Ich habe diesen Beitrag mit einer kleinen Video-Auswahl meiner Vorlieben gewürzt. Quer durch die Stilrichtungen. Professionell aufgenommen oder leicht verwackelt von mir.
Mit diesem Artikel wird mein Blog 100 Beträge alt. Ich zähle lieber die Texte als andere, scheinbar eindrucksvollere Daten. Denn ich hege ein gerüttelt Maß an Misstrauen gegenüber jener virtuellen Maschine, die Besucher und Besuche erfasst. Die 100 ist eine runde, durchaus jubiläumsfähige Zahl. Da bin ich wenigstens sicher, dass ich mir zu Recht auf die Schulter klopfe. Die Zahl der Besucher liegt nach fast zwei Jahren bei rund 70 000, die der Besuche bei bald 190 000. Wer wie oft da war, weiß ich nicht. Auch deshalb zähl ich lieber die Artikel.
Es könnten sicher mehr Visits sein. Sex sells. Krawall auch. Aber ich hab inzwischen meine eignen Themen gefunden. Manche sind eher “Longseller”. Es dauert seine Zeit, bis die Rezension eines Buches über Juan d’Arienzo ihre Leser gefunden hat. Auf Echo aus der “Fachwelt” zu warten, hab ich mir abgewöhnt. Von den aufgeregten Debatten auf Facebook hab’ ich mich in diesem Blog, so gut es ging, abgekoppelt. Selbstverständlich verfolge ich sie weiter. Das Netzwerk bleibt für mich auch wichtig, um in verschiedenen Gruppen für neue Texte zu werben. Denn leider ist dieser Blog nicht “selbsttragend” im freien Netz.
FB ist obendrein nötig, um Präsenz in der virtuellen Tango-Szene zu zeigen. Aber ich bewerkstellige das lieber durch halbwegs originelle Funde. Die allfälligen Katzbalgereien um die einschlägigen Themen wie Cabeceo & Co. langweilen mich immer mehr. Aktiv raufe ich eher selten noch mit. Harmonie süchtig, wie ich erzogen bin, wär’s mir lieber, wir verständigten uns fraktionsübergreifend und einvernehmlich darauf, dass der Tango eine höchst vielfältige Veranstaltung ist – und in allen seinen manchmal seltsamen Formen und Gegensätzen eben doch Tango bleibt. Ich illustriere die Bandbreite hier in zwei Zitaten, die ich aus dem Netz gefischt habe:
“Wir verstehen Argentinischen Tango als eine aufregende Technik, um mit jemandem zu tanzen – zu jeder Zeit, an jedem Ort, in jeder Art von Schuhen auf jedem Untergrund, zu jeder Art von Musik. Ihr seid nicht hergekommenen, wegen einer fremden Authentizität. Wenn ihr dazu tanzen wollt, ist es Tango-Musik. Macht Tango zu Eurer eigenen Sache.” (*)
“Argentinischer Tango ist nicht bloß ein Tanz. Er ist eine gelebte Kultur. Und es ist diese Kultur, die den argentinischen Tango so einmalig macht. Wenn ihr diese Kultur wegnehmt, dann bleibt “Tango” übrig. Ok. Macht das. Aber wenn ihr “argentinischen Tango propagiert (weil ihr denkt, dass er so großartig ist), dann sollte es so nahe wie möglich am Original sein. Vor allem die Übereinstimmung mit den Regel in den Milongas, die sollten wir mit dem größten Respekt behandeln..” (**)
Diesen Respekt sollten die unterschiedlichen Fraktion der Tango-Community auch einander angedeihen lassen. Die einen mögen es halt, den Tango als disziplinierten Kreistanz zu Musik zu inszenieren, die ein bestimmtes Alter nicht unterschreiten darf. Die anderen lieben es, sich zu elektronischer Musik zu bewegen, umfangen von bunt zerfließenden Bildern, vielleicht sogar gewürzt mit einem Fesselspiel anstelle eines Showtanzes. Mein Ding ist beides eher nicht. Jedenfalls nicht dauernd. Vor allem aber finde ich, der Tango wäre ein, nun ja: eher armseliger Tanz, wenn seine Kultur vor allem von der Art der Aufforderung abhinge. Aber muss ich mich deshalb dauernd darüber aufregen?
Ich lobe lieber zwei Institutionen, die diese friedliche Koexistenz in Berlin lebendig werden lassen: Das “Tangoloft” mit seiner vielfältigen Veranstaltungskultur. Leider ist es gerade in seiner Existenz bedroht. Außerdem das “Contemporary Tango Festival”, das einmal im Jahr Tangotanzende aller Richtungen im Hauptbahnhof der Stadt zusammenführt – mit vielen Tanz-Auftritten und grandioser Live-Musik
Ich liebe es nach wie vor, durch die seltsam fragmentierte Welt des Tango zu flanieren, die zuweilen wirkt, als seien es (mindestens) zwei verschiedene. Genug Stoff für Beobachtungen und Bemerkungen. Ich komme dabei allerdings nicht ohne das Therapeutikum der “Ohrenspülung” aus: Mehr als zwei (höchstens drei) Veranstaltungen der einen oder anderen Sorte am Stück vermag ich nicht zu ertragen. Nie dürstet es mich so sehr nach Musik aus goldigen Zeiten wie nach einer ausgiebigen Dosis Neo- und Electromusik. Und umgekehrt. Leider sind beide Seiten gleichermaßen nicht in der Lage, mein wichtigstes Bedürfnis hinreichend zu befriedigen: Die Sehnsucht nach zeitgenössischem Tango – ob in Gestalt moderner Coverversionen klassischer Titel oder lieber noch: Durch aktuelle Neukompositionen. Um es zu wiederholen: Ich meine T A N G O. Nicht irgendwelche andere, von mir aus meinem Geschmack nahe Musik, zu der sich in paariger Umarmung tanzen lässt.
Die zeitgenössischen Tangogruppen, die in Buenos Aires, aber auch in Europa entstanden sind, geben sich immer weniger mit ihrer eigenen, neuen Sicht auf die altem Meister von Canaro bis Piazzolla zufrieden. Immer öfter schreiben sie ihre Musik selbst. Aber um sie zu hören, muss man sie meist live erleben – oder zuhause sitzen und lauschen. Denn an den Gatekeepern am DJ-Pult deutscher Milongas vorbei schaffen es nur die wenigsten. Diese wiederum, jedenfalls soweit sie sich im Netz tummeln, suchen “Neues” lieber in der Vergangenheit. Sie erfreuen einander und uns allenfalls mit selten Gespieltem aus dem Repertoire der Uraltmeister oder ergehen sich in Debatten darüber, welche wie bearbeitete Version eines Titels technisch die beste sei. Auf diese Weise bekommen aktuelle Kompositionen erst gar nicht die Chance, zum Hit oder wenigstens “Hitlein” zu avancieren. Wie schrieb schon vor Jahren ein deutscher Tango-Veranstalter, dessen Text ich gerade zufällig gefunden habe: “Von den DJs werden wir keine Erneuerung und Erweiterung des Tango erwarten können”. (*****) Im Gegenteil..
Die meisten Musicalizadores klassischer Ausrichtung sind (mindestens in der angeblichen Tango-Haupstadt Europas, wo ich lebe) eher beinharte Anwälte des Status Quo. Bloß nicht riskieren, dass bei der nächsten Tanda sich womöglich zwei Paare weniger auf der Pista bewegen als bei der vorigen, weil da ein ungewohntes Stück zu hören ist! Nein, sie sollen die TänzerInnen nicht “erziehen” – nicht einmal zu meinem Geschmack. Aber wie wäre es denn, wenn sie ihr Wissen und ihre Autorität in der jeweiligen Peer-Group gelegentlich nutzten, um das hoch verehrte Publikum behutsam mit der ein oder andere Neuigkeit von heute bekannt zu machen?
Bewahre! Sie bestätigen einander lieber gegenseitig in ihren Zu- und vor allem Abneigungen. Da fallen die Geschmacksurteile fix und begründungslos wie das Beil einer Guillotine. Fulvio Salamanca? Igittigittt! Neulich verstieg sich eine Protagonistin dieser Halbwelt sogar zu der Formulierung, sie würde einem DJ am liebsten das Notebook zuklappen, wenn er oder sie eine bestimmte Musik spiele. Da verwundert es nicht, wenn vor einigen Jahren jemand aus der entgegengesetzten Region der Tangowelt in den Ruf ausbrach: “Stoppt die Tangotaliban”!
Einen Geburtstagswunsch hab ich noch: Wer es bis hierher in diesem Text geschafft hat, könnte glatt auf die Idee kommen, einen Kommentar zu verfassen. Ich bitte sogar darum. Noch mehr würde es mich freuen, wenn Ihr die dafür vorgesehene Rubrik dieses Blogs nutzen würdet. Die meisten schreiben lieber in den Gruppen auf Facebook, wo sie auf mich aufmerksam geworden sind. Dadurch zerfasert die Diskussion. Neidisch sehe ich in den “Plaudereien” des “Vaters” der deutschen Tango-Blogger, wie lebendig es bei Cassiel zu ging. Es muss ja nicht so heftig und schon gar nicht so ausschweifend geschimpft werden wie anno dunnemals. Aber mehr Leben in meiner Bude wäre schon schön. Mit und in meinen Antworten pflege ich mich übrigens zurückzuhalten. Da braucht niemand zu befürchten, er/sie würde hier “niedergemacht”. Also: Bitte traut Euch!
Diese Entwicklung hat mich (neben anderem) vom süchtigen Tänzer zum begeisterten Hörer resignieren lassen. Drei bis fünf Mal pro Woche auf der Pista? Och, nöh… Zwei Mal reichen auch. Immer öfter muss ich mich dazu zwingen, eine Milonga zu besuchen. Ich will ja nicht gänzlich aus der (Tanz-)Übung kommen. Spaß macht es nur noch bedingt . Außer der passenden Musik hilft immer wieder eine Partnerin, mit der ich geheimnisvollerweise vom Beginn einer Tanda an auf einer Wellenlänge bin. Ansonsten genieße ich daheim die Schätze, die ich – an meinem PC sitzend – in den Streaming- Diensten finde. Dabei wiederum hilft mir mein FB-Algorithmus. Er vermittelt mir – um nur ein Beispiel zu nennen – regelmäßig Live-Auftritte aus dem “Bilongon” in Buenos Aires – zum Teil mit Bands, von denen ich noch nie gehört habe. Dann suche ich auf Youtube und Spotify nach mehr von diesen Musikern. Ein wunderbares Tag-und-leider-auch-Nacht-Vergnügen.
Mindestens so sehr wie mit den DJs fremdele ich mit den Show-Paaren aus Mekka, die uns preissteigernd in den Milongas beehren. In der Goldenen Epoche waren die Tanz-Profis stolz darauf, möglichst anders zu tanzen als die Konkurrenz. Viele der Schritte und Figuren, die sie in diesem Wettbewerb unter einander entwickelt haben, sind heute Gegenstand des Tango-Unterrichts. Die Highlevel-Paare dagegen, die heute auf dem Tango-Circuit um die Welt reisen, unterscheiden sich in meiner Wahrnehmung stilistisch all zu oft nicht mehr sonderlich von einander – zumal im vorherrschenden Tango de Salon. Lautet so das anmaßende Urteil eines vorwitzigen Laien? Nicht nur. Chicho Frumboli etwa, einer der größten Tangotänzer unserer Zeit, mag sich die Shows seiner Kollegen “nicht länger als 30 Sekunden anschauen”. Es seien “alles nur Wiederholungen”, klagte er in einem Interview. (***)
Für ein vollmundiges “alles” reicht mein Überblick nicht. Außerdem gibt es einige Paare, die ich gern sehe. Aber seltsamerweise kommen die meisten eher aus Europa oder leben seit Jahren in der Diaspora: Die Pioinere des Tango Nuevo Gustavo Naveira und Giselle Anne zum Beispiel oder Chicho Frumboli und Juana Sepulveda. Ich nenne den russischen Amerikaner Michail Nadtochi und Eleonora Kaganova (oder seit einiger Zeit Paula Duarte). Ich sehe auch gern die verrückten Choreografien des deutsch-argentinischen Paares Christian Mino und Michaela Böttinger oder – in der nächsten Reihe – die bisweilen ein wenig überambitionierten Darbietungen von Pablo Fernandez Gomez und Ludmilla Snrkova aus Berlin, über die ich in der Tangodanza geschrieben habe (****).
Obendrein schau ich mir immer wieder gern die Shows von Nicole Nau und Luis Pereyra an, die sich an ein weit größeres Publikum richten als die enge Tango-Szene. Luis Pereyras Anliegen ist es nicht zuletzt, den indigenen Teil der Wurzeln unsers Tanzes vor dem Vergessen zu bewahren und zu zeigen, wie reichhaltig die Folklore Argentiniens jenseits des Tango ist . Außerdem ist ihr Stil so herrlich weit entfernt von der aktuellen Mode. Einen Maestro aus Buenos Aires darf ich auf keinen Fall vergessen: Hugo Mastrolorenzo. Der geniale Choreograf ist ein Avantgardist. Gemeinsam mit seiner Partnerin Agustina Vignau hat er 2016 mit einer total verrückten Kür zu “Ballada para un Loco” die Weltmeisterschaft im “Tango escenario” gewonnen. Zum 50.Jahrestag der Premiere dieses Stücks von Astor Piazzolla und Horacio Ferrer hat er die Sieger-Nummer bei der Mundial 2019 mit anderen Maestros und Maestras zu einer Gemeinschaftsshow ausgebaut. Nicht ohne Hintergedanken habe ich ein Video davon an den Anfang dieses Artikels gesetzt.
Die Geschichte der “Ballada…” ist für mich ein Menetekel. Die beiden Autoren hatten sie für einen Wettbewerb im Luna Park von Buenos Aires geschrieben. Wegen seiner ungewöhnlichen Form und des seltsamen Inhalts wurden sie verlacht und geschmäht. Gewonnen haben damals Julio Camiloni und Julio mit “Hasta elultimo tren”, ein Stück, das eher dem Zeitgeschmack entsprach oder besser: Zu entsprechen schien. Denn die “Ballade über einen Verrückten” avancierte binnen weniger Tage zum Hit in ganz Lateinamerika und ist heute ein weltweiter Klassiker. Der Sieger von damals ist längst vergessen. Und die Moral von der Geschicht’? Das sollte jede(r) selbst entscheiden.
(*) “We understand Argentine Tango as an amazing technology for dancing with someone any time, any where, in any shoes, on any surface, to any music. You did not come here for someone else’s authenticity. If you want to dance to it, it’s tango music. Make Tango Your Own.” Siehe: www.https://tangoforge.com
(**) “Argentine tango is not just a dance. It is a lived culture. And it is this culture that makes tango Argentinean Tango so unique. If you take away this culture, “tango” will remain. Ok, go .. But if you propagandize “Argentine Tango” (because you think it’s so great), it should also approach as close as possible to the original, namely the compliance with the Codigos in the milongas, that is the least we shall give with respect. An Argentine visiting a milonga overseas should not be “in pain” to see what we have done with their tango, it is ok to interfere with other forms of dance or allow other flows, but the “labeling” should be clear.” (Stefani Kang Facebook, 10.11.2019, 05.35 Uhr) Die Übertragung der beiden Zitate aus dem Englischen stammt von mir.
(***) Ralf Brand, Tangodanza 3/2013, S. 82
(****) Tangodanza 4/2019, S. 9
(*****) Tangodanza 4/2019, Vorbilder? Fehlanzeige!, S. 5f.
(******) http://www.todotango.com/english/history/chronicle/453/An-atomic-bomb-Balada-para-un-loco/
4 Comments
herzlichen glückwunsch lieber thomas zu deinem 100 artikel!
hier lese ich gerne! du schreibst hier deine meinung zu vielen verschiedenen themen ohne anspruch auf allgemeingültigkeit. das ermöglicht einen meinungsaustausch und bereitet somit eine basis für weiterentwicklungen.
ich freue mich schon auf die nächsten 100 artikel! und vergesse das tanzen nicht!
andreas
Na dann, lieber Blogger-Kollege: Herzlichen Glückwunsch zum hundertsten Text! Und es mögen dir noch viele einfallen.
Gestaunt habe ich über dessen Länge: über 2000 Wörter und damit umfangreicher als eine durchschnittliche „Wagneriade“ aus Pörnbach!
Während du im ersten Teil versicherst, der „Katzbalgereien“ im Tango eher überdrüssig zu sein, ziehst du anschließend doch ziemlich über DJs und Showtanzpaare her. Völlig zu Recht natürlich. Ich wundere mich nur – und liebe Dialektik.
Schade, dass du dir im großen Berlin immer mit der Musik der einen Milonga die Ohren von den Strapazen der vorherigen ausspülen musst. Vielfalt an einem Ort scheint noch seltener zu sein als bei uns im Süden. Sehr bedauerlich.
Lieber Thomas, unübertroffen bist du als Themen-Finder. Mindestens 100 meiner Texte gehen auf Ideen zurück, die du mir geliefert hast. Großen Dank dafür!
Vielen Dank für die Blumen, lieber Gerhard Riedl, um mit dem letzten zu beginnen: Ich bin halt schrecklich faul, sonst würde ich die Themenfunde schon selbst weiter verfolgen. Deshalb werde ich’s auch nie zu einem Buch bringen. Was die Vielfalt angeht: Ist ja vielleicht gar nicht schlecht, auf diese Weise a biserl rum zukommen. So bleib ich mit beiden Seiten im Gespräch. Ansonsten zitiere ich immer wieder gern den Nicht-Milonguero Conrad Ferdinand Meyer, der seinen ollen Ulrich von Hutten sagen lässt: “Ich bin kein ausgeklügelt Buch. Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.” PS: Wenn man zählt, wie ich es aus meinem Beruf gewöhnt bin, wird’s sogar noch schlimmer. Es sind mehr als 12 000 Zeichen. Aber alte Leute reden halt gern..
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH u n d
DANKE für hundert anschaulich anregende Texte lieber Thomas!
Ich schätze an deinem flaneurigen Blick aufs TangoGeschehen neben den vielen Entdeckungen, die mir ohne dich entgangen wären vor allem die zwar nachdenklich hinterfragendenden, aber nichr verurteilenden Beschreibungen des Schönen und Schrägen in unserer ja irgendwie vereinsmäßig kleinen und doch so international weiten musikalisch bewegenden Hobbywelt.
Du weckst Interesse und wiegst uns ein – einfach gut, dabei zu sein!
Bin gespannt auf die nächsten Hundert … !!!