Erinnerungen und Reflexionen einer reisenden Tänzerin zwischen Buenos Aires und Berlin. Ein Gastbeitrag von Martina Hoppe-Großhennig. Das Bild zeigt sie im Salon Canning mit Sergio, dem guten Tanzgeist der Berliner Reisegruppe, an der auch ich teilgenommen habe. http://kroestango.de/aktuelles/mi-buenos-aires-querido/
Frisch zurückgekehrt von einer vielfältigen und eindrucksvollen Tangoreise nach Buenos Aires besuche ich eine Berliner Milonga. Es wuselt, tanzt, umarmt sich, man trinkt – oft alkoholfrei, unterhält sich, scherzt, schaut neutral, erwartungsvoll oder pausenbedürftig in die Runde, reibt den Staub von den Schuhen oder erinnert sich. Wie ich jetzt.
Besonders fasziniert hatte mich in Buenos Aires auf einer traditionellen Milonga, wie
die gegenseitige Einladung zum gemeinsamen Tanz zelebriert wurde. Und hätte ich die Spielregeln nicht gekannt, wäre ich im nonverbalen magischen Geschehen orientierungslos gewesen, wäre auf meinem deutschen Fettnäpfchen wie ein Teenager sitzen geblieben und hätte unendlich gewartet, dass irgendein Traumtänzer zu mir kommt, einen tiefen Diener macht wie im notwendigen Tanzkurs vor dem Abi-Ball vor einem halben Jahrhundert. Und ich hätte den dann nehmen müssen, entweder froh, überhaupt einen abzubekommen oder zu nett, um einen Korb zu geben. Das spielte sich so zwischen Pein und peinlich, Frauenraub oder Königskrönung ab, es war für beide ein richtig
komisches Gesellschaftsspiel.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus: Martina Hoppe-Großhennig, Leben ist Tango, Tangoenergetik für den Alltag, Innehalten – Ausrichten – Vertrauen, Verlag Agentur Altepost 2015, S. 161ff., 18 Euro Eine kurze Besprechung folgt im Anschluss an diesen Text.
Angekommen im großen Tanzsalon in Buenos Aires mit dem alten Charme der 30er Jahre bleibt mein Blick auf einem voluminösen Belüftungsrohr hängen. Da hängt ein leicht vergilbtes Plakat, auf dem, gleich auf deutsch mit übersetzt, schwarz auf weiß zu lesen ist: „Dios está por todas partes, pero atiende en Buenos Aires.“ „Gott ist überall – aber seine Sprechzeiten hat er in Buenos Aires (Volksmund).“
Ja wie, was ist das denn für eine Einladung? Das wollen wir doch mal sehen!‘, denke ich etwas
oberflächlich und keck, gilt doch heute mein besonderes Interesse der Einladung, Begrüßung und
Begegnung, diesem traditionellen Tangocode. Das möchte ich erleben, mich darauf einlassen, bin
schon ganz neugierig und gespannt, und lasse mich auf einem Stuhl in der Nähe meiner Gruppe
nieder, um mich in Ruhe und offen umzuschauen.
Von einer Seite des großen Tanzsaales zur anderen schwingt eine sehr fokussierte Energie hin und
her, deren männliche und weibliche Sender eine aufmerksame, zielgerichtete Körpersprache
ausdrücken, ja zu funken scheinen. Ich bin bereit und lasse mich auf dieses Ritual ein. Es fühlt sich für michhttps://youtu.be/Pb9Hv9lw5Tw gut an, dass ich als Dame beginne – mit der Mirada, meinem Blick zu ihm, dem Wunschtänzer für unsere nächsten drei Tangos, der sogenannten Tanda.
Also richte ich mich in meiner Sitzposition auf, erhebe meinen Blick über die volle Tanzfläche hinweg. Dort stehen einige Männer unterschiedlichen Alters nebeneinander – mit unauffällig coolen Bodyguard-Blicken, scheinbar ohne Rührung den Saal absuchend genau dort, wo ich mit meiner etwas verteilten Gruppe sitze. Einer von ihnen hatte schon harmonisch mit meiner Freundin getanzt, das sah doch vertrauenerweckend aus, dem würde ich gerne mit meinen Augen die Nachricht posten: Komm, tanz mit mir!
Ich versuche meinen Blick zu fokussieren, aber verflixt, meine Altersweitsichtigkeit ist doch noch
nicht so weit gereift, dass ich genau erkennen könnte, ob er mich denn nun gesehen hat. Und der
daneben schaut auch in meine Richtung. Fernsichtbrille aus der Tasche kramen geht jetzt gar nicht.
Ich stelle mich cool, lasse meinen Blick weiter schweifen zu einem einzelnen Tanguero, der lässig an eine Säule gelehnt steht, wahrscheinlich auch ein guter Tänzer, das wäre doch super mit dem. Also halte ich meine Augen auf ihn gerichtet, lächle offen und freundlich, mal sehen, was passiert.
Trotz wogender Tanzfläche und lauter Live-Musik spüre ich gleichzeitig wenige Momente von
unglaublicher Stille, in denen sich die Augen suchen, finden, begegnen. Es brizzelt quer durch den
Raum, dann sind wir auf Sendung und Empfang. Er macht einen Cabeceo zu mir, ein nur für einen
kurzen Moment fragendes, dann freundliches, eindeutiges Nicken mit dem Kopf, das ich über unser
unsichtbares Band kaum merklich erwidere. Er löst sich männlich entspannt von der Säule und geht am Rande der Tanzfläche auf meine Seite zu, Zeit genug für mich, dass ich mich sicherheitshalber umsehe nach anderen Damen, die gemeint sein könnten.
Meine Freundin neben mir hat jemand anderen auf der Hotline, aber hinter mir sitzen drei
argentinische, korpulente, schön geschminkte und selbstbewusste Frauen, sie könnten Mutter,
Tochter und Enkelin sein. Na das kann ja spannend werden. Schon treffen zwei Tänzer mit stolz gemäßigten und männlich klaren Schritten gleichzeitig für fünf Frauen ein. Während es in mir die Körpersprache der beiden lesen möchte, welche von uns denn nun gemeint ist, erfasst mein Ausgewählter mich wieder mit seinem Blick, nicht ohne vorher den Mann an meiner anderen Seite blitzschnell mit den Augen zu streifen – fragend, sicherheitshalber. Es könnte ja der Ehemann sein. Das ist er auch, aber da wir eindeutig in einer Gruppe miteinander hier sind, ist das kein Problem.
Nun steht der Tanguero also vor mir, ich bin gemeint, ein gutes Gefühl. Ruhig einladend neigt sich
sein Arm zu mir. Ich erhebe mich elegant und richte mich nun selbstbewusst auf. Wir stehen
voreinander in einem Abstand, in dem wir uns gerade noch ganz wahrnehmen können und schauen
uns wohlwollend freundlich an. Für einen sich wunderbar dehnenden Moment genieße ich die Ruhe,
den Respekt, die Würde in dieser Begegnung zweier Menschen auf Augenhöhe, aus
unterschiedlichen Kulturen und auch anderem Tangobackground.
Wir sind uns fremd und doch nah und bereit, aus dem Ich und Du ein Wir zu machen, uns einander in unseren Qualitäten zu geben, etwas Gemeinsames im Vertrauen zu gestalten, auch das tangotypische Unvorhersehbare. Ich habe Mut, Lust, bin vertrauensvoll und heiter gestimmt. Ein kurzes Begrüßungsgespräch und schon zelebrieren wir behutsam und feierlich den Abrazo, die Umarmung. Während wir Nähe und Distanz erspüren und austarieren, entsteht ein Feld von Zuwendung und Hingabe.
Ich spüre, dass wir beide gleichzeitig ein- und ausatmen, tief und leicht, wie eine Einstimmung in die Dur-Tonart des gemeinsamen JA. Während er uns geschickt und rücksichtsvoll in die Fließrichtung der Tangopaare einfädelt, sehe ich aus dem Augenwinkel meine Freundin da sitzen, souverän, gelassen, freundlich in den Tanzsaal blickend, gefasst. Der andere Tanguero hatte wohl doch nicht sie gemeint und schlängelt sich gerade an meinem leeren Stuhl vorbei auf die Tanzfläche mit einer der argentinischen Damen. Alles gut. Ein Königsspiel.
Während ich mich wohlig erinnere, tippt mir ein Bekannter auf die Schulter. „Hallo, wie geht´s?“ Ich
zucke kurz, ach ja, ich bin in Berlin.
In der Tangoszene live wie von Bloggerinnen und Bloggern läuft wellenmäßig ein „Cabeceo-Streit“
durch. Dieser alte „überlebte“ Tangokult von Augenzwinkern und Kopfnicken! „Korb einfangen“,
oder gleich zwei „an der Hacke haben“! Geht übrigens Männern wie Frauen so. Opfer- oder
Machomythen? Oder einfach auf „Hallo!“ anspringen? Forsch auf die Leute zugehen? Ohne mich in
die Diskussion zu verstricken… für mich hat dieser Kult in seiner Tiefe Kultur. Beziehungskultur von Ich und Du: Sich anblicken, einladen, einverstanden sein, sich begegnen, in gemessener Ruhe voreinander aufrecht stehen, miteinander reden in Respekt und Vorfreude, sich berühren, umarmen, tanzen – für eine stimmige Weile.
Im schnelllebigen, abgelenkten, gewohnten, sicheren, „eingespielten“ Beziehungsalltag in Familie
und auf Arbeit „begegnen“ wir uns oft nebenher, nebeneinanderher. Nötig ist sicher vieles, was jeder
Einzelne zu erledigen und durchzutanzen hat. Aber bei sich und füreinander anzukommen, sich für einen Moment einzustimmen wäre eine prima Alternative zum flüchtigen „Hallo“ samt eventuell erfühltem Abstempeln mit schnellem Küsschen auf die Wange. Tangoenergetik kann uns die wohligen Wirkungen einer stimmigen Begrüßungskultur zwischen Ich und Du spüren lassen. Begrüßung ist die erste Form der Berührung. Hallo? Wie geht´s? Grüß Gott!
Schauen wir genauer. Lassen wir Begegnungen wie diese im Tango, in denen wir uns aufeinander
aufmerksam machen, beziehen, uns sehen und wirklich meinen, in Slow-Motion in den Alltag fließen, dann erfahren wir Slow-Emotions, die uns guttun, weiten, heilsam und nährend sein können.
Im Alltag jedoch praktizieren und erfahren wir oft Begegnungen im Zeitraffer: ein „Hallo“ an der
Kasse, zum Bürotisch, oder in die Wohnung gerufen – mit niedrigem Anredepotenzial. Haben Kinder, Ehepartner, Freunde einen Namen, Augen, die sich treffen möchten, und im gesehen Werden ein Lächeln, Strahlen, Wahrnehmen, wie auch eben die momentane Stimmungslage ist, ausdrücken?
Den Klang des eigenen Namens zu hören – nicht als normative Höflichkeitsfloskel, sondern
warmherzig und freundlich oder einfach fokussiert anredend macht uns munter, bezeugt unsere
Identität, kann wohltun wie das erste Willkommen. Unser Name ist so tief seit den frühen Tagen
unseres Lebens durch Rufen, meist auch Zuwendung auch mit Blicken verankert, dass diese
Ansprache sogar der Königsweg ist, uns aus einer Vollnarkose oder Ohnmacht herauszuholen oder
gar unsere Pflegestufe festzulegen…”
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LEBEN IST TANGO: Die Autorin beschreibt liebevoll, witzig und pointiert die Philosophie des Tango Argentino und den Umgang mit anderen Menschen. Unterhaltsam und abwechslungsreich wird das Buch durch die einzelnen wahren Geschichten und die verschiedenen Parabeln. Das Buch setzt den Tango Argentino in Bezug zum Alltagsleben, zu Beziehungen und zum beruflichen Kontext. Die Autorin bringt einfach und für jeden verständlich die ganze Bandbreite des Tanzes, der Musik und der Energetik des Tango Argentino zum Ausdruck.
Martina Hoppe-Großhennig, Leben ist Tango, Tangoenergetik für den Alltag, Innehalten – Ausrichten – Vertrauen, Verlag Agentur Altepost 2015, 18, – Euro Titel-Grafik: Itzhak Shalhevet
Zuerst dachte ich, dass es sich um ein Fachbuch handelt, aber beim Lesen merkte ich, dass es für alle Menschen geschrieben ist; für Menschen, die mit anderen Menschen arbeiten, für TangotänzerInnen und genau so auch für Menschen, die nicht Tango tanzen. Ich glaube, dass dieses Buch große Lust macht, den Tango Argentino auch mal selbst auszuprobieren. Der Klappentext beschreibt in hervorragender Weise die Essenz dieses Buches. Er hat mich neugierig gemacht und zum Lesen animiert: „Das Leben ist Tango – wir tanzen es sowieso schon, und das Leben tanzt mit uns.“ Abschließend kann ich sagen, dass mich das Buch tief im Herzen berührt hat. Ich kann jedem nur die Lektüre dieses Buches empfehlen. Lasst uns das Leben als GmbH leben: Als Gemeinschaft mit berührender Haltung!
Ein Gastbeitrag von Traudl Ertner, Heilpraktikerin und Tangotänzerin. Zuerst erschienen ist er meinen Geschenktips vor Weihnachten 2019: http://kroestango.de/aktuelles/tango-tipps-zum-verschenken-oder-behalten-leben-ist-tango/