In der real existierenden Tangowelt können wir Männer fast immer selbst bestimmen, wann wir tanzen und wann nicht. Ich pausiere in aller Regel, wenn mir die Musik nicht gefällt oder wenn ich mich vom Tanzen ausruhen möchte, weil es zuvor zuviel Musik gegeben hat, die mir gefiel. (*) Dann kann eine Frau, die mich auffordert, schon mal „stören“ – egal ob sie mir das mit einem Blick signalisiert oder mit ihrer Stimme. Damit das klar ist: Ich will hier nicht die 147. Auflage der Debatte um den Cabeceo.
Eine Milonga funktioniert wie das richtige Leben: Wenn Frauen sich ein Stück mehr Autonomie herausnehmen, müssen wir Männer ein Stück abgeben. Schlimm? Nein. Das 21. Jahrhundert ist nicht mehr ganz frisch. Da darf nicht nur in die Aufsichtsräte von Großkonzernen ein wenig mehr Gleichberechtigung einziehen (viel ist es dort ja immer noch nicht) – sondern auch in die Tangoszene. Das gilt keineswegs nur für das Balzritual zur PartnerInnenwahl, sondern auch für das, was anschließend auf dem Parkett passiert.
Geht alles gut, tanze ich später mit der Tanguera, der ich zunächst einen Korb gegeben habe. Geht es noch besser, dann rede ich mit ihr ein paar Worte darüber – entweder gleich, weil sie in meiner Nähe ist, oder später zu Beginn jener Tanda, die wir hoffentlich doch noch tanzen. Neulich hat mich umgekehrt eine Frau gefragt, warum ich eine Weile nicht (mehr) mit ihr getanzt habe. Unser kleines Gespräch konnte das Missverständnis ausräumen, das zu meinem „Boykott“ geführt hatte. Zum Glück hat sie die Initiative ergriffen, sonst… Wir Männer sind eben, wie wir sind.
Seit einiger Zeit wird nun verstärkt darüber diskutiert, ob die Frauen nicht auch im Tanz selbst selbständiger agieren sollen.(**) Diese Entwicklung hat sicher nicht zuletzt damit zu tun, dass immer mehr Tänzerinnen die führende Rolle übernehmen. Kein Wunder. Denn die Unwucht bei der Verteilung der Geschlechter in den Milongas hat sich verschärft. Woher aber zusätzliche Führende nehmen? Statt auf die Gnade der Männer zu warten, machen immer mehr Frauen es lieber selbst.
Meistens spielen sie dann „den Mann“. Sprich: Sie führen. Aber sie kennen die andere Rolle. Sie wissen, wie es sich anfühlt, eingeklammert, herumgeschubst oder -gezerrt zu werden. Deshalb führen sie häufig (nicht immer) sensibler als wir Jungs. Einige praktizieren auch Rollentausch. Sie führen/folgen abwechselnd. Manchmal sogar mitten in einemStück. Meine Frau und ich trauen uns das bisher nur in der figurenarmen Milonga.
Doch das ist die eher konventionelle Variante des Neuen. Was eine Tänzerin neulich auf Facebook gefordert hat, geht deutlich darüber hinaus: „Wir Frauen sollten uns viel öfter trauen einfach mal mitzuführen (auch aus der folgenden Position heraus).“ (***) Wer einmal einen Apfel vom Baum der Selbständigkeit gekostet hat, neigt dazu, nach mehr zu streben. Der klassische Kommentar des konservativen Tangueros zu selbständigen Tanzpartnerinnen: Das habe ich nicht geführt. Oder allgemeiner formuliert: Da kann doch nur Kuddelmuddel herauskommen. Kann, muss aber nicht – wenn beide erstens guten Willens und zweitens aufmerksam sind. Da passt ein Begriff, der mir meist zu esopathetisch ist: Achtsamkeit. Und die propagieren im Tango doch ohnehin. Oder?
Die erwähnte Initiativtänzerin hat festgestellt, dass es durchaus zahlreiche Männer gibt, die sich „gern inspirieren“ lassen. „Sie wissen, dass das ihr Spektrum erweitert und sie wissen es zu schätzen, dass dadurch verschüttetes Tanzgut reaktiviert wird oder neues entsteht.“ Nun ja, was die Repräsentativität dieser persönlichen Sozialforschung angeht, bin ich eher skeptisch. Ich kann nur von mir sprechen: Ich mag das. Ich war allerdings auch schon mal irritiert, wenn meine Folgende anfing, Führungs impulse einzustreuen. Allzu häufig kommt es ja immer noch nicht vor. Aber nach einer „Schrecksekunde“ genieße ich den Dialog, wenn La Tanguera eine selbständige Partnerin ist – und nicht bloß mit Verzierungen um sich schmeißt (von denen ich im Idealfall nichts merke) und ansonsten kongenial „dahinschmilzt“ in meinen Armen. So angenehm das auch sein mag.
Wenn das Schule machte – hätten wir es womöglich nicht nur mit einem „Tango nuevo“ zu tun, sondern mit einer neuen Art von Paartanz? Möglicherweise. Aber ich bin nicht hinreichend arrgoant, um mal eben in einem Blogbeitrag die Tanzwelt umzustülpen. Auf 100 Zeilen können das nur Leitartikler. Und als Journalist bin ich in Rente gegangen. Aber wenn ihr Ladies unsere viel zu festgefügte Tangowelt ein wenig aufmischtet – das fände ich spannend. Punkt, vorerst. Sollte das auch nur halbwegs gelingen, sehen wir weiter.
(*) Es sei denn, ich hab mich aus Abenteuerlust einmal wieder in eine jener „High-nosed-stiff-lipped“ Milongas gewagt, von der ich hätte wissen sollen, dass ich sie besser meide. Da sitz ich auch schon mal ziemlich unfreiwillig. Aber das ist ein anderes Thema.
(**) Derlei Überlegungen gibt es schon länger. Aber inzwischen verstetigen sich nach meinner Beobachtung die einschlägigen Wortmeldungen auf Facebook. In den (jedenfalls Berliner) Tangoschulen gibt es auch außerhalb der Queer-Szene) zunehmend Workshops zu den Themen „Open role“ oder Rollentausch.
(***) siehe Mari Olschewski am 15. März 2018 auf Facebook und die anschließende kurze Diskussion.
6 Comments
Super Beitrag!
Ich habe im schönen NRW, speziell im Ruhrgebiet, die Erfahrung gemacht, dass zumindest in der Neoszene die Mädels ohne Scheu auffordern können, und die Jungs sich auch gerne auffordern lassen. Natürlich bekommt Frau auch schon mal einen Korb, aber meist werden die Gründe auch sofort sehr nett geklärt. Ich versuche auf meiner Worldmusicmilonga ein Selbstverständnis dafür entstehen zu lassen und habe das Gefühle, dass das auch ganz gut klappt.
Die Möglichkeit, ein wenig als Folgende zu führen, so dass ein spannender Dialog entsteht, ist beim Neotango auch sicherlich eher gegeben, denn mehr Freiheit und erhöhte Achtsamkeit auf beiden Seiten machen die Improvisation doch sowieso erst möglich.
Improvisation kann doch nicht nur vom Führenden ausgehen… was für ein Ungleichgewicht!!
Probiert es in der Hauptstadt mal aus. Der Weg bis hier ist weit, da vergehen viele Monde. Und Körper lernen langsam, da vergehen noch mehr Monde.
Zwischendrin werden vielleicht Frauen nach einem Tanz erwarten, dass sie jetzt aber auch mal dran sind mit dem Führen. Hoffentlich nur von ihrer/m Kurspartner/in.
Zum Auffordern – natürlich sollen auch die Damen zuerst nicken oder reden. Bei Partnermangel – ich komme gerade von einer Milonga mit moderatem Damenmangel – sollte man zurückhaltend agieren. Hauptsache es hat vorher *irgendeine* Art von Blickkontakt gegeben – “Luft” fordert man/frau besser nicht auf. Nutzt ja nichts, wenn ein Hauen und Stechen einsetzt. Es nutzt nur was, wenn ich vorher zumindest meine Lebenspartnerin oder auffordere zum Tango mitzukommen. Als wenn sie nicht schon dabei gewesen wäre…
> „Wir Frauen sollten uns viel öfter trauen einfach mal mitzuführen (auch aus der folgenden Position heraus).“
Hier die Gegenposition zu dieser Forderung:
“The two partners in tango play different roles in correspondence with their respective gender. Gender roles are violated, for example, when the woman refuses to surrender, when she neglects her duty to make the man feel comfortable, when she resists him with disobedience, when she interferes with his lead or initiate her own steps […]”
http://yangningyuan.blogspot.de/2015/01/the-gender-roles-in-tango.html
Der Artikel von Paul Yang, den Jochen zitiert, hat nach meiner Erinnerung schon vor Jahren Staub aufgewirbelt, als er zum ersten Mal erschien. Wer es amüsant findet, sich über derlei geschlechterpolitisch, nun ja: seeehhhr konservative Positionen zu ärgern oder zu amüsieren (nach dem Motto: waaas, sowas gibts noch?) ist besten bedient, wenn er dem angebotenen Link folgt – wer die Meinung teilt, selbstverständlich auch.
> „High-nosed-siff-lipped“ Milongas
Wenn schon, dann “stiff”.
Ich bin Englisch-Lehrer, habe diesen Ausdruck aber noch nie gehört/gesehen. Ist das deine eigene Erfindung?
Es gibt die “stiff upper lip”, das ist aber was ganz anderes:
(keep) a stiff upper lip
to keep calm and hide your feelings when you are in pain or in a difficult situation He was taught to keep a stiff upper lip and never to cry in public. Their reaction contrasts sharply with the stiff upper lip of the English.
https://www.oxfordlearnersdictionaries.com/definition/english/lip#lip__351