Warum fordere ich eine Frau in einer Milonga zum Tanzen auf? Es ist heutzutage kein unproblematisches Unterfangen für einen Mann, diese Frage erstens ehrlich, zweitens halbwegs unterhaltsam und drittens unter Umtanzung möglichst vieler genderpolitischer Fettbehältnisse zu beantworten. Deshalb zunächst das Einfache: Ich fordere sie auf, weil ich sie kenne und weiss, dass wir beide gern miteinander tanzen. Aber wie siehts mit Unbekannten aus?
Wieder das Einfache zuerst: Ich fordere sie auf, weil ich sie nicht kenne. Ich bin immer wieder neugierig auf neue Tänzerinnen. Zum Glück lebe ich in Berlin. Hier kann ich es genießen, dass die Tangogemeinde immer weniger überschaubar wird und obendrein Tangotouristinnen aus aller Welt mir ermöglichen, in einer einzigen „local milonga“ mein Tanzabenteuer „In Strangers Arms“(*) zu suchen. Ich will nicht unhöflich sein, aber immer ausschließlich dieselben Tänzerinnen – so gut sie auch sein mögen – finde ich ähnlich langweilig wie immer dieselbe Musik. (**)
Häufig schaue ich einer für mich neuen Tänzerin zunächst auf… die Schuhe. Trägt sie Sneakers oder Ähnliches, dann kann ich annehmen, dass sie (auch) führt. Also handelt es sich um eine erfahrene Tanguera. Wenn ich Glück habe, ist die zeitweise Übernahme der anderen Rolle nicht spurlos an ihr vorüber gegangen, und sie legt das Konzept des aktiven Folgens offensiv aus. Das mag ich.
Zwischenbemerkung (I): All die waffenscheinpflichtigem Ultrahighheels mit den quietschbunten Applikationen habt Ihr aus meiner Sicht allein für Euch gekauft, liebe Ladies. Um meine Aufmerksamkeit zu erregen, braucht Ihr Eure Füsse nicht gesundheitsschädlich zu maltraitieren.
Wichtig sind auch die Augen – zumal, wenn ich sie nicht sehen kann. Denn behält eine Tänzerin sie auf der Pista geschlossen, schliesse ich daraus auf ihre Bereitschaft, sich auf ihren Partner vorbehaltsarm einzulassen. Vielleicht wird sie dann nicht so offensiv folgen wie die Sneakerin. Aber Innigkeit übt einen anderen, keineswegs geringeren Reiz auf mich aus als Selbständigkeit.
In den meisten Milongas sind wir Männer mit einer Mehrheit von Frauen rund um die Tanzfläche konfrontiert. Oft sitzen oder stehen sie auch nebeneinander an der Bar wie auf der berühmten „Hühnerstange“. Und nun? Die offensiv zur Schau gestellte Länge eines Rockschlitzes oder die Tiefe eines Decollete´s vermögen in aller Regel so wenig wie die Superschuhe, mich dazu zu bringen, einer von ihnen meinen Cabeceo anzutragen – unabhängig von Alter, Ausmassen und Bemalung der Präsentatorinnen. Es mag spiessig sein, vielleicht auch überheblich klingen: Pronocierte Sexyness find ich oft eher peinlich als (im Wortsinne) reizend. Da meist mehr als genug davon vorhanden ist, bietet sie obendrein, wie der alte Milonguero Aristoteles wohl gesagt hätte, keine differentia spezifica.
Zwischenbemerkung (II): Als gesetzter Herr im Rentenalter mit Glatze, von Statur einen knappen Kopf unterhalb des Gardemasses, habe ich einen ungefähren Begriff von meiner eigenen körperlichen Attraktivität. Dies Wissen hält mich in aller Regel auch davon ab, Frauen aufzufordern, die meine Töchter sein könnten – falls dies Alterssegment überhaupt in einer Milonga vertreten sein sollte.
Was bleibt also als Lockstoff, der auf mich wirkt? Sorry, mir fällt nur ein reichlich unbestimmter, ziemlich altmodischer Begriff ein: Charme. Eine offene Miene, Lächeln, Freundlichkeit. (***) Oder anders formuliert: Die Tänzerin meiner Wahl muss sympathisch auf mich wirken – was immer im Einzelnen diesen Eindruck auslösen mag. Eine solche Konstellation reicht jedoch sowenig wie eine errrrotisch gemeinte Pose, wenn la Tanguera alemana nicht mit ihrer Aufmerksamkeit am sozialen Geschehen der Milonga teilnimmt.
Auf meinem Kurztrip nach Buenos Aires hab’ ich ein klares Verhalten der „viejas porteñas“ erlebt. Entweder sie waren sichtbar anderweitig beschäftigt – mit Freundin oder Smartphone. Oder sie ließen ihren Blick deutlich und andockbar über das Geschehen schweifen. Da blieb kein Rätsel offen wie hierzulande so oft: Guckt sie auf mich, guckt sie nicht auf mich oder ist sie mit ihren Gedanken ganz woanders? Ich hab mir abgewöhnt, länger als höchstens eine (gefühlte) halbe Minute zu rätseln, wie der Blick einer von mir anvisierten Tänzerin zu interpretieren sei. Dann schweift mein Blick weiter – es sei denn, es ergibt sich die Gelegenheit zu einem Gespräch (zum Beispiel über Kurzsichtigkeit oder Vor- und Nachteile des Cabeceo). An dessen Ende passt vielleicht die verbale Verständigung auf die nächste Tanda.
Selbstverständlich gehört zur Partnerinnenwahl auch die Beobachtung, wie jemand tanzt. Aber auf einer gut besuchten Milonga lässt sich das nicht immer ohne weiteres feststellen. Außerdem muss sich, was von außen gut aussieht, in der Umarmung (jedenfalls mit mir) keineswegs immer gut anfühlen. Vor allem aber: Woher soll ich wissen, wie eine mir bis dato unbekannte Frau tanzt, wenn sie vor mir noch niemand aufgefordert hat? Also bin ich am Ende doch wieder auf meine höchst subjektive Interpretation von Äußerlichkeiten der Tänzerin im Ruhe(zu)stand zurückgeworfen.
Neulich stand ich eine Weile nicht weit entfernt von einer Frau fortgeschrittenen Alters mit langen grauen Haaren; kräftig bis athletisch gebaut; geringfügig größer als ich. Aufmerksam studierte sie das Geschehen und strahlte für mich weder Langeweile noch Genervtheit aus, sondern gelassenes Selbstbewusstsein – obwohl sie im Gegensatz zu ihren jüngeren Nachbarinnen nicht aufgefordert wurde. Sie war offenbar lange genug im Geschäft, um nicht mehr mit ihren Marktchancen zu hadern. Wahrscheinlich eine gute Tänzerin sein, mutmaßte ich in meiner Phantasie. In der Realität bemerkte sie meinen Cabeceo sofort. Unsere Begegnung entpuppte sich als einer jener magischen Momente, wie sie im Tango gelegentlich vorkommen. Sie trug übrigens keine Sneakers.
Zum Schluss kann ich nicht leugnen, dass auch ich gelegentlich jenen Reizen erliege, die zur Wirkung zu bringen, sich manche Tangoschönheiten so viel Mühe geben. Jedenfalls wenn ich mich traue (siehe oben). Und erhört werde. Manchmal fühlt sich das, was ich gesehen habe, in enger Umarmung ziemlich gut an. Aber eine Garantie für eine tänzerisch tolle Tanda sind derlei Äußerlichkeiten noch lange nicht. Daher halte ich es mit den Berliner Eisbären. Die wollen, ausweislich ihrer Werbung, nur spielen. Ich will nur tanzen. Da sind die sekundären Geschlechtsmerkmale wirklich zweitrangig.
(*) Beatriz Dujovne, In Strangers Arms, The Magic of the Tango, Jefferson, 2011. Die Argentinoamarikanerin beschreibt darin anschaulich und fesselnd ihre Erfahrungen (nicht nur) in Buenos Aires. Für mich eins der besten Tangobücher überhaupt.
(**) Experimente statt Langeweile, mYlonga, 13. 4. 2018
(***) Aus Gesprächen mit Frauen weiß ich, wie schwer sie aufrecht zu erhalten sind, wenn jemand einen großen Teil des Abends von uns Männern ignoriert wird.
15 Comments
Chapeau, mein lieber Waldorf! Auch, wenn’s dir vielleicht nicht zur Werbung gereicht: Das hätt’ ich Wort für Wort genauso geschrieben!
Many thanks, Mr.Statler, aber: “Wort für Wort…” Machst Du Dich da nicht a bisserl kleiner als Du bist? Auf den Bildern, die ich von Dir kenne, siehst du verdammt nach Gardemaß aus.
„Gardemaß“ musste ich erst googeln: 1,88 cm – ja, da bin ich noch 4 cm drüber.
Dennoch tanze ich sehr gerne auch mit kleinen Frauen, vor allem seit über 30 Jahren mit meiner werten Gattin. Das Gedöns, das man beim Tango häufig um die Größenverhältnisse macht, verstehe ich überhaupt nicht.
Klingt alles vernünftig – ich bleibe freilich nur einen Zentimeter und nicht fast einen Kopf unter Gardemaß. Also beim Tango bin ich zumeist oben und die meisten guten Tandas gelingen mir mit Frauen die zumindest nicht unten sind. Ist halt so, bei bevorzugter enger Umarmung mit etwas Schräglage finde ich das auch nicht weiter verwunderlich.
Zu Mirada/Cabeceo … das ermöglicht einem in der Tat die aufmerksameren Tanzpartner herauszufischen. Wobei ich mich gegebenenfalls “unauffällig” etwas positioniere, ohne dass ein Zacken aus meiner Krone oder ihrem Krönchen bricht.
Ich will weder traditionalistisch noch arrogant werden, aber: der Aufforderungskultur mir Cabeceo enthält halt ein wenig mehr als: irgendwas mit gucken…
Lieber Thomas,
herzlichen Dank für diesen nicht nur interessant und klar, sondern auch Sympathie weckend schön geschrieben Beitrag! Ich jedenfalls finde mich da voll wieder mit meinen Erfahrungen und Überlegungen zum Erleben auf der BerlinerTangopiste. Da bin ich einfach auf der Suche nach Menschen, die mit mir tanzen mögen und halte mit offenem Blick Ausschau nach Gesichtern, die sich mir freundlich zeigen, vermisse aber hier auch oft diese kontaktbereite Offenheit der erfahrenen Ladies, von der du aus dem mekkanischen BA berichtest. Und ich vermisse in dem ach so emanzipierten Berlin eine selbstverständliche Kultur des Aufforderns und aktiven Cabeceo seitens der Frauen! Da gibt es doch einen starken Hang zum ‘Gewählt-werden-wollen’, der sich einerseits über die männliche Erotiksehnsucht beklagt, sie aber doch oft auch zu bedienen versucht, anstatt sich selber per stimmlicher oder blickenden Anfrage für einen zu entscheiden, dem man zutraut dem eigenen Tanzvergnügen Raum zu geben!
Vielen Dank für die Blumen, lieber Tom. Einige von uns machen es den Ladies aber auch nicht sehr leicht. Ich gebe keine Körbe, wenn ich aufgefordert werde, andere Jungs schon. Und wenn ich dann deren Gesichter sehe… da ist noch einige, ich sag mal: gesellschaftliche Evolution männlicherseits nötig. Und nun der Werbeblock: Ich hab was darüber geschrieben in meinem Post: Warum ich (nicht) gern aufgefordert werde.
Zu den “Jungs” die Körbe geben, weil sie sich irgendwie überfordert, überrumpelt oder sonstwie über… fühlen, kann ich nur, angelehnt an Fisherman´s Friend, sagen: “Ist sie zu stark, bist Du zu schwach!” Aber vielleicht, im Laufe der Evolution, wer weiß…
Lieber Tom,
ich sehe keinen Widerspruch zwischen Erotik und offensivem Auffordern von seiten der Damen. Im Gegenteil, Damen die hascherlmässig auf den Boden blickend auf den Gardemaß-Ritter warten, und sich nicht zu schauen trauen, finde ich nicht sehr erotisch.
Sympathie ist für mich die Voraussetzung zum Tanzen. Wer mir nicht ausreichend sympathisch ist, kommt nicht auf Umarmungsabstand an mich heran. Und: ich bin altmodisch – für mich haben Sneakers auf der Milonga nichts verloren.
Vielen Dank für die Blumen, lieber Tom. Einige von uns machen es den Ladies aber auch nicht sehr leicht. Ich gebe keine Körbe, wenn ich aufgefordert werde, andere Jungs schon. Und wenn ich dann deren Gesichter sehe… da ist noch einige, ich sag mal: gesellschaftliche Evolution männlicherseits nötig. Und nun der Werbeblock: Ich hab was darüber geschrieben in meinem Post: Warum ich (nicht) gern aufgefordert werde.
Sei doch bitte nicht so streng, lieber Christian. Manche Dancingsneakers sind erheblich schicker als viele angejahrten “korrekten” Tanzschuhe von uns Männern. Ich weiß, Du würdest so etwas nicht anziehen…
Lieber Thomas, ich finde deinen Beitrag so nett geschrieben. Ich habe aufgehört mich zu fragen, warum manche Führende (Männer wie Frauen) mich auffordern und manche nicht: sind es die Schuhe, das Outfit, das Alter, weil frau unbekannt ist? Egal, wenn es rennt, rennt es und ich ich sitze nicht, auch bei Frauenüberschuss. Wenn es nicht rennt, gehe ich nach Hause. Es gibt ein morgen 🙂 Wahrscheinlich ist es die Energie die ausgestrahlt wird, das Ausschlaggebende um aufgefordert zu werden.
Ein schöner Artikel über ein viel diskutiertes Thema. Danke für Deine Sicht aus männlicher und gesetzterer Perspektive darauf.
Danke liebe Laura, ich lese auch Eure Artikel aus anderer Perspektive mit großem Gewinn.