Wer hat schon einmal versucht, 82 Schoko-Trüffel nach einander zu essen? Ein bis zwei zum Kaffee, vielleicht auch drei oder mit übermütiger Gier auch vier – mehr bekommt (um mit Martin Luther zu sprechen) weder ihm noch ihr. Jedenfalls nicht mir. Ähnlich den leckeren Pralinen verhält es sich mit dem literarischen Naschwerk von Lea Martin – 82 Kolumnen, jeweils kaum eineinhalb Buchseiten lang. Am Stück verschlungen, liegen mir ihre (Selbst-)Beobachtungen und Bemerkungen in Sachen Tango eher schwer im Magen. Denn sie haben es in sich. Genaues Hinschauen. Tiefe. Reflexion.
Doch der eng umrissene Gegenstand macht Redundanzen nahezu unvermeidlich. Trüffel bleiben Trüffel. Daher finde Ich, man sollte sie in kleinen Dosen zu sich nehmen. Dann sind sie ein Hochgenuss, weil man den Nuancen jeder einzelnen Köstlichkeit genauer und in aller Ruhe nach schmecken kann. Beim Blick auf den Nachttisch oder die kleine Ablage neben dem Lieblingssessel dürfen wir uns dann umso länger freuen: Ich hab ja noch was übrig! Deshalb nenne ich “Tangodreams” ein “Buch zum beiseite Legen”… um es mit immer wieder neuem Vergnügen immer wieder zur Hand zu nehmen.
Lea Martin, Tango Dreams, Joanmartin Literaturverlag, Berlin 2019, 171 S. , 14,90 Euro. Die Autorin stellt ihr Buch gern in öffentlichen Lesungen vor – auch mit Musikern und/oder einem DJ. Termine und Anfragen unter joanmartin.de.
Für den Rezensenten ist das ein ungewohntes Verfahren. Ein derart schmales Bändchen verschlingt er normalerweise in zwei bis drei Happen. Aber dazu sind die je rund eineinhalbseitigen Texte nicht gemacht. Sorgfältig formulierte Miniaturen aus der Sicht einer leidenschaftlichen Tänzerin. Normalerweise vergeht ein Monat, ehe eine neue Kolumne im Berliner Termin-Portal “tango-argentino-online.com” erscheint. Dort hab ich sie, ich gesteh’s, lange übersehen, weil ich nur schnöde nach Terminen geschaut habe. Außerdem pflegt Lea Martin nicht so intensiv eine Fangemeinde auf Facebook, wie es die weit häufiger publizierenden Autorinnen von “BerlinTangoVibes” tun.
In ihren Texten nimmt uns die Autorin zunächst mit auf ihren Weg in die Tangoszene. Sie beschreibt die Probleme der Neulinge – im Unterricht wie in den Milongas. Dabei geht es nicht zuletzt um die Pflege des scheuen Wesens mit Namen “Tanzpartner”. Möge der ein oder andere Mann sich in dem ein oder anderen hier nicht ganz vorteilhaft dargestellten Geschlechtsgenossen wieder erkennen – und daraus lernen! Wieder erkennen werden die meisten von uns in ihren Geschichten auch eigene Verhaltensweisen – mit einem Schmunzeln oder einem Kopfschütteln oder mit einem nachdenklichen Fragezeichen im Hinterkopf.
Lea Martin schreibt stets aus der Perspektive einer Frau. Dennoch können wir Männer uns in ihren Schilderungen wiederfinden (wenngleich nicht immer gern) und ihre Schlussfolgerungen nachvollziehen. Allerdings schaut sie genauer in sich hinein und gibt mehr von sich preis, als das wohl die meisten Männer wagen würden. Mich eingeschlossen. Exhibitionismus ist ihr jedoch fremd. Die emotionalen Gefährdungen durch den Tango formuliert sie deutlich, aber diskret. Dabei bleibt die Autorin immer konkret. Nie gerät sie ins Theoretisieren. Geschweige denn: Schwadronieren. Auch die Lyrikerin in sich behält sie ebenso locker wie entschieden im Griff.
Ich will an dieser Stelle nur eine längere Passage fast ungekürzt wiedergeben, die Geheimnis und Grenzen der Zauberkraft unseres Tanzes wohl formuliert auf den Begriff bringt:
“Der Tango, der süchtig macht, probiert sich aus, und das heißt, dass er einen tänzerischen Kontakt riskiert, der vieles in den Schatten stellt, was unseren Alltag prägt… Tango entfesselt eine gewaltige Energie. Und er macht dünnhäutig. Man glaubt in gottweißwie verbundene Seelen zu schauen. Und ist ernüchtert, wenn sich die nächtliche Nähe bei Tageslicht als Täuschung der Sinne entpuppt. Die Ernüchterung wird mit noch mehr Tango kompensiert, doch der Glanz des Tango bleibt flüchtig. Er strahlt solange wir ihn tanzen. Leidenschaftlich, unverbindlich. Die Unverbindlichkeit ist der Nährboden der Sucht. Wer im Tango Nähe sucht, ist in Gefahr. Denn die Nähe im Tango ist ein Spiel, das keine echte Nähe ersetzt. Diese beginnt erst, wenn die Milongas vorbei sind.”
Damit lade ich zum Stöbern ein. Die Texte sind zwar nummeriert. Aber nur die wenigsten schließen direkt an einander an. Bei der Orientierung hilft das herrlich altmodische rote Lesebändchen. Der Einband des Buches ist in klassischem Tango-Schwarz gehalten – auf dem Cover die Draufsicht einer (fast) klassischen Tango-Umarmung. Warum nur fast? Die linke Hand des Mannes schließt nicht die rechte der Frau ein. Vielmehr umklammert diese seinen Daumen – eine hierzulande nicht seltene Angewohnheit von Tänzerinnen, die einen allzu festen Griff ihres Partners vermeiden wollen. In klassischen Tango-Kreisen von Buenos Aires gilt diese Geste als… nun ja, eher unschicklich.
(*) “Adios Corazon” – Diesem wunderschönen Tango von Fulvio Salamanca mit dem Sänger Armando Guerrico hat Lea Martin eine gleichnamige Kolumne gewidmet. Es zählt auch zu meinen Lieblingsstücken. Deshalb dient er hier zu akustischen Illustration.
2 Comments
Danke für diese kleine Rezension.
Das Stück von Salamanca/Guerrico gehört auch zu meinen Favoriten.
Der zweite Teil des Zitats hat mir sehr gefallen. Dennoch werde ich dieses Buch nicht kaufen. Denn ich glaube oder befürchte die meisten Gedanken schon selber gehabt zu haben. Ausserdem – und das soll mitnichten eine Kritik zum Buch sein – zupft Tango an viel mehr Seiten unserer Seelen als uns lieb ist. Mein Grossvater mütterlicherseits ist in Buenos Aires geboren und mein Vater weckte in mir die Schönheit der Musik und der Malerei.
Wenn ich ein gelungenes Tango-Arrangement höre und wenn ich eine Filete-Illustration sehe, so geht mein Herz auf Reisen, die vermutlich viele Tango-Cracks niemals imaginieren werden. Tango ist irgendwann eine Reise nach Argentinien, wenngleich Argentinien kängst nicht nur Tango ist, sondern weit mehr, damals und heute sowieso.
Ich habe diese kulturgeladene Nation lieben gelernt und ich verwette einen Hunderter, dass die meisten Tangueros den ehemaligen Rock-Musiker und Tango-Förderer Litto Nebbia nicht kennen. Auch ich kenne vieles noch nicht. Warum schreibe ich das alles? Weil Tango, zumindest bei mir und vermutlich bei vielen anderen Menschen, das Tor zu einer lateinischen Kultur Südamerikas ist, weil Tango die Geschichte der Europäischen Immigranten ist, weil Tango unsere Sensibilität erweckt. Dies hat die Autorin in einem bestimmten Kontext sehr schön formuliert.
Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass Tango eine (von mehreren) Möglichkeit ist, eine Zeitreise zu tätigen in eine Welt, als die Menschen sich noch mit sich selber beschäftigt haben, was heute mitnichten der Fall ist. Ich schätze Internet und viele neue Möglichkeiten, aber ich tue mich sehr schwer mit der allgemeinen Hektik und Unverbindlichkeit. Just im Tango ist Hektik und Unverbindlichkeit nicht möglich. In der Kunst den 20er, 30er, 40er, 50er war das auch sonstwo nicht möglich (davon möchte ich dezidiert die geo-politischen Verwerfungen und Tragödien ausnehmen). Die Kunst der ersten Hälfte unserers Jahrhunderts offenbart sich in seiner Unendlichkeit und Tiefe in unzähligen Liedern und Werken. Ich wähle den grossen Klassiker “Lilly Marlen”, den sogar die Soldaten beidseits der Fronten liebten. Genau so ist es mit Kunstrichtungen wie dem Tango, er transzendiert unseren Augenblick und er transzendiert sogar die Kulturen. Denn wenn ich in BA weile, tanze ich mit Frauen aus Südkorea, aus Frankreich, aus den USA oder aus Südamerika. Ich fühle mich eins mit allen Menschen auf dieser Erde.
Da ich eben ein paar Fässser aufgemacht habe, muss ich nochmals zum Ausgangspunkt zurück. Ja, es darf über Tango geschrieben werden. Viel mehr noch, vor allem für alle Menschen, die dieses schöne Abenteuer noch nicht gewagt haben. So viele Ebenen, so viele Gedanken und so viel Selbsterkenntnis.
Ich schliess bewust mit einem Nicht-Tango ab und mit einer fantastischen Sängerin, die zu den Feinden eines pervertierten Systems gehörte, das seine eigenen Kinder verheizte, ein Lied, das etwas ausdrückt was damals und heute allen Männern und Frauen gemeinsam war, die Sehnsucht nach der/dem Liebsten. Kein Kitsch, sondern Realität gemacht aus Sehnsucht und Wünschen. Das ist kein Paradoxon. Manchmal wird der eine oder andere Wunsch auch wahr. Ich tanze Tango nicht um eine Eroberung zu tätigen, ich tanze Tango weil ich mein Glück mit anderen Menschen teilen möchte.
https://www.youtube.com/watch?v=ZSMuTm649Hk
Lieber Thomas danke für die respektvolle und Fabulierfreudige Rezension. Nun ich bin leider nicht so einer, der Trüffelkonfekt so kontrolliert inhalieren kann. Da gerate ich schon mal in Trance und tauche in das warm-süße Schokoladenbad ein. Zumal ich in der Abgeschiedenheit eines Klosters äußerst sensibilisiert bin. Eher springend und wählerisch entlang der aussagekräftigen Überschriften.
Du hast Recht, wenn Du schreibst, dass Lea nicht, wie es zum Teil heute modern ist, exhibitionistisch Ihre verwirrenden Erfahrungen preis gibt. Und mir will es so erscheinen, dass Lea Ihre äußerst existentiellen persönlichen Erfahrungen emotional und dokumentarisch distanziert, im besten Sinne des Wortes schamlos und intim zur Verfügung stellt. Sie geradezu aus sich herauswürgt. Ich bin dann besorgt über so viel Verletzlichkeit und Offenheit, die sie preis gibt.
Für mich hat das Buch zwei wichtige “Wirkungen”:
Frauen können hier anschauen, mit welchen Ambivalenzen, Sehnsüchten und Unsicherheiten eine Frau bei Eintreten in den Tango die Tangoscene, beim späteren Sein in der Tangoscene und im Tango, konfrontiert sein kann. Lea seziert umfassend und detailliert ihr inneres Theater zwischen Lust und Angst. Frauen können das “sharing” erleben, weil sie hier fast therapeutisch und auf langem Wege im Prozess das erleben und nachlesen können, von dem sie vielleicht denken, dieses Problem hätten sie nur alleine.
Lea appelliert indirekt an den Mut und die Ausdauer der Frauen, geduldig diesen Weg mit all den Ambivalenzen, Erkenntnissen und Krisen zu gehen. Mit den Selbstgeißelungen aufzuhören. Sich selber anzunehmen mit all den hellen und dunklen Seiten. Yo soy assi! wie Tita Merello so aggresiv wie selbstbewußt formuliert.
Männer/Führende andererseits können aus den feinsinnigen, mutigen und äußerst persönlichen Selbstgesprächen viel darüber lernen, was möglicherweise in dem Menschen, der Frau gerade passiert, mit der sie gerade tanzen. Was sicher nicht gerade beruhigend ist, jedoch dazu ermuntert sowohl respektvoll als auch klar im Kontakt zu sein.
Bei aller -manchmal etwas schematischen- Kritik an den “Männern”, die es als Einheit aus meiner Sicht genau so wenig gibt, wie die “Frauen”, kann ich als Mann doch das natürlich auch nur widersprüchliche Fremdbild von Lea als Männercollage zusammen tragen. Do´s und Don´ts. So wäre es schön, so will ich es auf kennen Fall. Auch dies macht es Männern nun, ihre eigene Ambivalenz betrachtend, auch nicht gerade leichter.
So bleibt auch hier nur, deutlicher sicher selber anzuschauen. Sich zu klären, was will ich heute zu der Uhrzeit mit der Stimmung gerade mit den konkreten Frau tanzen. Ich lese die Ermunterung heraus gut und reflektiert sich selber zu sein und von dort ausgehend in einen offenen, klaren und feinfühligen Kontakt mit der Frau zu gehen, die ich gerade umarme. Früher hatte man ja noch gemeinsam an der Uni die blauen Bände vom Bärtigen gelesen. Wäre doch eine spannende Form gemeinsam dieses Buch lesen und darüber im Austausch zu sein. Eine Kolumne hat solch eine Essenz, dass sie für einen Abend reichen würde. Der Tiefengehalt und das Abgründige des Buches von Lea würde sicher für einige hitzige Abende tragen. Auf jeden Fall ein üppiges und barockes Buch, dem ich viel Verbreitung in der Tangoscene wünsche und von dem ich mir erhoffe, dass der Gefahr der Sprachlosigkeit zwischen Männern und Frauen im Tango etwas entgegen gesetzt wird. Let´s talk about Tango.
Gerne verbreite ich das Buch in meiner Milonga.
Danke an Dich Thomas. Danke an Lea für dieses mutige und schmerzhaft präzise Buch, das viel Lust macht, den Tango noch bewusster zu genießen und zu erkunden.
DJ Fridolin el tigre Viejo