Als dieser Film heraus kam, war noch längst nicht klar, dass es ein Nachruf würde. Das SEXTETO MILONGUERO plante noch gemeinsam. Ein Album mit ausschließlich eigenen Kompositionen. Doch die Arbeit wurde unterbrochen. Erst durch den Weggang eines Musikers. Dann durch Corona. Javier Di Ciriaco nutzte die Gelegenheit – erst zur Reflexion. Dann zur Entscheidung. Er löste die Band auf, die er gegründet hat. Nun bleibt der Film als Dokument zur Erinnerung. Wer ihn gesehen hat, kann besser verstehen, warum der Musiker/Manager/Fahrer die Mehrfachbelastung nicht mehr ertragen mochte. Mit Ausnahme der Überschrift habe ich meinen Text aus dem Juli 2019 nicht verändert. Leider ist mein Link zur Komplettversion erloschen. Wer den Film sehen will, muss sich also am 27. August nach Schloss Seefeld am Ammersee aufmachen. Keine schlechte Vergnügungsreise. Mehr bei Karin Lüders auf Facebook. https://www.facebook.com/KarinLueders
Als erstes begegnen wir dem Star als Chauffeur: „Soll ich hier parken…?“ Javier Di Ciriaco wartet nicht auf die Antwort seiner Mitmusiker. Zwischen allerlei Gerümpel auf einem wenig einladenden Hinterhof bringt er den Tour-Bus einer der bekanntesten Tango-Bands der Welt zum Stehen. Kurzer Smalltalk mit dem freundlichen Veranstalter. Dann geht’s in die organisatorische Routine des Tour-Alltags. Soundcheck undsoweiter… Alles nach einem genau festgelegten, immer wieder wiederholten Reglement, damit das Ensemble den Kopf frei hat für seine eigentliche Tätigkeit: Die Musik. Denn nicht überall klappt alles so reibungsarm wie hier in Dresden, der ersten Station, auf die das “Sexteto Milonguero” uns mitnimmt.
Gepostet von Média Mánia Films am Freitag, 2. Februar 2018
“Joyride”, heißt der dokumentarische “Roadmovie”, den die ungarische Regisseurin Eszter Nordin gedreht und gemeinsam mit dem charismatischen Sänger produziert hat. “Spritztour” – eine gelinde Untertreibung für eine anstrengende Tournee durch mehrere Länder. Schnell bekommen wir mit: Es ist ein Genuss, dem “Sexteto” zu lauschen, in seine Musik versunken zu tanzen. Aber ein reines Vergnügung ist die Fahrt durch die Welt des Tango für die MusikerInnen keineswegs immer – selbst wenn sie ller Orten von einem begeisterten Publikum empfangen werden. Über die nstrengungen, die eine solche Tour mit sich bringt, können auch die kleinen Faxen nicht hinweg täuschen, die Javier und Co. abseits der Bühne im Dialog mit der Kamera immer wieder einstreuen.
Die Band sei „ein kleines Unternehmen“, sagt der Sänger in einer der ersten Sequenzen des Films. “Und ich bin sein Manager“. Man könnte such sagen: Er ist Bandleader, Star und Mädchen für alles in einer Person. Er will es so. Oder vielleicht besser: Er kann nicht anders. Denn Javier ist ein Perfektionist, der so wenig wie möglich dem Zufall überlassen mag. Auf diese Weise hat er eine Band nach seinen Vorstellungen geformt. Ihnen folgt er rastlos – ohne immer genau zu wissen, wohin sie ihn führen. „Das Leben zeigt mir neue Wege …”, heißt es programmatisch im ersten Stück, das wir im Film erleben. Den Preis sehen wir in seinem abgespannten Gesicht, wenn der Film ihn einmal abseits der Bühne zeigt. Und im Line-Up der Gruppe: Von den Gründungsmitgliedern sind nur noch zwei dabei – der Chef und die Geigerin Marisol Canessa.
“Das Leben zeigt mir neue Wege, unsicher, verschieden, ohne Ziel. Sehnsucht, Verlangen, um die Welt zu durchwandern. Meine Träume führen mich zu meinen neuen Zielen.
Heute bin ich aufgewacht mit der seltsamen Empfindung, nicht zu wissen, wie ich wieder träumen kann. Ich will keinen einzigen Moment aufhören mit meinen Sehnsüchten. Vielleicht falle ich, aber ich will wieder träumen.
Mein Schicksal in die Hand nehmen, meine Ängste ertragen, einen Weg finden und fliegen… zu neuen Ufern ohne Angst, fühle ich mich so lebendig.
Durch die Hindernisse der Zeiten suche ich meine eigene Wahrheit.” (**)
Die Konstellation ist durchaus ungewöhnlich. In der „Goldenen Epoche“ des Tango waren die Sänger „normale“ Mitglieder eines Orchesters. Wie ein Geiger oder ein Bandoneonist. Zunächst rangierten sie sogar als Musiker zweiter Klasse. In der Funktion der „Estrebilistas“ steuerten sie nur den Refrain eines Titels bei. Doch mit der Zeit traten sie immer mehr in den Vordergrund. Irgendwann waren sie die Stars, die den Orchesterleitern zum Teil die Show stahlen – besonders bei den Frauen. Es heißt, der Gesang setze in den meisten Tangos erst deshalb so spät ein, weil die Damen die Angewohnheit entwickelten, bei ihrem Einsatz auf der Pista stehen zu bleiben, statt mit dem Tanz zu beginnen. Ihre Lieblinge an zu schmachten, war ihnen wichtiger. Von dem, was wir heute “Ronda” nennen, konnte dann keine Rede sein. Ein Stück des Zaubers, den auch Javier Di Chiriaco ausstrahlt, zeigt Eszter Nordin in den Augen seiner Zuhörerinnen bei einem Auftritt. Dass die meisten von ihnen hier in Europas seine Texte verstehen, ist eher unwahrscheinlich. Aber seine Emotionen, sein Charme – die kommen bei ihnen an.
Die populärsten Sänger machten sich irgendwann selbständig. Meist mussten sie jedoch feststellen, dass es so einfach nicht ist, als „Star“ auf sich allein gestellt, ihre Popularität zu halten, geschweige denn die musikalische Qualität. Dazu bedurfte es auch eines erstklassigen und disziplinierten Ensembles. Als etwa Francisco Fiorentino sich von Anibal Troilo lossagte, fand er in Astor Piazzolla zwar schnell einen neuen Bandleader. Aber nicht für lange. Denn der hatte keine Lust, statt nach „Pichucos“ nun nach Fiorentinos Pfeife zu tanzen. Nur die wenigsten Sänger blieben als Solisten die unangefochtenen Stars, die sie zuvor in ihren Orchestern gewesen waren. Dass einer von ihnen gleichzeitig als Bandleader fungierte, wie Javier es tut, ist mir nicht bekannt.
Unter den zeitgenössischen Tango-Ensembles nimmt das „Sexteto Milonguero“ für mich auch deshalb eine besondere Rolle ein, weil die Musikerlnnen frühzeitig begonnen haben, nicht bloß Klassiker aus den „goldenen Zeiten“ möglichst originalgetreu zu kopieren. Vielmehr gaben sie ihnen einen im Lauf der Zeit immer deutlicher erkennbaren eigenen Sound – selbst wenn die unverwechselbare Stimme des Sängers gerade nicht zu hören ist. Ich hoffe, in meiner Begeisterung für die Gruppe nicht zu hoch zu greifen, wenn ich sie in dieser Hinsicht mit dem „Sexteto Mayor“ um die Bandoneonisten Jose Libertella und Luis Stazo vergleiche. Wer beide Gruppen ein paarmal gehört hat, erkennt zuverlässig ihre musikalische „Duftmarke“.
Es ist „embeded journalism“, was wir in diesem Film erleben. Wir begleiten die Band mit ihrer Erlaubnis hinter die Bühne. Aber wir bekommen nichts zu sehen, was wir nicht sehen sollen. Das ließe der perfektionistische Co-Produzent Javier nicht zu. Dass es dennoch keine langweilige Reklame-Show wird, dafür sorgt er als Hauptdarsteller, genauer gesagt: Sein Gesicht. Ihm können wir auch das meiste von dem ablesen, was er nicht ausspricht: All’ den Stress und den Frust, den eine solche Tour mit sich bringt. Die mühevolle Anstrengung etwa, ruhig zu bleiben, wenn eine örtliche Veranstalterin nicht so professionell agiert, wie er es gern hätte.
Doch wenn er dann auf der Bühne steht, ist er wie ausgewechselt. Ganz in seinem Element. Bei sich, bei seiner Musik, nicht zuletzt: bei seinem Publikum. Javier Di Ciriaco ist, was wir im Deutschen gelegentlich etwas rustikal eine “Rampensau” nennen. Dennoch flippt er nie aus. Mich fasziniert besonders, wie er persönliche Authentizität mit akribischer Kontrolle über sein Handwerkszeug vereint. Auch im Moment größter Bühnenleidenschaft weiß er, jedenfalls nach meiner Wahrnehmung, immer was er tut.
Wäre er gern ein Solo-Star wie andere vor ihm seit dem Ende der Epoca d’Oro? Er kennt die Geschichte des Tango, seiner Orchestas und seiner Sänger nur zu gut. Er kennt den aktuell nicht überwältigend großen Markt für seine Musik. Trotzdem hat Javier eine CD als Solist aufgenommen. (***) Eine Low-Budget-Produktion. Interessant, zuweilen Herz zerreißend schön. Aber der große Wurf? Den Durchbruch ohne Band, geschweige denn außerhalb der Tango-Szene hat sie ihm jedenfalls nicht gebracht. Sicher wären die anderen fünf nichts ohne ihn. Aber ohne sie ist auch Javier di Ciriaco nicht jene Erfolgs-Marke, die er mit dem “Sexteto Milonguero” geschaffen hat. Demnächst soll ein neues Album der Gruppe herauskommen – ausschließlich mit Eigenkompositionen. Ich bin gespannt, wie weit sie sich dabei musikalisch vorwagen zu neuen Ufern.
(*) Der Film wurde bereits auf der Europa-Tournee 2016 zum zehnjährigen Bestehen des Ensembles gedreht. Die deutsche Premiere fand jedoch erst beim Karlsruher Tango-Festival Anfang Juni dieses Jahres statt. Zu Beginn und Schluss dieses Artikels zeige ich zwei verschiedene Trailer-Versionen. Dazwischen sind Videos von Stücken zu sehen, die im Beitrag vorkommen oder die mir besonders gut gefallen. “Tu el cielo y tu”, ist der erste Titel, den die Musikerlnnen nach ihrer Gründung 2006 gemeinsam einstudiert haben. Eine ältere Aufnahme von hinreichender Qualität, als die hier präsentiert, habe ich leider nicht gefunden. Reizvoll finde ich, dass Javier in diesem Video und einem weiteren noch mit seiner alten Lockenpracht zu sehen ist.
(**) Die (hoffentlich nicht zu) freie Übertragung nach den englischen Untertiteln stammt von mir.
(***) “Intimo” heißt sie. Hier singt Javier zur Gitarre oder wird von dem Pianisten Burkhard Heßler begleitet. Außer eigenen Kompositionen und klassischen Tangos enthält sie auch Stücke von Mariah Carey und Elton John. (http://www.tanguentro.com )
2 Comments
Mit wachen Augen und Ohren beobachtet, feinsinnig in Worte gegossen, so nimmt uns die anschauliche Rezension dieses Roadmovies mit auf eine Spritztour durch die heutige musikalische Welt des Tango Argentino und macht Lust auf Livemusik, wie auch die Leinwandinterpretation des Sexteto Milonguero…danke Thomas für den direkten und schnörkellosen JOYRIDE…!
Danke lieber Jürgen. Bei so viel Kompliment werd’ ich ja rot… Wäre schön, wenn der Text – und der Film – Lust machten auf mehr Livemusik in unseren Milongas.