Mitte der 60er Jahre saß Anibal Troilo gelegentlich im Club Tucuman 676 in Buenos Aires, trank seinen Whisky und schnupfte die ein oder andere Linie Kokain. Vor allem aber lauschte er Astor Piazzolla und den Proben seines neuen Quintetts. Dem Geiger Hugo Baralis zufolge, der den jungen Mann einst mit „Pichuco“ bekannt gemacht hatte, seufzte er dabei einmal unter Tränen: „Nein, mein Junge, das ist kein Tango.“ (*)
Der Freundschaft der beiden haben derlei künstleriche Differenzen keinen Abbruch getan. Wer nachvollziehen möchte, welch tiefe Beziehung zwischen ihnen bestand, muss nur die beiden Bandoneon-Duette auf sich wirken lassen, die sie 1970 zum 80. Geburtstag von Carlos Gardel für die Plattenfirma RCA Victor eingespielt haben. https://youtu.be/jPktMrsvrJk
Die Tangogemeinde aber spaltet das Werk von „El Gato“ bis heute. „Kater“ nannte Anibal Troilo seinen entlaufenen Schüler Astor Piazzola wegen der Geschmeidigkeit, mit der er seine Finger über die Tasten des Bandoneons bewegte. Der revanchierte sich mit einem vertraulichen „El Gordo“ (der Dicke) und widmete ihm später eine viersätzige „Suite troileana“. Hier der Satz „Whisky“: https://youtu.be/S6J4v4rNFtQ
Für mich ist Astor Piazzolla der bedeutendste Tangomusiker des 20. Jahrhunderts – und darüber hinaus (da beißen Carlos Gardel, Annibal Troilo und Osvaldo Pugliese sogar gemeinsam keinen Faden ab). Aber wir (jedenfalls die Mehrheit der Tangocommunity) haben ihn ziehen lassen – in die Konzertsäle oder zu niederländischen Königshochzeiten. https://youtu.be/AYU-n7Ket-c Untanzbar! Dies Etikett haftet Piazzolla an, seit die Hohepriester der Orthodoxie in Buenos Aires den jungen Wilden Ende in den 50-er Jahren als Ketzer gebrandmarkt haben.
Astor P. ist damals aus einer Welt ausgebrochen, in der er als Tanzmusiker immer wieder dieselben Hits live runternudeln sollte, deren knarzende Konserven wir heute verehren. Oder er musste Arrangements schreiben, die sein Arbeitgeber und Lehrer Anibal Troilo ihm zusammenstrich – auf jenes Maß, das er damals für tanzbar hielt. Kaum eine(e) Tangotänzer(in) weiß heute, dass er/sie durchaus zu Musik tanzt, die Piazzolla arrangiert hat. Aber einigen gilt Troilos Musik als „schwierig“, selbst wenn jemand anders sie eingerichtet hat. „Quechas de Bandoneon“ hat Troilo mehrfach eingespielt. Für mich ist Piazzollas Arrangement von 1958 die schwungvollste Version. https://youtu.be/tuI54xiPXcM
Seine Antwort auf die Einengung auf die damaligen Erfordernisse des Ballroom waren der schrittweise Ausstieg aus der Tanzmusikszene und die trotzigen zehn Gebote seines „Octeto de Buenos Aires“. Deren siebentes lautet: „Wenn das Ensemble in der Öffentlichkeit zu hören ist, wird es nicht auf Tanzveranstaltungen spielen.“ Er hat sich auch immer wieder über die die Tangotänzer lustig gemacht – als Ohren mit Beinen. Insofern trägt er durchaus Mitschuld am Klischee der Untanzbarkeit.
Aber hatte er lebenslang etwas dagegen, dass zu seiner Musik getanzt wurde? Seine Witwe Laura Escalada Piazzolla erinnert sich anders: „Astor sagte eines Tages zu mir: Ich verstehe das nicht, hier in Argentinien behaupten sie, man kann zu meiner Musik nicht tanzen, aber auf der ganzen Welt tun es alle.“
Zugegeben, dieser Tanz fand zunächst auf der Bühne statt. Aber was die Profis von Ballett und Show für sich erobert haben, ist selbstverständlich in vereinfachter „Volksausgabe“ für die „Pista“ der Amateure zu kapern. Wir nehmen ja auch Anregungen aus dem „Tango Escenario“ zu anderer Musik auf. Und die Tangotänzer von heute haben (jedenfalls in der Regel) eine ganz andere Aus- und Vorbildung als unsere goldigen Ahnen. Warum sollten wir nicht auf das grandios intensive „Vuelvo als Sur“ tanzen? https://youtu.be/MDpgHNoWASM
Im Grunde sind wir es Piazzolla sogar schuldig, uns seine Musik als Tänzer zu erarbeiten. Denn ohne den Siegeszug seiner Kompositionen in den Konzertsälen und die Broadway tauglichen Shows von Juan Carlos Copes und Co. in den 80er Jahren würden selbst die orthodoxen Fans der Epoca d’Oro von heute (wenn überhaupt) Discofox tanzen, weil sie vom Tango nichts gehört hätten.
„Erst gab’s fast nur Astor Piazzola, später kam der Electrotango.“ So fasste der Berliner Tango DJ Thomas Klahn fasst 30 Jahre Tango Revival in Gespräch mit mir für die „Berliner Zeitung“ einmal plakativ zusammen. „Heute ist die goldene Epoche der 30er und 40er Jahre wieder große Mode.“ (**) Auch prominente Protagonisten des klassischen Lagers gestehen, dass ihre erste Tango-LP von Astor Piazzola stammte. Und dass man damals auch irgendwie danach getanzt hat.
Wer aktuellen Tangoformationen zuhört, die ganz selbstverständlich zum Tanz spielen, wird schnell feststellen: Fast überall sind – ob in Harmonien, Rhythmik oder Phrasierung – Piazollas „Spuren“ deutlich wahrnehmbar, auch dann wenn sie klassische Orchesta Tipica covern. Ist es schlimm, wenn die musikalisch gebildeteren unter uns beim Tanzen Anklänge an Bela Bartok, Igor Stravinski oder den Jazz der klassischen Moderne wahrnehmen? Mich stört doch auch nicht, dass Francisco Canaros Valses aus der Feder des Elsässers Emile Waldteufel ziemlich „weanarisch“ klingen. Apropos: Wenn um den „Shmaltz“faktor geht, kann Piazzollas „Oblivion“ es durchaus mit Osvaldo Puglieses „En otros caminos“ aufnehmen. Hier sein Titel „Lo que vendra“ in einer Einspielung von Anibal roilo. https://youtu.be/l3hLgNIP1G4
Außerdem: Was heißt „tanzbar“? Wollen wir zum Maßstab machen, wie sich die betagten Porteñas und Porteños in den Nachmittagsmilongas von Buenos Aires über die Pista bewegen? Wer Piazzolla verschmäht, muss sich mindestens die Hälfte seiner teuer erkursten Figuren verkneifen, will er zu „klassischer“ Musik wirklich klassisch tanzen – selbst wenn er/sie sein/ihr Repetoire schon milonguerostylisch ermäßigt hat.
Die Scheu vor Piazzollas Musik hängt meiner Meinung nach nicht zuletzt mit der falschen Unterstellung zusammen, zu ‚komplizierter’ Musik müsse man kompliziert tanzen. Abgesehen davon, dass Piazzolla keineswegs immer kompliziert ist. Auch ausladende Neotango-Figuren sind nicht nötig. Nur gutes Zuhören. In seinem Buch über Osvaldo Pugliese macht Michael Lavocah darauf aufmerksam, wie sparsam der große Carlos Gavito auf dessen Musik tanzt – ohne jedes Detail zu interpretiern, sondern sich vielmehr von den intensiven Klängen „wie von einer Woge“ davontragen lässt (***). https://youtu.be/AUNAIXYxOPA So können wir’s auch mit Piazzolla halten.
Was für eine wunderbare Erfahrung, sich als Tanzpaar in so ein komplexes Stück langsam, aber immer sicherer gemeinsam hinein zu tasten. Wenn wir dann den sprichwörtlichen ‚Flow’ finden – der pure Traum, mag auch die persönliche Choreografie zunächst noch unterkomplex sein. Ich nehme in solchen Momenten ohnehin nicht mehr bewusst wahr, welche Schritte oder Kombinationen ich tanze. Ich spüre nur noch die Symbiose zwischen der Musik, meiner Partnerin und mir. „La Musica me lleva“, hat der alte Milonguero Tete Rusconi gesagt. „Die Musik führt mich“
Neulich las ich im Internet eine (aus meiner Sicht) lustige Ankündigung der polnischen Gruppe „Bandonegro“ in einer Milonga, die für ihre strenge Haltung in Sachen Tangoklassik bekannt ist: Erst eine halbe Stunde Konzert mit Stücken von Piazzolla. Danach Milonga mit den Krachern der goldigen Zeit.
Ich habe die Gruppe im Berliner „Mala Junta“ erlebt – ohne einen Vorsicht-untanzbare-Kunst!-Zaun um die Kompositionen von Astor Piazzolla. Weil ich keinen Tanz versäuenwollte, gibts keine Aufnahme davon. „Bandonegro“ hält es wie andere „neoklassische“ Tangobands von „Quinteto Angel“ bis „Solo Tango“. Sie arrangieren seine Musik nach ihrem aktuellen Verständnis von Tanzbarkeit. „Pichuco“ lässt grüßen. Ich bin allerdings ziemlich sicher: Etliche der TänzerInnen und Tänzer, die erst begeistert getanzt und hernach ebenso begeistert applaudiert haben, wussten nicht, dass sie sich zur Musik des „Untanzbaren“ bewegt hatten.
(*) Bei Michael Lavocah ist nachzulesen, welche Stücke Gato für Gordo arrangiert hat – auch lange nach seinem Ausscheiden aus dessen Band. Tango Masters: Anibal Troilo, milonga press 2014, S. 164ff
(**) Thomas Kröter, Ein seltsamer Virus namens Tango, Berliner Zeitung 25.7.2014
(***) Michael Lavocah, Tango Masters: Osvaldo Pugliese, milonga press 2016, S. 184
Dieser Text ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Artikels, der in der Tangodanza 4/2014 erschienen ist. Damals kannte ich nur Astor Piazzolla, A Memoir, by Natalio Gorin, Amadeus Press Portland Oregon 2001. Inzwischen habe ich noch das viel umfassendere Buch gelesen: Maria Susanna Azzi, Le Grand Tango. Astor & Lennox 2017 . Die hier verwendeten Zitate und Beschreibungen stammen (so weit nicht anders ausgewiesen) aus diesen beiden Bänden.
14 Comments
Hier ein kleines corrigendum: Der youtube-Link für „Quechas de Bandoneon“ ist identisch mit “Adios Nonino” auf der Königshochzeit. Ich würde mich über den richtigen Link freuen
Wow, toller Beitrag, danke.. es gibt nichts spannenderes, verzückenderes als mit einem ähnlich fühlenden Tänzer zu Piazolla zu tanzen. Wenn bei meiner Worldmusicmilonga Oblivion gespielt wird bleibt auf jeden Fall niemand sitzen…
Vielen Dank lieber Joachim für die sorgfältige Rezeption. Die Korrektur ist umgehend erfolgt.
Danke, habs schon genossen
Herzlichen Glückwunsch – wieder ein Beweis dafür, dass Themen- und Textrecycling erfolgreich sein kann!
Aber hier hab ich doch, wie es in meiner Änderungsschneiderei heißt, ein wenig upgecycelt. Ansonsten vielen Dank, lieber Gerhard.
Gut gesagt…Danke!
Ehrlich gesagt es gibt schon etliche Stücke von Piazzolla, die eigentlich nicht zum Tanzen gedacht waren, und dementsprechend oft schwer zu tanzen sind. Und der Großteil der Tänzer auf der Tanzfläche ist der lebende Beweis dafür.
Man braucht nur mal schauen, wie bei Libertango plötzlich fast alle wie die Blöden losrennen, weil sie glauben, dem Beat hinterher hecheln zu müssen.
Es gibt aber natürlich auch gut tanzbare Stücke von Piazzolla, Oblivion gehört sicher dazu, genauso wie Vuelvo al Sur.
Was viele nicht wissen: Piazzolla hat auch Tanzstücke geschrieben, die durchaus in den Musikantenstadel passen könnten. Zum Beispiel “Republica Argentina”, einen schmissigen Walzer in dem er die Schönheit Argentiniens besingt, und wie glücklich man sich doch schätzen kann, Argentinier zu sein. Das hat durchaus “Tief drin im Böhmerwald” Qualität, schöne Musik, aber der Text… Naja
Hier könnt Ihr den Walzer hören
https://www.youtube.com/watch?v=n44xmUprDO0
Und hier der Heimatdichter-Text dazu
http://www.hermanotango.com.ar/Letras%20191004/REPUBLICA%20ARGENTINA%20vals.htm
Wolfgang spricht mir aus der Seele. Nnatürlich gibt es die wunderbar tanzbaren Tangos von Piazzolla, Oblivion oben mit Michelle & Joachim ist eines der besten Beispiele dafür, aber ebenso “schräge” , der Meister möge mir meine blasphemische Bemerkung verzeihen, Tangos, die für Tango-Normalos praktisch nicht tanzbar, bestenfalls auf Bühnenshows interpretierbar sind. Und wenn ich nicht irre, war das auch genau Piazollas Absicht, als er seinen Tango verjazzte und gefragt wurde, Maestro, wann spielen Sie wieder Tango, und er antwortete, das ist Tango.
Lieber Wolfgang, ganz genau: Ich kenn sogar vier Leute, die in einem Film wie die Blöden losrannen, um bei “Libertango” dem Beat hinterher zu hecheln: Sally Potter, Pablo Verón, Fabián Salas und Gustavo Naveira.
Eine Replik: http://www.jochenlueders.de/?p=13894
Und noch ‘ne Replik: https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/12/hier-irrt-luders.html
Eine Anregung zum Themenfeld “Was ist tanzbar” oder tänzerische Umsetzung von Musik” aus meiner Erfahrung als Regisseur im Bereich Musik / Theater / Film und der angrenzenden Tanztheaterwelt.
Die direkt gekoppelte Umsetzung einer Musik in Handlung oder Bewegung stellt oft nur eine Verdopplung der Musik dar und ist deshalb wenig spannend. Eine starke Musik muß nicht verdoppelt oder übersetzt werden. Sie braucht keine Vermittlung, sie ist groß und schön auch ohne diese Dekoration. Wenn man die Musik auf die Bühne des Performativen hebt, lebt sie mehr auf, wenn sie ebenbürtige Partner findet, die eigenständig mit ihr ein Neues – ein Drittes bilden.
Wenn ich also musikalisch eine komplexe Figur höre muß ich nicht beweisen, dass ich die gleiche Figur auch in den Tanzschritten zu übersetzten imstande bei, im Gegenteil, manchmal schlägt man mit der Verdoppelung die Wirkung des musikalischen Elementes tot oder unterstreicht es so dick durch den Gestus, dass es lächerlich oder plakativ wird. Ein Triller auf einem Musikinstrument inkorporiert in Tänzerbeine wirkt nur komisch, das kann – wenn bewußt eingesetzt überzeugen, Mr. Bean war z.B. mitunter großartig darin.
Spannung erzeugt eine Handlung oder Aktion, die einen gefühlten Kontrapunkt bildet, die einen Raum des Un-Möglichen, des Absurden, des Komischen, Tragischen öffnet. Der Ehrgeiz, einen “komplizierten” Piazzolla auch kompliziert umzusetzen ist bühnendramaturgisch nicht sehr ergiebig, eher im kompetitiven, leistungsorientierten Feld einsetzbar oder als Schüleraufgabe, schlichtweg um einzelne Skills zu trainieren (das hat noch nie geschadet). Auf der Bühne ist nur wichtig, ob eine Geschichte mit Spannung erzählt wird, und wie der Impuls der Musik bereichert wird durch davon unabhängige Ebenen.
Man kann zu einer komplizierten Musik auch nur eine einzige langsame Bewegung tanzen, wichtig ist nur, ob sie vom Inneren mit etwas Wesentlichem gefüllt wird. Sich am musikalischen Satzbau festzuhalten ist ein erster Schritt, um mit Musik kreativ umzugehen, wer dabei stehen bleibt, zeigt aber nur, dass er den Satzbau verstanden hat und wird immer hinterherhinken, da der menschliche Körper an die Bewegungskomplexität einer Geige oder eines Klaviers niemals heran kommt in der reinen Nachahmung.
Auf der Bühne zählt Persönlichkeit: hat der Mensch da etwas zu erzählen, trägt er etwas in sich, das Wesentlich ist, ein Gefühl, eine Erfahrung, die so stark ist, dass er dafür ein Ausdruck findet. Technik und Handwerk sind wundervolle Helfer um diesen Räumen dann Gestalt zu geben.
Die Musik auf der Bühne, wie ich sie bisher in mir erlebt habe sucht ein Gegenüber, kein Spiegel oder Übersetzter.
[…] http://kroestango.de/aktuelles/zu-piazzolla-tanzen-warum-nicht/ Der Ursprungstext ist sogar noch älter. Bei dem Blog-Beitrag handelt sich um die erweiterte […]