Lange vor meinen Blogger-Zeiten hatte ich die Idee, mindestens einmal in jeder Milonga Berlins gewesen zu sein. Mehr als ein paar kurze Posts auf Facebook sind dabei jedoch nicht herausgekommen. Nun knüpfe ich an diesen Plan an und berichte wenigstens über die Veranstaltungen, in denen ich öfter gewesen bin – bevor die “Epoca Corona” uns vom Tango getrennt hat. Einige Texte schreibe ich neu. Andere sind bei anderer Gelegenheit entstanden. Ich werde sie unverändert wieder veröffentlichen und verlinken. In der (leider immer noch) aktuellen Situation ist daraus unversehens eine Sammlung melancholischer Rückblicke auf eine Zeit geworden, die wohl so nicht wiederkommen wird. Heute ist das Tangocafe im Bebop dran – die einzige Milonga (außer dem Tangoloft am Sonntag), die meine Frau und ich fast immer gemeinsam besucht haben. Gastgeber Thomas Klahn hat auch auf unserer Hochzeitsfeier für die Musik gesorgt.
Das “Bebop” hat in meiner Tanz”karriere” eine herausragende Rolle gespielt. Denn hier fing alles an. Meine damalige Freundin hatte mich auf einen Ball in einer anderen Stadt mitgenommen. Nach einigem Fremdeln hab´ ich Spaß dran gefunden und den Abend mit meinem Rhythmus-Gefühl und der Erinnerung an meine Tanzstundenzeit bestritten. Irgendwann fiel der entscheidende Satz: “Eigentlich könnte man ´mal einen Tanzkurs machen”. So sind wir im Bebop gelandet – einer von drei “alternativen” Schulen in Berlin, die nicht zum Allgemeinen Deutschen Tanzlehrer Verband (ADTV) gehören.
Davon hatte mich die Grande Dame der örtlichen Ballroom-Szene gründlich abgeschreckt. Im Interview mit einem Stadt-Magazin hatte Monika Keller lang und breit darüber geklagt, wie viele Fehler beim Tanzen gemacht würden. Das schien mir zu preußisch. Das “Bebop” nannte sich im Untertitel “Die andere Tanzschule”. Das klang schon besser. Hier fand auch meine erste Begegnung mit dem Tango statt. Denn zum Kursprogramm gehörte nicht die europäische Variante, sondern der Tango Argentino. Eine Liebe auf den ersten Schritt war es allerdings nicht. Aber das ist eine andere Geschichte.
Thomas K. bestritt im “Bebop” zwei Milongas: Dienstag abends die “Tangobar” mit überwiegend traditionellem Tango und Samstags das “Tangocafe” mit einer Mischung von traditionellem und modernem Tango und dem, was damals als “Nontango” firmierte – also der große “Rest” der Musikwelt. Die gesamte zeitgenössische Tanzmusik als “Neotango” einzugemeinden, wie das Elio Astor und Co. seit einiger Zeit tun, war damals noch nicht üblich. http://kroestango.de/aktuelles/warum-eine-neolonga-nicht-mylonga-ist/ Viele TänzerInnen meiner Generation in Berlin schwärmen bis heute vom “alten” Bebop mit seinen beiden goldgeschmückten Sälen, ausgestattet mit herrlichem Schwingparkett mit Sternenmuster.
Die Gentrifizierung hat die Location vom Berliner Mehringdamm in ein riesiges Loft am Spreeufer vertrieben. Über den Verlust der kitschigen Pracht tröstete (jedenfalls meine Frau und mich) schnell die Aussicht auf den Fluss hinweg. Wenn im Sommer die große Flügeltür geöffnet blieb, war das fast, wie draußen zu tanzen. Nur regensicher. Einmal im Jahr gabs eine Show: Die Ausflugskähne der “Reederei Riedel” führten draußen vor der Tür ein Wasserballett auf.
Über die “Tangobar” hab’ ich im Rahmen einer Serie über “Tanzen in Berlin” einmal in der “Berliner Zeitung” geschrieben. https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/tanzen-in-berlin-ein-seltsamer-virus-namens-tango-li.50334
Das “Tangocafe” war lange Zeit der wichtigste Termin unseres Wochenendes. Darum gruppierte sich unsere Freizeit. Samstags. Später kam das “Tangoloft” am Sonntag hinzu. Zu beiden haben wir uns kurz nach 16 Uhr von zuhause in Charlottenburg, Wilmersdorf oder Schöneberg (wo wir jeweils wohnten) aufgemacht, um spätestens gegen 17 Uhr einzutrudeln. Zu meinen Eigenheiten gehörten eine kurze Siesta zuvor und die Mitnahme zweier frisch gebügelter Wechselhemden.
Meistens hab ich erst einmal meinen Kaffee getrunken, vom Kuchen genascht und den Tanzenden zugeschaut. Dagegen konnte es vorkommen, dass ich vom Schnüren der Tanzschuhe hochschaute, und die Liebste war bereits einer Aufforderung gefolgt. Sie ist bei Frauen nicht weniger beliebt als bei Männern. Das von vielen Paaren streng gepflegte Ritual “Darling, save the last dance for me (and the first one too”) haben wir nie praktiziert. Aber wenn Thomas irgendwann unser Lieblingsstück gespielt hat (was er fast jeden Samstag tat), konnte es passieren, dass wir eine Tanzpartnerin oder einen Tanzpartner mit einem eiligen “Sorry” abrupt verlassen haben: “Fever”, gesungen von Peggy Lee, manchmal auch von Elvis Presley… This was the favorite dance for us!
Ehe jemand fragt: Nein, der “Cabeceo” war nicht die vorherrschende Form der Aufforderung im “Tangocafe”. Dagegen war es durchaus üblich, dass auch Frauen die Initiative ergriffen. Wegen der Größe des Saales bin ich meistens in Richtung der ausgesuchten Partnerin gegangen, um ein paar Schritte vor ihr eine Verbeugung anzudeuten. Der vormalige Tango-Sittenwächter Cassiel https://tangoplauderei.blogspot.com hätte graue Haare bekommen. Gelegentlich gab es einen Wettlauf der männlichen Stammgäste um die interessantesten weiblichen Unbekannten. Aber selbst das “Bebop” war nicht das Paradies. Deshalb hat DJ Thomas seine Gastgeber-Pflichten auch als Tänzer für einsame Damen erfüllt.
In der dienstäglichen “Tangobar” bin ich einmal bös’ gestürzt, als ich versuchte, gleichzeitig einer Säule und den raumgreifenden Bewegungen eines Nuevo-Tänzers auszuweichen. Im “Tangocafe” stand dergleichen nicht zu befürchten. Hier war stets hinreichend Platz. Gedanken über eine möglichst exakte “Ronda”, die Größe von Figuren oder die Höhe von Ganchos brauchte man/frau sich nicht zu machen. Nur die traditionelle Tanzrichtung gegen den Uhrzeigersinn wurde auch hier eingehalten. Wer (wie wir) bei manchen Stücken Lust auf eine Runde stationärer Tänze wie Boogie, Swing, Rock n’ Roll oder Rumba hatte, zog sich in die Mitte der Tanzfläche zurück, die von zwei Säulen markiert wurde (von einer war bereits die Rede). “Cortinas” zwischen den musikalischen Genres gab es nicht, wie meistens in “Mixed-Music-Milongas”. Aber Thomas hielt eine berechenbare Abfolge von Tango, Vals, Milonga und “Nontango” ein.
Meine Frau hat es nicht so mit dem traditionellen Tango. Ich hab’ den Nachmittag am liebsten mit einem Klassiker der Epoca d’Oro begonnen. Selbstverständlich haben wir auch solche Stücke miteinander getanzt. Aber lieber waren uns Astor Piazzolla, eine Rumba oder ein Boogie. Der war zu meiner Zeit als Schüler im “Bebop” anstelle von Rock ‘n Roll gelehrt worden. Weil er sich etwas langsamer tanzen lässt. Ab und an haben wir zu passender Musik auch einen Quickstepp oder Slowfox eingelegt – ganz weit außen rund um die große Pista. Aber irgend wann hatte der Tango diese Tänze in meinem Gedächtnis verschüttet. Leider.
Gesessen haben wir ein einem Tisch oder auf der Fensterbank neben dem DJ-Pult. Das Prinzip” “Weg gegangen, Platz vergangen”, galt im “Tangocafe” nicht. Hier hab’ ich übrigens einen Teil meiner tangolexikalischen Bildung generiert. Der arme Thomas musste immer wieder für meine Fragen herhalten: “Sag’ mal, was war denn das gerade…” Irgendwann hab’ ich endlich behalten, dass die wuchtig melodiösen Stücke, die in meinen Ohren eher nach Fulvio Salamanca klangen, in Wirklichkeit aus der späten Phase von Juan D’Arienzo stammten. Ich bin mir nicht völlig sicher, aber ich meine, dass ich im Bebop zum ersten Mal eins meiner absoluten Lieblingsstücke gehört habe: “Violin de Becho” von Alfredo Zitarrosa.
Zum Glück habe ich eine äußerst tolerante und verständnisvolle Frau. Denn es konnte vorkommen, dass ich den Prozess des Umziehens kurz vor Ende der Veranstaltung unterbrach, weil dies Stück erklang. Der Zufall wollte es, dass wir auf dem Weg zur Garderobe an einer Frau vorbei kamen, von der ich wusste, dass sie meine Vorliebe teilte. Ich hab dann auf Socken getanzt. Anflüge von Unverständnis der Liebsten gab es allenfalls, wenn ich wieder einmal Pugliese mit einer fremden Frau tanzte, obwohl sie unter den Klassikern gerade ihn besonders mochte.
Ich will an dieser Stelle keine weiteren Frauen hervorheben, sondern zwei Männer erwähnen, mit denen ich (hier und im “Loft”) immer wieder gern getanzt habe. Beide liebten es, die folgende Rolle einzunehmen. Der eine war der erste Mann, mit dem ich außerhalb des Unterrichts getanzt hatte. Er kam regelmäßig mit seiner Mutter, die im Lauf der Zeit immer hinfälliger wurde. Aber er kümmerte sich hingebungsvoll ums sie – bis zu ihrem Tod. Er war ein ebenso verspielter wie aufmerksamer Tänzer. Ideal zu führen.
Vom anderen heißt es, er sei früher Ballett-Profi gewesen. Auch er war verspielt, aber, nun ja, nicht ganz so leicht zu handhaben, zumal er etwas größer ist als ich. Außerdem neigte er dazu, beim Spielen seinen Partner zu vergessen. Spaß gemacht hat es auch mit ihm – trotz des höheren Bändigungsbedarfs. Zum Glück hatte er Verständnis, wenn ich ihm ab und an einen Korb gab, weil ich etwas schwächelte. Aber er konnte sich darauf verlassen, dass ich bei nächster Gelegenheit wieder mit ihm tanzte.
Das war ohnehin der Fall in dieser Milonga: Die Gäste haben bunt durcheinander getanzt – obwohl die meisten Tänzerinnen und Tänzer im Paar kamen – bis auf ein Paar, das durch seinen besonderen Stil auffiel. Die beiden trainierten für Showtänze – wo hab ich vergessen. Aber ich hatte nie den Eindruck, dass sie sich in den Vordergrund spielen wollten. Ich glaube, sie waren schlicht froh, auf einer so großen Fläche üben zu können. Gelegentlich wurden sie belächelt. Aber sie gehörten dazu – zu unserer kleinen Gemeinschaft, die nichts anderes wollte, als sich jeden Samstag Nachmittag zu amüsieren. Oft sind wir anschließend zu einem Vietnamese gleich um die Ecke gegangen. “Tango-Kantine” hab’ ich das Lokal genannt.
In diesem Jahr werde ich 70 Jahre alt. Wenige Tage später feiern die Liebste und ich unsern zehnten Hochzeitstag. Vor zehn Jahren haben wir dies Doppelereignis mit mehr als 100 Gästen in der Berliner Tangoschule Mala Junta https://www.malajunta.de gefeiert, dessen “Milonga que faltaba” ich demnächst vorstellen werde. 2021 wird die Fete wohl nicht ganz so groß ausfallen – wenn sie überhaupt stattfindet. Die Genossenschaft, bei der wir inzwischen eine Wohnung gemietet haben, verfügt über einen schönen Gemeinschaftsraum. Ich werde mich demnächst erkundigen, ob sie in diesen Zeiten Reservierungen annehmen. Selbstverständlich frage ich auch Thomas K., ob er wieder Zeit und Lust hat, für die Musik zu sorgen.
Der traditionelle Geburtstagsvals dürfte vom Orchesta Francisco Canaro stammen – eins dieser herrlich europäisch klingenden Stücke, die der aus dem Elsass stammende Komponist Emile Waldteufel geschrieben hat. Einige davon hatte “El Kaiser” im Repertoire. Auch dies hab´ ich von Thomas K. auf der Fensterbank neben dem DJ-Pult im Bebop gelernt. Und wenn alle Stricke reißen, tanzen wir den Geburtstagswalzer halt allein in unserem Wohnzimmer.
PS: Das Foto in diesem Beitrag hat meine Tochter Lena Oetzel an einem Nachmittag im Jahr 2016 gemacht.
Die erste Folge dieser informellen Serie hat uns ins “Tangotanzen macht schön” geführt – mit seiner Milonga “Der schöner Freitag”: http://kroestango.de/aktuelles/tango-und-wurst-2/ Bei den Betreibern Susanne und Rafael hab ich viel Unterricht gehabt und bin mit ihnen auf Reisen gewesen https://www.susanneopitz.de/susanne-opitz-rafael-busch.
Es folgte Felix Hahmes http://felixtango.blogspot.comVeranstaltung, donnerstags in der “Villa Kreuzberg” – die erste Milonga, die ich allein besuchte habe: http://kroestango.de/aktuelles/recuerdo-de-la-villa-k/
Ich hatte immer wieder das Glück, eine Milonga “um die Ecke zu haben. Zu Ines Moussavi konnte ich von zuhause laufen und bin auf dem Rückweg meistens zwei Stationen mit der U-Bahn gefahren. Eine sehr familiäre Veranstaltung. Hier mein Artikel aus der “Tangodanza” http://kroestango.de/portraits/ines-moussavi-tango-am-grossen-tisch/ .
Ich hab’ eine Weile gebraucht, bis ich das “Tangoloft” zu schätzen gelernt habe. Dann aber richtig. Hier mein Abgesang auf eine Berliner Institution http://kroestango.de/aktuelles/adios-tangoloft-hasta-luego/