TangotänzerInnen neigen zur Völlerei. Einmal in der Woche Unterricht, dann ein oder zwei Milongas – das reicht vielen nicht. Sie wollen mehr. Manche können gar nicht genug bekommen. Deshalb gibt es Encuentros und Marathons, Festivals und Tangourlaube in allen mehr oder weniger sonnigen Winkeln der Welt. Verschiedene Formate, die alle nur einem Zweck dienen: Der Druckbetankung mit Tango. Möglichst viel in möglichst kurzer Zeit.
Ich will und kann hier keinen Vergleichstest anstellen. Nur so viel: Ich bevorzuge die Urlaubsvariante. Da hält sich der Dünkel in Grenzen – ebenso wie die Zahl der Teilnehmer (um die 40 höchstens) und die tägliche Drogendosis: Fünf Tage mit insgesamt zehn Stunden Unterricht und abends Milonga (inclusive Practica). Also fünf bis sechs Stunden Tango pro Tag. Brutto. Vielleicht noch eine Stunde Einzelunterricht. Dazu (je nach Jahreszeit) Sauna und Massagen, Wanderungen und Sightseeing. Tango meets Wellness. Das Ganze zwei bis vier Mal pro Jahr. Meiner Frau und mir reicht das. (**)
Tangourlaub ist für Lehrer kein einfaches Format – wenn sie es sich nicht einfach machen. Das liegt nicht zuletzt an der mangelnden Fähigkeit oder Bereitschaft etlicher TänzerInnen, ihre Fähigkeiten halbwegs angemessen einzuschätzen. In der Regel gibt es zwei Niveaugruppen. Doch viele sind zu stolz oder zu naiv, sich nach zwei bis drei Tanzkursen noch als Anfänger einzustufen. Darunter leidet häufig das Niveau der Gruppen, die für Mittelstufe und Fortgeschrittene angeboten werden. Da die LehrerInnen meist erst vor Ort sehen, was ihre SchülerInnen für eine Woche wirklich können, unterscheiden sich diese häufig nur in der Zahl der Figuren oder in der Perfektion ihrer Einstudierung. Eine Korrektur der Einteilung ist nur begrenzt möglich, weil sonst eine Gruppe unverhältnismäßig groß würde. Es erfordert daher viel Geschick und didaktisches Engagement, ein Angebot zu entwerfen, von dem (fast) alle Teilnehmerinnen etwas haben, ohne unter- oder überfordert zu sein.
Deshalb ist es ein beliebtes Mittel, mit den viel zitierten „Basics“ wie Umarmung, Gehen usw. zu arbeiten und dann ein paar Figuren anzubieten. Meist sind sie in beiden Gruppen ähnlich. So weit die für Lehrer bequeme Variante. In dem Kurs, den wir gerade absolviert haben, erprobten die beiden eine stärkere Differenzierung. Ich kann hier nur über den Teil für die Fortgeschrittenen berichten. Der Kunstgriff, den sie angewandt haben, bestand darin, das aktuell modische Element „Musikalität“ mit einem, nun ja, „analytischen“ Ansatz zu verbinden. Die nur auf den ersten Blick banale Ausgangsfrage lautete: Welchen Notenwerte entspricht, was wir in einem Takt tanzen? Das Normaltempo ist eine halbe, die Beschleunigung eine viertel Note. Verlangsamt haben wir es mit einer ganze Note zu tun.
Die meisten von uns sind an eher „erratisches“ Tanzen gewöhnt. Wir suchen zwar den Taktschlag für unsere Schritte. Aber im Lauf eines Stücks variieren wir instinktiv Tempo und Intensität je nach Musikerlebnis, Konzentrationsfähigkeit und Disziplin. So entsteht eine nicht immer sehr systematische persönliche „Choreografie“. Da Disziplin nicht meine Sache ist, empfinde ich es als willkommene Herausforderung, ein komplettes Stück lang strikt zwei Schritte pro Takt zu tanzen oder nach einem vorgegebenen Muster auf vier zu beschleunigen/auf einen zu verlangsamen – nicht weil dies so schön wäre (das kanns übrigens durchaus sein), sondern um mich bewusster zur Musik zu bewegen. Auf diesem Weg fortfahrend, kann auch der gute alte „paso basico“ zu neuen Ehren kommen. Wir tanzten seine Schritte. Weil sie (den meisten von uns Älteren jedenfalls) bekannt sind, konnten wir uns um so freier darauf konzentrieren, das Material auf verschiedene Weise zu dynamisieren oder zu entschleunigen kurz: damit zu spielen – nicht als Choreografie, sondern (siehe oben) als Mittel zur tänzerischen Selbstvergewisserung.
Derlei Einsichten sind für mich das Wichtigste, das ich aus einem Tangourlaub mitnehme. Doch ich will nicht verschweigen: Nicht alle fanden solche Übungen so spannend wie ich. Eine meiner Kurstanzpartnerinnen murrte gelangweilt, sie würde lieber eine neue Figur lernen. Aber ich will hier nicht fünf Tage Tanzkurs referieren, sondern nur einen kurzen, hoffentlich halbwegs exemplarischen Einblick in die Methode unserer Lehrer eröffnen – so weit ich sie verstanden habe. Den ein oder anderen neuen Schritt oder Ansatz einer Figur nehme auch ich selbstverständlich gern mit nach Haus. In diesem Fall war es das in die Schrittlinie der Partnerin ein- und auskreuzende Gehen. Ich hoffe, ich hab mir den Terminus „Caminar cruzado“ richtig gemerkt. Meine Frau war begeistert von den Anregungen für die Verzierungen der Folgenden bei dieser Art zu „TanGehen“.
Ein gemeinsamer Tangourlaub 40 verschiedener Menschen, die sich zum großen Teil vorher nicht gekannt haben, stellt nicht nur eine tanzpädagogische Herausforderung dar. Er hat auch eine soziale Seite. Schon im Kurs war es diesmal üblich, die PartnerInnenzu ständig zu wechseln. Dem Ziel einer bunten Mischung dienten auch „Tauschtandas“, in denen nach jedem Stück gewechselt wird. (***) Die Saat fiel auf ungewöhnlich fruchtbaren Boden. Ich habe noch keine Veranstaltung dieser Art erlebt, in der so konsequent (fast) jede(r) mit jedem/r tanzte – obwohl (oder vielleicht auch: weil) die Gruppe hauptsächlich aus Paaren bestand.
Ab und an wurden spielerisch „Mirada“ und „Cabeceo“ quer durch den Raum praktiziert. Doch üblich war eher die verbale Aufforderung. Codigo? Bürgerliche deutsche Höflichkeit. So wächst eine Gruppe von Fremden schneller zu einer sozialen Einheit auf Zeit zusammen. Zur Beschleunigung dieses Prozesses trugen auch Drei-Titel-Tandas bei. Regelmäßige „otros Ritmos“, also Non-oder Neotango, lockerten die Atmosphäre auf, ebenso die Möglichkeit, eine Cortina auszutanzen, wenn hinreichend Paare auf der Pista blieben. Zur Entspannung trug obendrein eine Kurzeinführung in den Swingtanz „Lindyhop“ bei. Da waren auch die besten TangotänzerInnen der Reisegruppe AnfängerInnen. So lernten alle gemeinsam und spielerisch ein Quäntchen Demut und konnten immer wieder herzlich lachen. Es hilft, wenn die TanzlehrerInnen sich nicht bloß für die „fachliche“ Seite des Kurses interessieren, sondern auch ihre Rolle als Sozialmanager annehmen. Schließlich geht es nicht nur um Tango, sondern auch um Urlaub. Sonst könnte ich ja gleich zu einem Marathon fahren. Oder mich bei einem Encuentro bewerben.
(*) Da ich von dem hier in Rede stehenden Tangourlaub auf Mallorca bereits auf Facebook berichtet habe, kann ich die Veranstaltung nicht mehr hinreichend „anonymisieren“. Wir waren mit Christiane Rohn und Constantin Rüger unterwegs. Organisiert hat das Ganze La Milonga Tangoreisen. Wenn dieser Text als Werbung verstanden werden sollte, kann ich das nicht verhindern. Ich versichere jedoch, ich habe keinerlei Vergünstigungen oder gar einen Preisnachlass erhalten. Wie immer hat den Artikel nur meine Frau vorab zu lesen bekommen. Die drei Videos habe ich im Lauf der Kurswoche aufgenommen. Sie zeigen ein swinginspiriertes Workout, die getanzte Kurszusammenfassung, sowie dem Höhepunkt des kurzen Showprogramms von Christiane & Constantin. Wer nicht gezeigt werden möchte: Bitte melden! Ich lösche dann, so schnelll ich kann.
(**) Zur Wahl einer Veranstaltung gibt es für uns zwei Kriterien: Den Ort und die Lehrer. Zur Ortswahl gehören eine Mindestqualität des Wetters, der Unterbringung und des Essens. Was den Ort angeht, lieben wir Abwechslung. Bei den Lehrer bevorzugen wir eher (aus unserer Sicht) bewährte Kräfte. Deshalb nehmen wir meist auch mindestens eins der Angebote von Berliner Tangoschulen rund um die diversen Feiertage wahr. Heimaturlaub.
(***) Dies Spiel zum schnelleren kennen Lernen gibt es in einigen Berliner Milongas.
4 Comments
ja, vielfach ist es so, dass Tango-Urlaube entspannt sind, da die Teilnehmer sich auch außerhalb des Tango vor Ort treffen, klönen und gemeinsame Aktivitäten unternehmen usw. Und es gibt übrigens durchaus auch Tangourlaube mit deutlich mehr als 40 Teilnehmern (mit Unterrichtsangeboten von 4 Lehrerpaaren), in denen es ebenso entspannt zugeht. Bislang habe ich selber nur an wenigen Marathons oder Encuentros teilgenommen, von daher möchte ich die nicht pauschal bewerten, will aber sagen: kommt drauf an …: Wenn der Veranstaltungsort gleichzeitig der Übernachtungsort ist, kann sich zumindest durch die Möglichkeiten der Begegnungen außerhalb des Tanzens gut ergeben. Ich weiß, dass sich viele Tänzer gezielt zur bestimmten Events (sowohl Tango-Urlauben wie auch Marathons oder Encuentros) verabreden und dann auch eine wunderbare gemeinsame Zeit genießen.
Ich mags halt lieber kleiner, lieber Martin.
Ja Thomas, wenn Du auf Tangourlaub stehst, musst Du halt mal nach La Rogaia kommen : -)
Danke ,lieber Thomas, für die lebendige Beschreibung ! Wir haben uns sehr darüber gefreut. Glücklicherweise gibt es viele unterschiedliche Angebote, jede / jeder kann das individuelle Tango Paket schnüren und loslegen. Inzwischen kommen zu den verschiedenen Events Tänzerinnen und Tänzer, die diese Zeit zum jährlichen Wiedersehen nutzen.
Es ist eine schöne Art, tanzend und “chillend” die Zeit zu verbringen –