Ich hatte mir angewöhnt, die jeweils neuen Ausgaben der “Tangodanza” https://www.tangodanza.de in diesem Blog zu besprechen und mit Videos zu illustrieren. Einmal ist diese Sitte meinem Corona-Blues zum Opfer gefallen, obwohl die Titelgeschichte von einem Lehrerpaar handelte, das ich kenne und schätze: Angela Sallat und Andreas Küttner http://www.almaenvuelo.de/shows.html – hier meine Lieblingsshow der beiden https://youtu.be/E1tbXGuTL2U. Bei der Nr. 1/2021 hab ich mich auf die Auseinandersetzung mit einem Artikel beschränkt, dessen kommentarlose Veröffentlichung ich nach wie vor unverantwortlich finde. http://kroestango.de/aktuelles/die-verquerdenker-sind-unter-uns.
Im Zorn über diesen Beitrag hätte ich beinahe die aktuelle Titelgeschichte vergessen, die ich überaus lesenswert finde: “Der Blick der Frau. Giselle Anne und ihr Unterricht aus Sicht der Geführten.” (TD 1/21ff.) Zur Klarstellung: Das heißt nicht, dass ich allem zustimme. Aber die beiden Protagonistinnen haben einen Link ins Netz gestellt, der zu einem recht gut lesbaren Faksimile sowie zu einer englischen Übersetzung des Artikels führt. Zur Beurteilung ist also ein Abonment nicht nötig. https://www.bouldertangostudio.com/giselleanddiana Über den Text hat sich in der bekannten, als “privat” deklarierten Facebookgruppe “KoKoTangoTango – Konstruktiv Kollegiale Tangogespräche!” https://www.facebook.com/groups/tangoforum/ eine lebhafte Debatte entsponnen.
Giselle Anne löckt in dem Artikel gleich mehrfach gegen den Stachel des deutschen Tango-Mainstreams. Hier die Zusammenfassung ihrer (aus meiner Sicht) zentralen These durch die TD samt ihrem Zitat:
“Die ewige Streitfrage der Tangogemeinde, ob dieses Kreuz der Frau geführt sei oder nicht, stellt sich nach Auffassung von Giselle Anne nicht: Das Kreuz ist Teil des Codes, Teil der Grammatik, und der Follower führt es aus, ohne zusätzliche Information des Leaders.. ‘Im gesamten Tanz ist dieser ´Code des Gehens´ kontinuierlich vorhanden’, erklärte Giselle, ‘es ist das Besondere am Tango – kein anderer Tanz besitzt diesen Code’… Es gibt also eine Basis, die nicht geführt werden muss und auf deren Grundlage wir tanzen können… Das befreit unglaublich! Und wirkt sich auf vielen Ebenen aus: Es macht den Tanz flüssiger, präziser, schnelle und koordinierter… “aber klar, für jemanden, der diese Struktur des Tango nicht kennt, muss jeder einzelne Schritt geführt werden. . Und natürlich kann man alles, was man möchte, führen. Niemand soll denken, wir seien gegen das Führen! Wir beschränken uns nur auf das Notwendige.” (TD S. 6/1/21)
Wie sehr das der hierzulande gängigen Auffassung zuwider läuft, wird an der Vehemenz des Kommentars einer Tänzerin deutlich. Sie wolle sauber geführt werden”, schreibt sie, nur so könne sie angemessen reagieren. Den nächsten Satz zitiere ich trotz der Privatheit der Gruppe ausnahmsweise wörtlich: “Irgendwelche Codes auszuführen, kommt für mich absolut nicht infrage.” (Fettung von mir, das Komma auch, T.K.) Ein Mann springt ihr bei: “Bitte keinen Code!” Jemand erinnerte sich daran, mit derlei Thesen vor Jahren traktiert worden zu sein und äußerte die Hoffnung, dass so etwas nicht wieder “in Mode” komme.
Dabei wird so getan, als sei Giselle Anne eine antiquierte Traditionalistin. Gegenfrage: Würde sie dann eine Unterrichtsfolge für den Tango aus der Sicht der Frau, respective der/des Folgenden entwickeln? Oder weiter: Hat sich mal jemand Videos angeschaut, auf denen sie tanzt oder gar ihre Partnerin Diana Cruz? Leider hab ich auf YT keinen Film von einem Tanz der beiden miteinander gefunden. Mir fällt allerdings, wie so oft, die Absolutheit auf, mit der die Argumente vorgetragen werden. Geht’s nicht a bisserl vorsichtiger, sodass Platz für den vagen Verdacht bleibt, die anderen könnten womöglich auch recht haben… wenigstens a bisserl?
Mir fehlt die Expertise eines Tangolehrers – und hoffe, mich fachlich nicht all zu sehr zu blamieren. Ich möchte hier nur paar Bemerkungen aus meiner eigenen Erfahrung als Tänzer auf dem Weg in den Tango machen: Ich hatte zwar (fast) nie Unterricht bei internationalen Hotshots, wohl aber bei verschiedenen Lehrern, die deren Lehre genossen hatten. Daher erinnere ich mich daran, mit durchaus unterschiedlichen Weisen in Berührung gekommen zu sein, wie das (Vor-)Kreuz der Dame (sorry: der/des Folgenden) zu führen sei. Darunter war auch die These, das Kreuz zu tanzen, beruhe auf einer Vereinbarung – und müsse, ja könne nicht geführt werden. Was anderes sind ein “Code” oder eine “Grammatik”? In meiner Tangogeschichte, war es eine bestimmte Stelle des Grundschritts, der “Base”. Giselle spricht vom “Code des Gehens”.
Ich werde den Teufel tun, mich zum Schiedsrichter aufzuspielen. Ich erinnere mich allerdings noch gut, wie schwer es mir beim Tanz mit Anfängerinnen fiel, sie ins Kreuz zu führen. Da mag an meiner Unfähigkeit gelegen haben. Aber ich finde, die These hat einiges für sich, dass es eine spontane Abwehr-Reaktion gegen das Kreuz gibt. Es führt nämlich zu einer instabilen Haltung. Ich habe diesen Reflex bei Anfängerinnen immer wieder erlebt. Ich find’s kein Wunder. Denn welcher Tänzer ist schon so umwerfend, dass jemand von ihm im Wortsinne umgeworfen werden möchte?
Meine These zur Güte lautet daher: Es hilft ungeheuer, wenn ein(e) Tanzpartner(in) weiß, dass es im Tango so etwas Seltsames gibt wie das Kreuz. Das erhöht die Bereitschaft, sich in diese Instabilität zu begeben. Fortgeschrittene TänzerInnen wissen um das Kreuz. Deshalb wird es im real existierenden Tango-Leben übrigens öfter getanzt als geführt. Denn das Kreuz gehört nun einmal zum “Code” des Tango.
PS: Auch Gerhard Riedl ist auf die Titelgeschichte der Tangodanza 1/21 gestoßen. Warum so spät? Weil ihm das Coverfoto nicht behagte, hat er das Heft mit der Rückseite nach oben gelagert. So seine Erklärung (sicher ironisch gemeint, gell…) Warum er auch den Text und die zugehörige Diskussion im Netz, ich sag’s mit meinen schlichten Worten: doof findet, erklärt er in gewohnter Ausführlichkeit: http://milongafuehrer.blogspot.com/2021/02/grobschlechtig-gefuhrte-kreuze.html
6 Comments
Das Kreuz mit dem Kreuz
Ich habe gelernt, dass frau immer wenn möglich kreuzt, es sei denn, man(n) HINDERT sie daran. Finde ich gut. Für mich wird’s schwierig, wenn frau partout NICHT kreuzen will. Ist aber auch kein Beinbruch (!), denn dann fällt sie halt in den Ocho Rückwärts, und man tut halt so, als sei das so gewollt.
Nicht gut kommt bei der Dame an, wenn man(n) es immer wieder versucht oder ihr gar SAGT „du musst jetzt kreuzen“ 😉
Wenn letztlich alle Schritte und Figuren, bis auf Adornos, der Frau geführt weren, gibt es doch keinen Grund ausgerechnet diesen komplizierten Schritt nicht zu führen. Also gehört ganz selbstverständlich auch das Kreuz geführt. Gerade das sauber und deutlich geführte Kreuz ist doch wichtige Voraussetzung für weitere interessante Schrittkombinationen beider Partner! Wie soll das denn mieinander funktionieren, wenn die Frau mal Kreuz mal nicht Kreuz ausführt, so ganz nach Laune, wie es ihr beliebt. Und wie ist es nach ocho cortado, macht sie da auch mal Kreuz mal nicht wie es ihr beliebt?
Tja, da scheint Giselle Anne doch Recht zu haben. Die etwas erfahrenere tangotanzende Frau weiß um den Code des Kreuzes in der Grammatik des Tango.
Hallo ihr Lieben,
ich hab den Artikel auch gelesen, und klar – es ist wie immer eine Frage des Standpunktes und erinnert mich ein bisschen an das US-amerikanische/Englische/Französische Begrüßen “How are U” “How do you do” “Ca va” – es gibt einen Code, was man Antworten MUSS – nämlich, dass es (gut) geht. Für viele ist es beruhigend, den Ablauf eines Gespräches direkt zu kennen. Persönlich (oder vielleicht ist es kulturell?) ziehe ich es es vor, auf die Frage nach meinem Befinden auch mit “nicht so toll gerade” antworten zu dürfen.
Und genauso finde ich es als Führende super, die Freiheit zu haben, meine:n Folgende:n sauber ins Kreuz zu führen oder auch nicht. Und als Folgende es eben auch zu spüren – oder nicht. Also Hinfühlen zu können.
Ironischerweise würde ich bei der Moulinette hingegen sagen, dass Folgende:r das ruhig mal brav abgehen darf, außer ich hindere sie/ihn dran… 😀 😀
Danke lieber Thomas, für die Anregung mal wieder über den Tango nachzudenken.
Was sich für mich als das Wichtigste herauskristallisiert hat, seit ich versuche die Grenze zwischen Führen und Folgen verschwimmen zu lassen ist folgendes:
Ich finde es schön wenn Führende.r UND Folgende.r dem anderen immer so gut zu hören, dass sie spüren können ob der Partner für einen Schritt, einen speziellen Schritt (Kreuz) oder eine Schrittfolge (Figur) bereit ist. Dieses Bereitsein bezieht sich auf das Timing, die Technik, das (Musik)Gefühl und selbst auf die Bereitschaft zu Nähe. Wenn dieses Zuhören vorhanden ist, überfällt mich meine Partnerin nicht wenn sie einen Vortwärtsschritt plötzlich in eine Cunita umwandelt. Umgekehrt lerne ich durch viel Übung zu spüren ob die Partnerin jetzt bereit ist ins Kreuz geführt zu werden. Wenn ich nicht bemerke, dass sie das nicht ist und ich es trotzdem tue, dann wird es holprig und unangenehm. So wie du es in deinem Artikel angedeutet hast. Je länger ich das übe, desto öfter gelingt es mir (also uns), uns nonverbal auf einen Schritt oder eine Sequenz zu einigen und das sind die größten Glücksmomente im Tango für mich, wenn es gelingt.
Zum Thema Kreuz allgemein möchte ich noch anfügen, dass ich es so erlebe, dass man sich, wenn man sich an die (mechanischen) Grundregeln der Tanztechnik hält, also Dissoziation, sowie vor, seit, rück, das Kreuz für den Folgenden nicht viel Interpretationsspielraum hat . Ich habe es mit guten Führenden, zum Beispiel mit Rafael Busch und Susanne Opitz erlebt, dass ich als Folgender keinerlei andere Möglichkeit hatte als ins Kreuz zu gehen obwohl die beiden nur minimalen Oberkörper Einsatz verwenden. Es wird einem eine Bewegung angeboten für die es nur eine logische und sich gut anfühlende Antwort gibt, welche man dann auch gerne eingeht. Würde ich mir in den Kopf setzen unbedingt etwas anderes zu machen wären Harmonie und Verbindung verloren.
Dies ist mein Erleben des Tangos und es gibt sicher andere Meinungen dazu. Vor allem wenn man gern offen tanzt kann man anders argumentieren.
Christian Birkholz
Dass ausgerechnet das „Einkreuzen“ der Frau als wichtigster Streitpunkt aus diesem Artikel hervorgeht, ist schon etwas seltsam. Dieses Thema scheint wohl das umstrittenste Thema im Tango zu sein.
Obwohl in diesem Artikel das „Einkreuzen“ sehr wohl als Teil dieses beschriebenen Lernsystem angedeutet wird, entdeckt wohl niemand die wirkliche Lösung. Die Lösung dieser Streitfrage ergibt sich nämlich aus dem System der sogenannten ‚molinete, von mir lieber als ‚circulción‘ bezeichnet, die man sowohl auf einem Punkt – um den Partner herum – als auch mit ihm/ihr – gemeinsam in Linie – tanzen kann, sei es nun gespiegelt oder versetzt.
Aber das sagt ja Giselle-Ann bereits.
Das Einkreuzen würde ich als „rückwärts getanztes Vorwärtskreuz“, als ‚frontcross’ bezeichnen, immer im Bezug zum Partner.
Das wurde in diesem Artikel übrigens vergessen zu erwähnen, nämlich dass sich die Begriffe ‚frontcross‘, ‚open step’ und ‚backcross‘ immer nur auf den Standpunkt zum/r Partner*in beziehen und erklären lassen.
Wenn die Frau diese ‚circulación“ als Grundgrammatik beherrscht, ist es für den Mann überflüssig ihn aufwändig zu führen.
Deshalb halte ich es für sinnlos, Anfänger/innen dieses „Einkreuzen“ beizubringen, wenn man ihnen nicht gleichzeitig das System der ‚circulación’ beibringt.
Gustavo & Gisell-Ann machen dies jedoch. (Und ich auch – seit Jahren)
Wenn aber den Lesern, dieses System vertraut wäre, würde auch die Diskussion über die „Führbarkeit“ des Kreuzes obsolet erscheinen.
Bequem führen lässt sich das Einkreuzen nämlich nur bei Partnerinnen, die das Einkreuzen als Bewegung bereits mehrmals getanzt haben. Und dabei bin ich bereit jede Wette einzugehen.
Um dieses Lernsystem zu verstehen, kann man für 20 $ bei Tangoboulder.co auch (freitags) einzelne Stunden buchen. Wirklich empfehlenswert.
Obendrein ist dieses System auch zur Analyse der choreografischen ‚Form‘ gedacht, aber nicht zum ‚Modus‘, was deshalb auch oft zum Missverständnis beiträgt. Bei Chicho Frumboli ließ deshalb das Kennenlernen dieses Codes nach eigenem Bekunden eine „Kreativitätsbombe“ platzen.