Cabeceo kann, aber muss nicht”, hab ich meinen vorigen Beitrag in diesem Blog betitelt, “sogar in Buenos Aires.” (**) Darin geht es um “Codigo Nuevos”, die von einer feministischen Gruppierung dort stammen. Gefunden hab ich sie aus gerechnet auf der Website einer Berliner Milonga, die als eher konservativ gilt. Von den BetreiberInnen hat sich bisher keine(r) zu der Veröffentlichung geäußert. Ein Stammgast meinte allerdings das queere Auffordern sei üblich und die verbale Aufforderung kein grundsätzliche Problem, sondern eins von Angebot und Nachfrage. Dafür gab’s auf Facebook eine (immer noch anhaltede) Diskussion, in der sich einige Männer ziemlich unfreundlich über die Initiative aus Buenos Aires äußern. Dabei tritt zum Teil eine für mich ziemlich befremdliche Aggressivität zutage. (***)
Ich fänd’s toll, wenn die Redaktion das Thema einmal aufgreifen würde. Schließlich hat die Tangodanza eine Korrespondentin in Buenos Aires.
Umso mehr freut mich, dass die neue “Tangodanza” ihren Inhalt mit dem Thema umrahmt: Am Ende des Heftes berichtet sie über den Verein “Tango Luna” in Kaufbeuren. Er fordert in seinen Milongas ausdrücklich zum Auffordern beider Geschlechter auf. “Weil Gleichberechtgung einfach selbstverständlich ist”, werden die Veranstalter zitiert. Die Überschrift des Artikels lautet “Glücklich”Auf seiner Website hat der Verein andere Milongas (vornehmlich aus dem Süden des Landes) verlinkt, in denen genauso verfahren wird. Die Redaktion nimmt das Thema bereits im Editorial auf. Ihr Kommentar: “Wir hoffen sehr, dass diese Beispiele Schule machen.”
Ich schließe mich an.
Ein besonderes Schmuckstück in diesem Heft ist für mich der Ausschnitt aus dem Interview von Pepa Palazon mit Chicho Frumboli aus ihrer Reihe “Tengo una pregunta para vos – ich habe eine Frage an Dich.” https://www.patreon.com/tengounapregunta Das Original ist nicht immer leicht zu verstehen. Aber ich finde: Die Mühe lohnt. Chicho ist beim Sprechen sehr in sich gekehrt. Er erläutert unter anderem, warum er zum alten Tango zurückgekehrt ist: Weil er beim neuen nach der Jahrhundertwende schon nach wenigen Jahren “die Essenz des Tango nicht mehr gespürt habe”. Die heutigen Shows seiner Kollegen kann er “nicht länger als 30 Sekunden anschauen”. Es seien “alles nur Wiederholungen”. Sein Konzept dagegen:
“Ich wähle den Titel, den wir tanzen werden , höchstens fünf Minuten vorher aus, um mich mit dem Publikum verbinden zu können. Sie sehen in meine Seele. Es ist improvisiert. Wir machen keine Choreographie.”
Zur Eröffnung diese Beitrags hab ich bewusst keinen Tango gewählt, sondern “Claire de lune” aus der “Suite bergamasque” von Claude Debussy. Warum? Das Stück zählt zum Repertoire meiner Harfe spielenden Tochter Laura Oetzel und ihres Partners Daniel Mattele. Chicho schätzt es offenbar sehr. Denn auf YouTube sind mehrere Tanzversionen von ihm und seiner Partnerin vertreten.
Zur Finanzierung ihrer Site hat Pepa übrigens ein Fundraising-Modell entwickelt. Wirtschaftlich ist die Aufnahme und Verbreitung ihrer Interviews mit den Größen der Szene dennoch längst nicht. Leider.
Zum wiederholten Mal beschäftigt sich Arnold Voss in diesem Heft mit dem Thema Berlin. Er bescheinigt der Stadt, die ohnehin schon als “Europas Tangohauptstadt” gilt, “eine fast unaufhaltsame Aufwärtsspirale, in der sich soziale, tänzerische und gestalterische Energie mittels stadträumlicher Dichte gegenseitig so verstärken, dass die Szene als soziales und künstlerisches Ganzes zum nationalen und internationalen Magneten aufgestiegen ist.” Der Vorsprung vor anderen deutschen Städten sei uneinholbar. Aus meiner Sicht kein wirklich überraschender Befund.
Tangodanza, Bahnhofstraße 48, 33602 Bielefeld. Inlandsabo 38 Euro für vier Ausgaben, Einzelheft 9,50 Euro, www.tangodanza.de
Interessanter finde ich seine leider nirgends belegte Behauptung, den zentralen Unterschied zu anderen deutschen Tango-Städten mache “die immer größer werdende Alterskohorte zwischen 20 und 30 Jahren aus”. Auch wenn der Autor bisweilen zu sehr in Soziologismen verfällt, sicher einer der interessanteste Artikel, dessen zentrale These auf Facebook schon auf Widerspruch aus Berlin gestoßen ist. Michael Rühl, der Nestor der hiesigen Szene spielt die Bedeutung eher herunter. ( ****)
Eine hübsche kleine, nur zwei Druckspalten umfassende Provokation leistet sich Arnold Voss unter dem Titel “Reiseziel Milonga”. Darin weist er darauf hin, dass die Tango-Gemeinde in ihren Diskussionen privat und in den sozialen Netzwerken gern ihr Umweltbewusstsein betont, aber im realen Tangoleben zu den reiseaktivsten ZeitgenossInnen zählt – gern mit Auto und Flugzeug. Seinem Appell, diese Mobiliät zugunsten der heimischen Milongas zu beschränken, dürfte wohl eher kein Erfolg beschieden sein.
Fangen kann mich die TD immer mit ihren Beiträgen über Musik. Faszinierend finde ich den Einblick, den der Pianist und Komponist Robert Schmidt in seine Gedanken- und Gefühlswelt gibt. Eine Passage hab’ in meinem Heft dick unterstrichen:
“Mir persönlich gefallen bestimmte Entwicklungen der Tangoszene in den vergangenen 20 Jahren nicht so besonders. Zum Beispiel die Unlust mancher Tänzer und Tänzerinnen oder Veranstalter, zu Livemusik zu tanzen bzw.diese zu unterstützen. Aber auch die “ständige Beschäftigung mit einem eingeschränkten Kernrepertoire durch DJs führt zu fast neurotischen Zuständen bei der Frage, welches Orchesta denn nun genau an dieser Stelle der Playlist sein soll, abhängig von verschiedensten Faktoren wie der Raumtemperatur oder der gefühlten Luftfeuchtigkeit. In der goldenen Epoche des Tango hat man zu ein oder zwei Orchestern am Abend getanzt und das war’s.”
Dass er als Musiker und Komponist für zeitgenössischen Tango auch aus schierem Eigenennutz plädiert, versucht er erst gar nicht zu verbergen.
In jedem Heft freue ich mich auf die Artikel von Olli Eyding. Diesmal geht es um “Das Konzept Tanda”. Hier nur soviel: Es entstand erst, als die meisten Granden der Epoca D’Oro schon tot waren. Mehr dazu im Heft. Eine schöne Idee finde ich die neue Rubrik, die in jeder Nr. – mit Begründung – eine andere Tando vorstellt. Diesmal geht es um Jose Garcia y Zoros grises. Ich gesteh’ meine Unbildung: Der Name war mir nicht geläufig. Beim Anhören hab ich dann festgestellt: Außer Nr. Drei kannte ich alle Titel aus den Milongas. Ob von diesem oder von anderen Orchestern? Keine Ahnung. “Junto a tu crazon” zählt sogar zu meinen Lieblingen unter den goldigen Tangos. Olli Eyding ist jedenfalls eine für meinen Geschmack sehr gefällige Tanda gelungen.
Die weiteren Titel: Triteza Marina https://youtu.be/3qEQDlcAyns, Zorro Plateado https://youtu.be/QnHNstdNsh4 und als Nr. 4:
Zum Schluss komme ich nicht umhin, ein paar Worte über die Titelgeschichte zu verlieren. Sie stammt von mir. Ludmilla und Pablo sind, wenn ich das recht sehe, auf ihre Art ein einmaliges Paar in der Welt des Tango: Musiker und Tänzer oder Tänzer und Musiker. In ihren Shows wechseln sie nicht immer, aber oft zwischen Parkett und Piano/Violine. Im Video sind die verschiedenen Passagen montiert. Aber der Dualismus ist auch live zu erleben. Anders als Chicho Frumboli und Juana Sepulveda scheuen die beiden keine einstudierten Choreografien.
Zu ihren Spezialitäten zählt darüber hinaus ihre Website. Anmeldung ist erforderlich, aber kosten- und problemlos. Darauf präsentieren sie die Zusammenfassungen ihres Tango-Unterrichts. http://www.universitango.com
Ich finde ihn sehr klar und systematisch. Besonders empfehlenswert: Ihre Musikalitäts-Lektionen, in denen sie Tanz und Instrumentalspiel mit den Erläuterungen verbinden.
Hinzufügen muss ich noch, dass die beiden eher konservativ sind, genauer gesagt: Pablo, denn im Gespräch ergreift meist er das Wort. Auffordernde Frauen etc. sind zum Beispiel nicht sein Ding. Auch für die Tango-Feministinnen aus Buenos Aires hat er eher wenig Verständnis. Einschlägige Äußerungen könnt ihr in den erwähnten Debatten auf Facebook finden. Beeinträchtigt das meine Einschätzung seiner tänzerischen Fähigkeiten? Nein. Ich bewundere ihre Verbindung von tänzerischer Perfektion und Musikalität. Ich mag es, wie sie den Salontango mit Escenario-Elementen würzen. Allerdings finde ich, dass sie manchmal mit ihren Mitteln etwas sparsamer umgehen könnten. Und wenn ich noch einen Styling-Hinweis für Pablo loswerden darf: Seine Haarpracht gefällt mir naturlockig erheblich besser als portenomäßig mit Gel gebändigt.
(*) Dies ist wie immer keine Besprechung, die Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Ich beschäftige mich hier nur mit Artikeln, die mein Interesse geweckt haben. Daher kommen außer den beiden über Berlin und Kaufbeuren die Berichte über Milongas oder Tanzbedarfsgeschäfte irgendwo in Deutschland nicht vor.
(**) http://kroestango.de/fundstuecke/fundstuecke-cabeceo-kann-aber-muss-nicht/
(***) Nachzulesen im FB-Echo auf Beiträge von Gerhard Riedl und mir.
(****) siehe: Thomas Kröter, Der letzte Tango, Berliner Zeitung, 5./6. Oktober 2019