sich dann zu dem, was wir heute im Alltag unter dem Begriff „platonische Liebe“ verstehen.)
Man kann ja meinetwegen die sexuelle Komponente des Tangos betonen. Ich fürchte nur, dort wird man den Tango nicht finden. Der Begriff „Erotik“ (richtig verwendet) beschreibt den Tango ganz gut – aber dieser Begriff ist mittlerweile derart überladen mit m.E. sachfremden Bedeutungen, dass es schwierig wird. Also verwende ich ihn nicht mehr.
Die zitierte „fallende Stecknadel“ war ein Synonym für ein „Ganz-In-Der-Musik-Sein“ aller Tanzenden. Das ist in der Tat eine tolle Erfahrung; Du wirst es möglicherweise eines Tages merken und Dich vielleicht an diesen Dialog erinnern.
Viele Grüße
“It takes 2 to tango!” heißt es doch. Drum habe ich mir erlaubt, Feldforschung zu betreiben, ein paar Gedanken auszuhecken und um die weibliche Sichtweise zu ergänzen. Bitte hier entlang zum Artikel: https://im-prinzip-tango.blogspot.com/2018/05/pablo-klart-mich-auf.html
Herzliche Grüße aus dem wilden Süden
Manuela
Wenn ich die bisherigen Kommentare zusammenfassen darf, dann doch wieder mal den Altenfritzspruch “Jeder nach seiner façon”. Und das ist doch gut so, dass uns der Tango soviele Facetten bietet, dass jeder seine Sicht, Absicht und Vorsätze haben und jeder seine Erfüllung darin finden kann. Eine drastische Baggerei, wie oben erwähnt, habe ich allerdings noch nirgends wahrgenommen.
Auf zur nächsten Milonga!
Ohne die weiteren Kommentare gelesen zu haben, möchte ich etwas Ergänzendes beschreiben, das mir im Text fehlt. Ja, ich kenne auch dieses Gefühl, wie vermutlich alle anderen Tangotänzer.
Sexualität und Sinnlichkeit bzw. Erotik (nicht nur in der engen Defintion, wie sie fälschlicherweise auf Wikipedia etc. beschrieben wird) und Sinnlichkeit ergänzen sich oder sie überschneiden sich.
Bei diesem wunderbaren Gefühl, dass Du beschreibst, lieber Thomas, assoziierte ich auch das, was ich früher empfand, wenn ich mit meinen Kollegen musizierend auf der Bühne stand. Das waren diese “magischen Momente”, in denen wir den Anderen nicht anzuschauen brauchten, wir spürten uns gegenseitig, der Schlagzeuger verstand mein Tenorsaxsolo oder wir Saxophonistne waren ganz beim Piano oder bei der Gitarre… Ich emfpand das – und das behauptete ich noch vor meinen Tango-Abenteuern – als schöner als Sex. Es ist diese Transzendenz der Seele. Ich glaube sogar, dass dies auch in der Intimität guten Sex eine grosse Rolle spielt. Und ich behaupte einmal, dass dieses Moment der Transzendenz des einen und vereinzelten Körpers bei einer “gelungenen” Tanda erreicht wird.
Ich denke nicht, dass das Paar, die Frau, der Mann an Sex denken, wohl aber an diese Initimität, welche die Geister verbindet, oder was etwas poetischer klingt, die Herzen. In der Tat nicht nur physisch, sondern auch metaphorisch ist man während der 12 Minuten einer Tanda eins.
Eine der stärksten Sehnsüchte des Menschen ist die Vergemeinsamschaftung mit dem Nächsten, in der Familie, in der Freundschaft und letztlich in der Partnerschaft. Dazu besitzt der Mensch auch die Empathie sich in einem anderen Menschen einzufühlen. Das ist ein wunderschönes Gefühl des “WIR”, just in einer Welt, in welcher das “ICH”, “ICH”, “ICH” fast schon pathologische bzw. narzisstische Züge annimmt.
Das grossartige Wir und die Transzendenz des eigenen Ichs, vor allem mit einem Tanzpartner des anderen Geschlechts, der/die uns immer ergänzt, mag wohl eines der Geheimnisse sein, dass der Tango uns süchtig machen kann.
Liebe alle, viiielen Dank für eure wohldurchdachten und -formulierten Kommentare. Für meine Antwort werde ich dem Beispiel von Manuela Bößel folgen und einen neuen Blogbeitrag formulieren. Das wird a bisserl dauern. Nur der Titel steht schon fest: Tango, Sex und andere Missverständisse.
Lieber Thomas,
danke für Deinen Artikel, zu diesem heiklen und so schönen Thema.
In meiner Tangoanfangszeit, als ich mich auf den Milongas einigermaßen entspannen konnte, habe ich mich ständig beim Tango “verliebt” und das war wunderschön und hat für mich sicherlich dazu beigetragen, die Faszination für den Tango an sich zu erhöhen. Warum passierte das? Vielleicht, weil diese körperliche Nähe mit einem Unbekannten noch neu und besonders war und die wortlos funktionierende Kommunikation auf mich wie ein Wunder wirkte, ein “Er versteht mich blind”. Vielleicht waren es auch einfach die Hormone, Oxytocin und Co. Doch egal, denn: Was gibt es Schöneres, als verliebt zu sein. Es war ja keine Verliebtheit, die zu Leid führt, sondern eine, die ich unbeschwert genießen konnte – für 10 Minuten, manchmal klang sie auch noch etwas länger nach und ließ mich auf Wolke 7 schweben. Primär hatte das Gefühl für mich eine emotional-sinnliche Komponente, keine sexuelle. Immerhin tanzt man Tango Herz an Herz, nicht Hüfte an Hüfte. Aber dass das, was Frauen als emotional verstehen, für Männer oft eher sexuell ist, ist nun nichts Neues. …und dass aus dem sinnlichen und doch “harmlosen” verliebten Kuscheln theoretisch auch Sexuelles entstehen kann, will ich gar nicht bestreiten.
Nun ja, diese Verliebtheitsmomente werden weniger je länger ich tanze. Aber es gibt sie noch ab und zu und ich genieße jeden einzelnen sehr.
Das Sexuelle oder explizit Erotische ist aus meiner Erfahrung etwas anderes. Auch das gibt es beim Tango, wenn auch deutlich seltener. Das hat für mich eine andere Dynamik, eine gänzlich andere Energie, die im Paar entsteht und von beiden nicht nur zugelassen, sondern sogar verstärkt wird. Nur wenn beide das im etwa gleichen Umfang tun, funktioniert es. Es ist wilder, wuchtiger, unmittelbarer als die zart-sinnliche verliebte Begegnung. Manchmal wird man (oder vielleicht eher frau?) beim Tango jedoch von sexueller Energie und Erotik seitens des Tanzpartners überfahren, wo es nicht stimmig ist. Das wiederum kann äußerst unangenehm sein.
Vielen Dank für Deinen sehr persönlich gehaltenen. Kommentar. Er hat nur einen Nachteil: Ich muss jetzt meine fast fertig geglaubte Sammelantwort gründlich umarbeiten. Liebe Grüße Thomas