Der “tangotanzende Flaneur” hat seit Beginn der “Epoca corona” pausiert. Über meine Motive hab ich auf Anfrage von Laura Knight in “berlin tango vibes” geschrieben. https://berlintangovibes.com/2020/05/09/wie-soll-ich-uber-tango-schreiben-ohne-ihn-zu-tanzen/ Nun fahre ich meinen Blog behutsam wieder hoch. Als erstes hab ich den Berliner Tango-DJ Fridolin Lützelschwab, den ich sehr schätze http://kroestango.de/interviews/30-jahre-tango-in-berlin-ein-gespraech-mit-dj-fridolin/ , um einen Gastbeitrag gebeten. Er bespricht das Buch “Sind Tangotänzer die besseren Liebhaber” von Lea Martin. (1) Der Text ist etwas mehr geworden als eine schlichte Rezension. Über die musikalischen Illustrationen haben wir uns gemeinsam Gedanken gemacht. Auch von mir sind neue Artikel in Vorbereitung. Der erste soll zum “Dia del tango” erscheinen.
Nach ihren 2019 erschienenen „Tango dreams“ erzählt Lea Martin in ihrem neuen aufwühlenden Buch mit dem Titel „Sind Tangotänzer die besseren Liebhaber“, wie sich Frauen und Männer im Umfeld des Tangos begegnen. In elf Geschichten dürfen wir nachvollziehen, wie die Geschlechter mit einander in Beziehung treten und sich mehr oder weniger glücklich verlieben. Schauplatz ist die vielfältige Berliner Tangoszene.
Lea Martin, Sind Tangotänzer die besseren Liebhaber? Erzählungen. Joan Martin Literaturverlag , Berlin 2020, 250 S., 14 Euro
Sie bietet den Tänzerinnen, aus deren Perspektive die Geschichten geschrieben sind, einen ebenso geheimnisvollen wie unterstützenden Raum, um ihrer Identität als Frau sicherer zu werden. Tango tanzen wird als Protest, Aufruhr und Widerstand (S. 196) gegen einschränkende Rollenzuweisungen beschrieben. Dagegen können Frauen im Tango verschiedene Rollen erkunden und mit ihnen spielen: Die Verführerische, die Kokette, die Femme Fatale usw…
Lea Martins Beschreibungen führen zu einer Frage, die in der Szene immer wieder heftig diskutiert wird: Was und auf welche Weise hat Tango mit Sex und Erotik zu tun? Während viele den Tango „entsumpfen“ wollen und ihn als eher sportliche Sache sehen, bestehen Nora, Jule, Pia und die anderen Protagonistinnen des Buches darauf, dass Tango sehr wohl etwas mit ihren sexuellen Phantasien zu tun hat (S. 92 ) Dies offen auszusprechen, ist eine der großen Leistungen von Lea Martin – angesichts der Verklemmungen der staubigen „Argentinidad“, die in weiten Teilen der Tangoszene propagiert wird.
Diese Schattenseite des Tangos, die Pseudo-Strenge – coole Gesichter, anmaßende Tangolehrer und mancher selbsternannte Tangomeister auf der Tanzfläche – werden peinlich genau beschrieben. Noch zutreffender wären diese Bilder allerdings, wenn nicht nur die Dualität von langweiligem „Sport“ einerseits und hoch erotisiertem Tanz andererseits wahrgenommen werden würde. Denn es gibt eine dritte Dimension: Die Spiritualität – Tango als Meditation. Als erfüllende Seelen-Begegnung jenseits von Worten.
Die Männer tauchen in Leas Frauensicht als irgendwie verkorkste Götter auf. „Sein blauer Oberkörper ragt vor ihr auf wie die Statue eines griechischen Gottes“ heißt es etwa. „Seine Präsenz ist so eindringlich, dass Jule verlegen den Blick senkt…. Wie kann ein Mann nur so schön sein?“ fragte sie. „Bis Du zufällig Model?“ (128) Im Tango gibt es fast immer Frauenüberschuss. Daher müssen die anspruchsvoll tanzenden Frauen um die meist wenigen Männer konkurrieren, die einigermaßen „gut“ tanzen können. Die Noels, Maiks, der komplexe „Erdbeermann“, der von allen am Besten weg kommt – sie kommen in diesem Buch irgendwie fremd bis unheimlich daher und benehmen sich von Anfang an ein wenig sonderbar.
Die Autorin räumt mit dem Vorurteil auf, dass es vor allem die Männer seien, die sich für die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale des anderem Geschlechts begeistern. Die Männer in Leas Geschichten sind deutlich jünger als die Frauen und sehen überdurchschnittlich gut aus: Strahlend blaue Augen, nette Grübchen, entschiedenes Kinn, muskulös, nicht zuletzt ein schönes und sauberes Geschlechtsteil. Außerdem sollen sie angenehm riechen. Gut tanzen müssen sie selbstverständlich auch, vor allem führen können und das so elegant, dass die Damen sich nicht eingeengt fühlen, sondern entspannt folgen können. Keinesfalls aber dürfen die Herren „übergriffig“ werden. (S. 67) Zunächst jedenfalls.
Doch Fallen lauern überall: Denn wenn einer (wie Eric) altmodisch höflich ist, die Türe auf und den Mantel hin hält, dann taucht plötzlich die autonome emanzipierte Frau auf, die solch ungefragtes Verhalten schnell als „herablassend“ empfindet und den Eindruck hat, er nehme sie „nicht ganz voll“. Wie man es macht, ist es irgendwie falsch. Je erfolgreicher der Mann in seinen Verführungskünsten ist, umso mehr gehen die inneren Alarmanlagen der Frauen an.
Plötzlich ist der griechische Gott im Tango ein zutiefst irdischer Ingenieur, der frau keinen Raum mehr lässt. Mancher entpuppt sich als cholerisch explodierender Oberlehrer oder sadistischer Dompteur. Die bekannte Ermunterung „entspann dich“ (S. 195) oder „bleibe locker“ (S. 187) läßt die gerade noch rot lodernde Stimmung in Sekundenbruchteilen zu Eis erstarren. Da will sie nur noch so schnell wie möglich weg.
Ist die Pista erst einmal – gemeinsam – verlassen, geht’s oft ziemlich plump zu: „Alle Männer wollen Sex, hart, schnell, schmutzig.“ (S. 42 ) Wer eben noch Objekt größter Begierde war, der wird, weil er offen verbal seine körperliche Bedürfnisse formuliert, schnell als gefühllos oder gar potentieller Vergewaltiger wahrgenommen. Es sei denn, einer bietet ungefragt Massagen gegen nicht vorhandene „Hitzewallungen“ an oder überrumpelt schwungvoll die Frau in ihrer Traumseligkeit. Eben noch als „abstoßend“, kann er die willenlose Frau hinter sich her ins Schlafzimmer ziehen – nahe einer tatsächlichen Vergewaltigung. Hallo, möchte der Leser die Frau schütteln, die hier Mira heißt, werde wach!
Das sind für mich als Mann die härtesten Stellen im Buch. Diese Szenen so unromantisch zu sezieren, dass einem der Atem stockt, ist erschütternd und genial. Wenn dann „die Männer“ kurz bevor es zur Sache geht, noch erklären, dass sie keinesfalls verliebt seien, dass sie bald heiraten wollten, Vielweiberei betrieben oder irgendwie anders nicht ganz verfügbar sind, dann folgt der Zusammenbruch der schnell entstandenen romantischen Zukunftspläne der Frauen.
Hier lässtt uns Lea ruhig und präzise beobachtend an der „Come´die humaine“ teil haben. Im „Erdbeermann“, für mich eine Schlüsselgeschichte des Buches, können wir relativ lange das hin und her Wogen von Anziehung und Abstoßung beobachten, weil Eric von Hanna komplex und mehrdimensional als Mann beschrieben wird. Sie ist nach einigen Irritationen wirklich berührt. Aber am Ende findet sie doch noch einen Weg, sich aus dieser fast glückenden Beziehung herauszuwinden.
Die extreme Spannung in den Texten resultiert oft aus höchsten Idealen und rigiden Normen, die die Frauen an ihnen wichtige Lebensbereiche anlegen. „Sie würde etwas dafür geben, Teil eines Paares zu werden, das sich auf seine Silberne Hochzeit freut. Dabei fällt es ihr schwer, auch nur eine einzige Nacht mit Eric im selben Bett zu verbringen.“ (S. 175) Derartige Ausdifferenzierung von Männer- und Frauenbildern, dieses genauere Hinschauen, wie wechselseitige Projektionen funktionieren, hätte ich mir als Entwicklungsprozess über die elf Geschichten mehr gewünscht.
Lea Martin beschreibt ihre Personen fast ungerührt beobachtend. Das macht das Buch eher zu einer sozialpsychologischen Dokumentation als zu einer Sammlung verzärtelter Liebesgeschichten. Selbstverständlich gibt es den klassischen Konflikt zwischen Liebe und Sex: Eigentlich soll erst die Liebe da sein, dann der Sex. Aber dann wird nicht nur Nele klar: „Wenn dieses Konzept ernsthaft gelten sollte, wird sie nie wieder Sex haben“. (S. 37)
Auf seine Weise ist das Buch eine präzise Illustration dessen, was die moderne Tiefenpsychologie vor allem mit C.G. Jung seit der Wende zum vorigen Jahrhundert entwickelt hat. Er arbeitete heraus, dass wir umso mehr im verstörenden Unbewußten wilde Phantasien und Träume entwickeln, je mehr wir an der Oberfläche erwünschten rigiden Selbstkonzepten folgen.
Einige Frauen tun sich schwer, unbefangen zu genießen. Laufend findet in ihrem Innern, wie bei Statler & Waldorf in der Muppets-Show vom distanzierten Balkon runter, eine selbstgeißelnde Kommentierung statt: „Wenn am Riemen-reißen eine Sportart wäre, hätte sie sicher großen Erfolg.“(S. 131) Aber wenn sie dennoch ihren spontanen Gelüsten folgen, scheinen sie sich in einem Trance-Nebel zu bewegen. Dann fragen sie sich plötzlich, wie sie in dieses Bett gekommen sind? Es scheinen hormonelle Schübe zur Betäubung erforderlich zu sein, um den gestrengen protestantisch-katholisch-feministischen Geist zu überrumpeln.
Die filigrane Beschreibung der antagonistischen Kräfte, die in den Frauen wirken, sind – quer über alle Geschichten – die stärksten Stellen im Buch. Zum Beispiel: „Sie schämt sich der Schamlosigkeit, mit der sie sich auf ihn schob, ohne dass er Anstalten gemacht hätte, mit ihr schlafen zu wollen. Hat er sich überrumpelt gefühlt?“ (S. 73)
Die Frauen leben hier keine Coolness, die vorgibt, alles im Griff zu haben. Sie behaupten ihr Recht auf Ambivalenz und Widersprüchlichkeit. Mit strenger Beobachtung versuchen sie, fast wie Journalistinnen Abstand zum eigenen Schmerz zu halten. Vor diesem Hintergrund können wir besser verstehen, warum die Texte so nüchtern geschrieben sind – warum „sachlich mit einander geschlafen wird“ (S. 142).
Aber es gibt auch andere Stellen, die nun ja, nach Rosamunde Pilcher duften: „Steves Zärtlichkeit ist so übeschäumend wie die Kissenlawine auf dem Bett, die Haarpracht auf seiner Brust, die Büchermenge in seinen Regalen, die Notenberge auf dem Klavier, und in dieser Zärtlichkeit lösen Janas Ängste sich auf, sie schmilzt dahin, fühlt sich warm, weich geborgen Ihre Haut öffnet sich, ihr Körper blüht auf, blüht ihm entgegen, und er nimmt dies Blühen entgegen wie ein Geschenk.“ (S. 99) Uff…
Aber hätte die Pilcher über Sperma und zu lange verbleibende erschlaffte Schwänze in weiblichen Geschlechtsteilen von Frauen geschrieben – während „oben“ schon wieder lapidarer Smalltalk gepflegt wird? Lea traut sich, mit großer Verwegenheit subjektive Erlebnisse in Worte zu fassen. Sie schert sich dabei weder um das herrschende Gebot der öffentlichen Coolness, noch darum, was in den jeweiligen Subszenen als politisch korrekt gilt. Dieser sachliche Blick rettet sie vor dem Abgleiten in peinlichen Kitsch.
In der „Tangodanza“ will Susanne Mühlhaus das Buch vor allem Tangoanfängerinnen empfehlen, damit sie ihren „Gefühlswirrwarr“ im Tango besser verstehen können. (2) Wer sollte es außerdem lesen? Auf jeden Fall Menschen, die es aushalten können, die „Comédie humaine“ im Tango als Kulisse zu verfolgen. Frauen können sich wie in einem Spiegel wieder erkennen – ihre Ambivalenz oder Zerrissenheit zwischen Emanzipation und traditioneller Rollenzuweisung. Männern hilft die Lektüre, besser zu ahnen, auf welche widersprüchliche Innenräume sie in Frauen treffen, wenn sie allzu selbstgefällig im Tango unterwegs sind. Innenräume übrigens, derer Frauen oft selbst nicht gewahr werden.
Sin alle Frauen so? Nein. Genau so wenig wie es “die” Männer gibt. Wir dürfen jedoch davon ausgehen, dass das, was Lea hier in starken und drastischen Bildern beschriebt, eben doch bei jeder Frau wie auch bei jedem Mann irgendwie vor kommt – nur nicht so stark, so deutlich und nicht so schnell wechselnd. Auch Männer kennen Ambivalenz. Sie könnten durch dieses Buch angeregt sein, in sich zu gehen und und in Kontakt mit den eigenen traditionellen Rollen-Soll-Konzepten gehen.
Für mich lautet die zentrale Botschaft des Buches an Frauen und Männer, ob sie nun Tango tanzen oder nicht: Sei ganz Du selbst in Deiner widersprüchlichen Vielheit; lass Dich weder von konservativen noch von progressiven Rollennormierungen einschränken!
Alles in Allem ist dies ein detailreiches, die Psyche des Menschen grundlegend erfassendes Buch – erschütternd und aufwühlend. Und um auf den triggerndenTitel zurück zu kommen: Es geht weniger darum, ob Tangotänzer die besseren Liebhaber sind, sondern darum wie die im Tango lebenden Frauen sich als Liebhaberinnen bewegen.
Ich wünsche dem Buch viel Erfolg und viele offene Leserinnen und Leser. Dank an Lea Martin für Deinen Mut.
(1) Da ich bereits Leas voriges Buch besprochen habe, wollte ich nicht noch einmal tätig werden. http://kroestango.de/empfehlungen/buecher/tangodreams-ein-buch-zum-beiseite-legen/
(2) Tangodanza 4/2020, S. 13. Gerhard Riedl hat über das Buch auf Grundlage der im Internet zu findenden Auszüge geschrieben https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/10/von-lov-ern-und-lov-sies.html
2 Comments
WOW, Danke lieber Fridolin (und lieber Thomas) für diese differenzierend tiefgängige Rezension des viel versprechenden, aber auch durchaus vieles sehr schön sagenden Buches von Lea Martin!
Durch die coronaren Restriktionen hat der Tango diesen Aspekt der Partnersuche ja gerade fast vollkommen verloren und kann nur in halbwegs festen Partnerschaften wirklich gepflegt werden. Aber ich erinnere mich noch gut … !
Ich fühlte meine Eindrücke und Gedanken beim Lesen des Buches hier gut gespiegelt und nachvollziehbar klar in kleinen Beispielen beschrieben.
Ja, auch ich finde, dass es für Männer wie Frauen so manches zu erzählen hat und einen Einblick gibt in das, was da unausgesprochen nicht immer, aber oft mitschwingt.
Und es hat meine Sehnsucht geweckt. Meine Sehnsucht nach Männern, die es endlich auch mal schaffen, ihre ganz privaten Empfindungen, Ängste und Sehnsüchte, Enttäuschungen und Hoffnungen in so schöne, nachvollziehbare Worte zu packen!
Aber wir Männer reden ja lieber über Ronda-Regeln und die richtige Musikauswahl. Vom Leid der maskulinen Lonely Hearts wird beim Tango höchstens südländisch aufgebläht gesungen. Ich sehe da noch ein großes gänzlich unbearbeitetes Feld für uns Sensible unter den Tangueros.
Aber wir haben ja gelernt, dass mann nur als strahlend Erfolgreicher Beachtung findet. Davon kann Lea Martin ja auch so einiges erzählen … .
Ich finde, dass dies ein wirklich gutes Buch ist, das ich auch gerne verschenken mag!
DANKE auch für das sensibel illustrierende tönende Beiwerk !
May I say – as for long I so wanted – that in over 10 years in Tango I never met a normal man? Espeacially the good dancers. Now I don’t want to go into definitions. Only that not being normal is not bad at all and many of them are wonderful human beings. But weird. I find weird people anyway more intersting and less boring. I would just like for the sake of diversity to meet a normal good dancer. I said it!
PS I met many ‘normal’ women.