Neulich wurde ich an ein kleines Erlebnis während meines Tangourlaubs in Buenos Aires erinnert. Es war nach dem morgendlichen Unterricht in unserem Tangotel. Eine junge Mitreisende blickte konzentriert in den Spiegel und übte weiter. Ich konnte meinen Mund nicht halten und sagte in leicht affektivem Schülersound: „Streber…“ Kurze Pause. Dann hielt sie inne, schaute mich strafend an und zischte: „Wer kein Streber ist, hat beim Tango auch nichts verloren.“
Diese Episode kam mir in den Sinn, als ich im Blog https://berlintangovibes.com/blog/ den Eintrag „Tangodetox“ las. Die Schreiberin berichtete von ihrem Überdruss am Tango, vor allem aber davon, wie sie ihn bekämpfte. Sie mied Milongas. Doch dann kams: „Sechs Wochen, in denen ich mich voll und ganz auf den Unterricht konzentriere.’Tango-Detox’ nennt das einer meiner Tanzpartner. ‘Du wäschst Deinen Tango wieder rein. All die Schnuddeleien, die man sich auf Milongas angewöhnt, gewöhnst Du Dir jetzt wieder ab’.“
Mmmhhh… wenn ich vom Tango die Nase voll habe, was periodisch vorkommt, dann meide ich ihn. Komplett. Aber nur noch Unterricht? Ich musste den Text noch einmal lesen, um zu verstehen. Es ging der Autorin nicht um die (temporäre) „Entgiftung“ vom Tangovirus, sondern um die rituelle Reinigung vom Schmutz des realexistierenden Tanzes.
Derlei Streben nach Vollkommenheit war mir schon fremd, als ich noch Standard und Latein getanzt habe. Bei einem Workshop fragte damals ein sehr engagiertes Paar meine Partnerin und mich, ob wir Lust hätten, zum Turniertraining in ihren Verein mitzukommen. Die beiden waren entsetzt, als wir dankend ablehnten. Manchmal hab ich den Eindruck, beim Tango ist immer Turnier. Die WertungsrichterInnen sitzen ringsum in der Milonga.
Ich tanze, um mich zu entspannen, nicht für irgendwelche Jury (auch keine innere). An kollektiven Tangoklassen nehme ich schon lange nicht mehr teil. Ab und zu ein Tangourlaub oder ein interessanter Workshop – das reicht… mir. Aber im freien Tanzen erinnere mich oft un- oder halbbewusst an Schritte/Figuren, die ich irgendwann in einem Kurs (kennen)gelernt und danach vergessen habe; manchmal kommen sogar Elemente wieder hoch, an denen ich im Druck des Unterrichts gescheitert bin. Um die sprichwörtlichen Basics in Schuss zu halten, gönne ich mir ab und an eine Sequenz von Einzelstunden.
Selbstverständlich kenne auch ich den kleinen inneren Tangostreber, der mehr möchte, als ich nach all’ meiner Erfahrung wollen sollte. Aber wenn ich bei Sinnen und sicherem Gefühl bin, dann weiß ich: Er hat in meinem Tango nichts zu verloren.
7 Comments
Schöne Betrachtung Thomas. Ja es gibt sie die Hochanspruchs- und Hochpräzisionstangoleute. Hängt eben vom Persönlichkeitstyp ab. Dabei ist das ungenaue und offene ja gerade der Reiz im Tsngo. Trotz des „ Strebens“
Wie wahr, Tango verleitet so schnell zu übertriebenem Ehrgeiz und soll doch eigentlich Freude bereiten. Ist das Streben im Tango bei Frauen vielleicht sogar stärker ausgeprägt als bei Männern wegen des stärkeren Wettbewerbs um Tanzpartner? Ist nur so ein Gedanke…
Danke für deine interessante Bemerkung, liebe Laura. Als Mann traut man sich ja heute kaum noch, einen nahe liegenden Gedanken wie diesen auszusprechen.
🙂 … wir erinnern uns: Herz zu Herz 🙂
Och, ich würde auch gern besser tanzen, als ich das jetzt tue. Aber meinen Tango vom Staub der Milonga reinwaschen find ich schon ziemlich schräg. Ich meine, als Bildhauer wasch ich mich jedesmal vom Staub meiner Steine rein. Das sollte genügen: -)
Für mich ist das meiste Bemühen im Tango darauf ausgerichtet für mich und meine Partnerinnen einen angenehmen Tanz gestalten zu können. Darauf läuft all die Technik doch letztlich hinaus. Mit guter Technik schmerzen meine Füße nicht, weil ich sie nicht mehr falsch belaste, sind mein Rücken, meine Schultern, meine Arme entspannt, stoße ich meine Partnerin nicht aus der Achse usw. Insofern ist Ungenauigkeit FÜR MICH kein (angenehmer) Reiz, sondern anstrengend. Das heißt nicht dass keine „Fehler“ passieren dürften, daraus entsteht oft etwas spannendes.
Noch mal zu den Tangotypen. Bei Fritz Riemann gibt es ja ein Persönlichkeitsmodell mit den 4 Grundbestrebungen. Menschen streben eher nach Nähe, oder Distanz, nach Wechsel oder Dauer/Beständigkeit. Ich glaube diesem Modell können wir dann “leicht” verschiedene Tangotypen zuordnen. Nähetypen: Das sind die Kuschler und Fummler, die sich wirklich in den anderen versenken können, gut im Abrazo sind. Tango als Körper und Seelenkontakt genießen und suchen. Tango evtl. auch als “Ersatz” für das was im Leben ungenügend da ist. Die Distanztypen: Das sind die, die immer einen Meter Abstand halten wollen, die sich streng an Regeln und Vorschriften halten und dabei eher dominant statt einfühlsam führen. Haben starre Vorstellungen von den Rollenmustern. Sind aber auch die, die wirklich klar führen und ein starkes Gegenüber sind.
Dauer/Beständigkeit: Die haben es ganz streng mit Richtig und Falsch, siehe hier auch manche Beiträge, die Streber, die ihre Tangoscharia immer im Kopf mit tragen, extreme Ansprüche an sich und die Anderen haben. Klare Regeln auf der Pista und sonst im Verhalten. Denen es ein Grauen ist, wenn es etwas chaotisch zugeht. Angenehm sind sie, weil sie eben doch etwas mehr auf Etikette achten. Wechsel: Das sind die kreativen leicht chaotischen Typen, brauchen immer was anderes an Menschen, an Lokalen und Musik, sind kreativ bis zur Beliebigkeit. Genießen das Besondere und sind äußerst kreativ bei der Musik und beim Tanzen. Regeln usw. sind ihnen ein Grauen. Davon hat jeder von uns etwas. So sind wir alle mehr oder weniger deutlich unterwegs und jedes hat seinen Reiz. Zusammen bilden wir die spezielle Tangogemeinde in Berlin.