Eine spannende Frage für viele von uns, die wir auf der Piste Orientierung suchen, immer weiter lernen wollen und von traumhaft schönen Tänzen träumen. Erfrischend provokativ hat neulich auf Facebook eine Tänzerin formuliert:
„Ich denke seit einiger Zeit über eine Theorie nach, die eine Tangofreundin von mir aufgestellt hat und würde das gerne an euch weitergeben: Erfahrene Tänzer gehen grundsätzlich nur auf Milongas auf denen rein traditionelle Musik gespielt wird. Wenn eher gemischt aufgelegt wird, gehen sie erst gar nicht hin. Wie denkt Ihr darüber?“(*)
Ein breites Spektrum von Antworten zeigte, dass sie ein weites Feld eröffnet hatte. Für mich ist die Frage nicht wirklich beantwortbar, denn es gibt sicher viele in klassischer Tangomusik und klassischen Bewegungskonzepten nach Jahren versierte Tänzer, die ihre Muster nur bei “klassisch goldiger Musik” ausleben und ihre Bewegungsformen nicht zu anders strukturierter „Mucke“ aufs Parkett zaubern können. Sie werden unsicher, wenn es unvorhersehbar wird oder sie zur eher eintönigen Rhythmik so mancher Non- und Neostücke keinen Spielmodus jenseits des Grundschlags finden. Sie sehen dann keine Gelegenheit, den Glanz zu entfalten, mit dem sie sich normalerweise die Achtung und lobende Aufmerksamkeit ihrer TanzpartnerInnen verdienen.
Wer auf dem Hufschlag der Reithallen zum guten Turnierreiter wurde, ist im freien Gelände oft völlig verloren und spürt, dass er oder sie mit dem Pferd in Wald und Wiese nicht gut zurecht kommt.
Dagegen gibt es aber auch viele andere, die sich das Tangotanzen irgendwann oder von Anfang an eher spielerisch erschlossen haben. Sie folgen weniger den Vorgaben als ihrem eigenen Gefühl – selbst dann, wenn sie probieren, etwas zu kopieren. Sie tanzen ihre Bewegungen und können sie in fast jede Musik fließen lassen, dabei mit den Rhythmen spielen und große, ungewöhnliche Ausdrucksformen auch spontan finden.
Es gibt da keine Regel. Es gibt nur Zwischentöne in allen Formen und Kombinationen!
Ich bin einer dieser kreativ Verrückten und spüre sehr deutlich, dass ich manche Damen damit absolut überfordere. Ich versuche dann, mich zu mäßigen, um eine Form zu finden, in der sie mich eindeutig verstehen und nicht verunsichert werden durch meine mal fast unmerklich kleinen, gelegentlich aber auch sehr deutlich großen Einladungen.
Und dann gibt es diejenigen Tänzerinnen, die mich sofort lesen können. Bei ihnen spüre ich nach dem ersten Lied der Tanda, dass sie mit mir durch dick und dünn gehen. Mit solchen Frauen habe ich das Gefühl, dass wir halt beide gerne mal zart schweben wollen wie im Hauch der Blätter, aber auch liebend gerne mal tanzen wie auf dem Vulkan.
Es gibt unglaublich brillante NeotänzerInnen, die auch gerne und gut im Pool der Goldenen Klassikjahre schwimmen. Oft kommen sie auch daher. Aber sie sind eben SpielerInnen, die sich nicht kleinkriegen lassen wollen im strikt aufgeforsteten Wald der musikalischen und tanztechnischen Vorschriften. Mögen diese Regeln den anderen genau die heile Welt kreieren, die sie brauchen, um ihr gut gezügeltes Spielbedürfnis so ausleben zu können, dass sie sich selber gut finden können.
Ach ja, ich liebe es halt auch, wenn die “revels” (ein Ausdruck von Vio/Tangoforge, den ich liebe, weil er anderes betont als das „brave” Folgen): Er hebt die Aufgabe des Interpretierens und Gestaltens der rahmengebenden Impulse hervor. „Revelar“ bedeutet „entfalten“ und lässt so schön anklingen, was es heißen kann, sich den Raum zu nehmen und aktiv auszudrücken, was Du da gerade in der Musik erlebst!
Dann entsteht ein echter Dialog beim Tanzen, und es ist unabhängig von den Armpositionen nicht mehr wirklich spürbar, wer gerade führt oder folgt. Ich fühle mich dann enorm bereichert und bin dankbar, dass mir jemand ganz unmittelbar zeigt, was noch so möglich ist, jenseits meines naturgemäß beschränkten Repertoires als „Führender”. Die Tänze, die mann(!) in dieser Rolle erlebt, bleiben ja immer im Rahmen des eigenen Horizonts, während die „Folgenden” schnell eine Vielfalt von musikalischen Interpretationen und Bewegungsmöglichkeiten mitbekommen und unmittelbar erspüren können.
Aber ja, ich weiß: Andere mögen das gar nicht. Wir sind halt unterschiedlich! Dem TangoGott sei Dank! Wir müssen das nicht vereinheitlichen oder standardisieren. Wir können in Vielfalt miteinander und nebeneinander „unseren” Tango entfalten, wenn wir den anderen Platz lassen und uns in lernbereiter Toleranz betten.
Gute TänzerInnen, Anregungen und Vorbilder gibt es überall. Man findet sie immer wieder. Am besten ganz ohne viel gezieltes Suchen. Wenn sie da sind und für dich passen, dann merkst du das! Kontrolle ist da eher schlecht, Vertrauen viel besser!
Der wirklich gute Tango ist Gefühl und nicht Gedanke … !
(*) KoKoTango – Konstruktiv Kollegiale Tangogespräche! Zu dem Post von Nicola Groll am 19. August 2019 gab es (bisher) mehr als 130 Kommentare. Thomas Kröter hat mich eingeladen, meine Gedanken aus dieser Debatte etwas systematischer zusammen zu fassen.
4 Comments
Könnte von mir sein – nur dann wärs nicht so gut geschrieben. Zustimmung ohne aber.
Ich schließe mich Carsten an. Gratulation zum wahrhaft gelungenen “Erstling”!
Ja, wenn es nur mehr von dieser Sorte gäbe und die dann auch noch, nicht nur nach den allgemein gängigen Kriterien – jung, dünn und wenn’s geht blond -auffordern würden… Das Tangotanzen wäre der Himmel auf Erden…
Tom, wann tanzen wir Tango?
Liebe Grüße aus Wien 💃 🕺 🎶 😃