Ich fürchte, dass ich nicht alle Erwartungen erfüllen kann, die ich womöglich mit der Ankündigung eines nackten Mannes geweckt habe. Denn ähnlich wie von der umstrittenen erotischen Milonga in Bautzen gibt es auch von der Szene keine Fotos, über die ich hier berichten will. Leider muss ich obendrein gestehen: Der Protagonist ist längst tot. Denn im Mittelpunkt meiner Geschichte steht Carlos Gardel, der größte Tangosänger aller Zeiten. Sein Geburtstag am 11. Dezember wird in Argentinien als “Nationaler Tag des Tango” begangen.
Meist ließ sich “Carlitos” nur von Gitarren begleiten. Zum Tango als Tanzmusik hatte er ein eher gespaltenes Verhältnis – wie Astor Piazzolla, der andere Koloss des Tango im 20. Jahrhundert. Beide wollten, dass die Menschen ihnen vor allem zuhören. Der große Unterschied zwischen den beiden: Der eine eint die Freunde des Tango in Argentinien. Tänzer und NichttänzerInnen. Bis heute. Der andere spaltet selbst die Gemeinde der Tanzenden.
Einiges spricht für die Annahme, dass Carlos Gardel unter den damaligen technischen Möglichkeiten schlicht seine Stimme schonen wollte, weshalb er nicht mit “Orchestas Tipicas” in riesigen Tanzsälen mit hohem Geräuschpegel auftreten mochte. In Begleitung von Orchestern hören wir ihn fast hauptsächlich in seinen Filmen, deren Musik unter Leitung von Terrig Tucci in New York eingespielt wurde, wo in aller Regel auch die Dreharbeiten stattfanden. (1)
Carlos Gardel singt volksliedhaft einfach. Und doch erinnert seine Stimme an italienischen Belcanto. Aber übertreibt es nie mit Schmelz und Vibrato. Er bleibt immer in der mittleren Lage, auch was die Lautstärke angeht. Wenn Carlos Di Sarli, einre der vier großen Bandleader des Tango einen neuen Sänger engagierte, schärfte er ihm stets ein: Schrei nie! Sing, wie Du sprichst. Nur zur Musik. Wie Gardel eben. In Buenos Aires ist die Erinnerung an ihn lebendig. Bis heute. Dass er schon 1935 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, als seine Karriere erst so richtig los ging, machte den Star zum Mythos. Unter den alten Portenos und Portenas kursiert der Satz: Carlitos singt immer schöner…
Franciso Canaro, mit dem er befreundet war, konnte Gardel zu seltenen Studio-Sessions mit seinem Orchester in Buenos Aires überreden. Hier geht es um die letzte von ihnen, die am 27.Oktober 1930 stattfand. Es war ein besonders heißer Sommertag. Ausgerechnet da fiel die Klimaanlage aus. Wie Canaro sich erinnert, reagierte der Sänger-Star kurz entschlossen mit einem Striptease:
“Gardel begann, seine Kleidung auszuziehen, Stück für Stück, bis er nur noch seine Schuhe anhatte und seine Brille, die er brauchte, um die Texte lesen zu können”. In diesem Moment habe der deutsche Tontechniker den Raum betreten und schockiert wegen dessen Aufzugs, Gardel Vorwürfe gemacht. Aber der Sänger war es gewöhnt, stets das letzte Wort zu behalten und brachte ihn mit einer witzigen Bemerkung zum Schweigen. (2)
Aus dem Jahr 1930 stammt auch eine Reihe von Kurzfilmen, in denen Gardel jeweils mit einem einzigen Stück auftritt. Heute würden wir sie wohl “Musikvideos” nennen. Eins hat sogar eine Handlung – die rührselige Geschichte um eins jener Kleidungsstücke, die ihm zum Dienstanzug geworden waren: Der Smoking. In zweien der Filme tritt zu Beginn je ein hochkarätiger Gast auf. Außer Francisco Canaro ist es der Komponist und Dichter Enrique Santos Disce´polo, dessen zornigen Tango “Yira yira” er singt. (3)
Je bekannter er wurde, um so seltener hielt Carlos Gardel sich in Argentinien auf. Er genoss das Leben eines reisenden Stars in Europa (vor allem Frankreich) und in den USA. An der Cote d’Azur traf er unter anderem Berühmtheiten wie Charly Chaplin und half 1931 Julio de Caro, mit dem er ebenfalls befreundet war, durch einen spontanen Auftritt bei dessen Premiere im “Palais der Me´diterrane´e” vor den Reichen und Schönen der Cote d’Azur über das Lampenfieber hinweg. In Frankreich drehte Carlos Gardel seinen ersten Spielfilm für Paramount: “Luces de Buenos Aires” (Die Lichter von Buenos Aires). Zum Soundtrack trug auch de Caro bei. Unter anderem unterstützte er Gardel bei der Komposition von “Tomo y obligo”. In dem kleinen Filmausschnitt in diesem Artikel erleben wir beide: Carlos Gardel mit seinem Lied, das zu einem seiner großen Hits werden sollte, und das Orchester seines Freundes.
Die beiden verbindet auch der gemeinsame Geburtstag – 1880 kam der eine zur Welt, genau neun Jahre später der andere. Dieser Zufall brachte den Impressario und Musikproduzenten Ben Molar auf die Idee mit dem “Dia del Tango”. Auf dem Weg zu De Caros Geburtstagsparty 1964 dachte er plötzlich: “Lustig”, sein Gastgeber und Carlos Gardel waren am selben Tag geboren worden – “zwei Wege des Tango: Die Musik und die Stimme”.
Aber Tango war zu dieser Zeit nicht eben “in”. Die jungen Leute mochten lieber die Beatles. Auch in Buenos Aires. Es bedurfte daher noch eines elfjährigen Zermürbungskampfes, bis Ben Molar die politisch Verantwortlichen 1975 dazu bewegt hatte, den Erinnerungstag auszurufen. Gerade noch rechtzeitig. Denn ein Jahr später putschte das Militär unter Führung von General Jorge Videla. Für den Tango brachen damit besonders schwere Zeiten an. Milongas galten den misstrauischen Machthabern als Gelegenheiten, nicht nur zu tanzen, sondern auch sich politisch zusammen zu rotten und Pläne gegen die Diktatur zu schmieden.
1983 wurde die Junta gestürzt. Damals begann auch die Renaissance des Tango – zunächst in Paris, von wo aus der Tanz Jahrzehnte zuvor den Aufstieg aus dem Kaschemmen von La Boca in die besseren Kreise der argentinischen Hauptstadt angetreten hatte. Dort brachten Hector Orezzoli und Claudio Segovia nun die Show “Tango Argentino” heraus – mit Juan Carlos Copes und Maria Nieves in den Hauptrollen. Über den Umweg zum Broadway in New York kehrte er in seine Heimat zurück und begann seinen Wiederaufstieg in Buenos Aires – mit akrobatisch agierenden Herren in schwarzen Anzügen und ihren leicht geschürzten Partnerinnen in freizügigen Kostümen, wie sie bis heute weltweit das Image des Tango als erotischster Tanz der Welt prägen.
Carlos Gardels Grabmal auf dem Friedhof Chacarita in Buenos Aires zeigt den Sänger selbstverständlich vollständig bekleidet. Im Dienstanzug. Zwischen Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand hält er eine Zigarette. In die linke stecken unbekannte Verehrer regelmäßig einen Strauß frischer Blumen. Dass “Carlitos” zum Lesen eine Brille brauchte, muss niemand wissen.
Als ich, nicht ohne einen Anflug von Ehrfurcht, vor dem Denkmal im riesigen Gräberfeld von Characita stand, schwitzend im gleißenden Sonnenschein, da kannte ich noch nicht die Geschichte, wie der Heros des Tango mit der Hitze im Plattenstudio umgegangen war. Ich kann nicht ausschließen, dass meine Andacht unter dieser Vorstellung gelitten hätte.
(1) http://www.todotango.com/english/artists/biography/597/Terig-Tucci ,
http://kroestango.de/aktuelles/carlos-di-sarli-der-glenn-miller-des-tango/
(2) siehe: Simon Collier, The Life, Music and Times of Carlos Gardel, Pittsburgh 2009, S. 189f.
(3) Todotango berichtet von 15 Kurzfilmen. http://www.todotango.com/english/history/chronicle/42/Gardel-fifteen-short-films/ Im Museo Casa Carlos Gardel sind diese Filme sowie Ausschnitte aus Langfilmen zusammengetragen und online kostenlos einsehbar. https://www.youtube.com/channel/UCxzPa4aVzUR9Y-rY7d3dIbQ/videos. Eine wunderbare Sammlung, die mich immer wieder zum Stöbern einlädt.