Nachrichten aus der Provinz: Beim Festival „Siempre Tango“ in Karlsruhe spielen das Sexteto Milonguero, das Orchesta Romantica Milonguera und das Solo Tango Orchesta. Dazu treten vier Showpaare auf, darunter Noelia Hurtado & Carlitos Espinosa und Clarisa Aragon & Jonathan Saavedra. Der Eintritt für die Gran Milongas kostet 30 bis 35 Euro, der Milongapass für sechs Veranstaltungen 110 Euro. Da möchte ich glatt nach Karlsruhe fahren. Clarisa & Jonathan kann ich zwar auch beim 5. EMBRACE-Festival sehen, das am kommenden Dienstag in Berlin beginnt. Aber drei der angesagtesten Live-Bands des internationalen Tangozirkus auf einem Haufen – so etwas bekomme ich in der deutschen Metropole des Tango an einem Wochenende nicht geboten, obwohl alle drei einzeln schon hier gewesen sind. (**)
Um nicht missverstanden zu werden: Ich möchte als Tangotänzer nirgendwo anders in Deutschland leben als in Berlin. Was die Auswahl an Milongas angeht, aber auch die Auswahl an TanzlehrerInnen, ebenso die Zahl der einheimischen TänzerInnen wie nicht zuletzt die Menge der Gäste aus aller Welt, die auch außerhalb besonderer Veranstaltungen hierher kommen – das Angebot in dieser Stadt ist hierzulande einmalig.
Deshalb ist es wohl auch nur hier möglich, ein attraktives Festival überwiegend aus „Bordmitteln“ der heimische Szene zu bestreiten. Aus diesem Fundus schöpft das Community Festival. Innerhalb einer Woche finden rund 30 verschiedene Veranstaltungen statt – von der Pra´ctica bis zur Gran Milonga. Dazu zählt auch eine gemischte Tango-Techno-Fete im „Kitkat“, dem bekannntesten Sexclub der Stadt.
Auf dieses „weltweit einmalige Format“, so die Ankündigung, ist man in Berlin jedoch nicht ganz freiwillig gekommen. Denn dem ersten EMBRACE-Festival 2014 ist im Jahr zuvor eine grandiose Festival-Pleite vorausgegangen(**). Diesen Makel mochten die wichtigsten Protagonisten des Tango in Berlin nicht auf sich und ihrer Stadt sitzenlassen. Sie taten sich zusammen:
„In ‘Runden Tischen’ wurde das erste „Tango Community Festival“ konzipiert. Federführend im ersten Jahr waren die EMBRACE-Initiatoren, Horst Martin und Sven Elze, sowie die Veranstalter der Internationalen Tango Festivals Berlin, Michael Rühl, Judith Preuss und Thomas Rieser. Seit 2015 wird alles in einer Facebook-Gruppe sowie in Runden Tischen gemeinsam auf den Weg gebracht.“ (****)
Wie es zum Titel EMBRACE kam, ist eine zu schöne Geschichte, um sie nicht zu erzählen:
Im „November 2013 feierte die tangobegeisterte Fotografin Ishka Michocka die Finissage ihrer Ausstellung in der Berliner Galerie aquabit. Selbstverständlich wurde getanzt. Und irgendwann kamen die Gäste auf die Idee, den Namen des Projektes in die Tat umzusetzen: urban embrace. Sie gingen hinaus auf die Auguststraße und umarmten jeden Passanten, der nicht schnell genug davonlief. Die meisten mochten es. Genau das war es, was sie wollten, dachten sich Sven Elze und Horst Martin – Tangoprofi und Musiker der eine, der andere Hobbytänzer und PR-Fachmann im Filmbereich: eine Umarmung der Tangogemeinde untereinander, aber auch für ihre Stadt und die vielen Gäste, die jedes Jahr nach Berlin kommen, nicht nur zum Tango tanzen…“ (****)
Bis heute ist die „Umarmung der Tangogemeinde untereinander“, genauer gesagt: Die Zusammenarbeit das wichtigste Problem des Festivals. Denn sie haben durchaus unterschiedliche Interessen – so stellt es sich mir aus der Halbdistanz des lokalen Beobachters dar. Wer etwa eine größere Tangoschule betreibt und davon lebt, muss an seine fixen Kosten denken. Er/sie hat Verantwortung für seine Familie, aber auch für seine MitarbeiterInnen. Das schärft die Vorsicht gegenüber Risiken – gerade nach der Pleite eines bis dahin unbekannten Veranstalters 2013. Kleinere Einheiten haben es da leichter.
In diesem Jahr scheint mir das Festival auf der Stelle zu treten. Es kommt nicht bloß kein „großes“ Live-Orchester. Nicht alle „besonderen“ Veranstaltungsorte der vergangenen Jahre waren wieder zu haben. Andere wurden (noch) nicht gefunden. Neue Ideen kann ich nicht entdecken. Den seit längerem diskutierten „Festivalpass“ gibt es immer noch nicht. Offenbar hat man keinen Schlüssel zur Verteilung der Einnahmen gefunden, der alle Beteiligten befriedigt.
Noch ein wichtiger Unterschied zwischen Berlin und Karlsruhe (oder anderen Städten): Anders als Wohnen ist Tangotanzen hier immer noch sehr günstig zu haben. Nach langem Zögern erhöht der ein oder andere Veranstalter den Eintrittspreis seiner Milonga inzwischen um 50 Cent auf sechs Euro. Für Karlsruhe habe ich im Internet sieben Euro gefunden. Kein Wunder also, wenn für Live-Events Eintrittspreise von 30 Euro aufwärts in der Szene nur schwer durchzusetzen. 10 bis 15 Euro scheinen die Schallgrenze zu sein. Davon aber die ist Gage eines Top-Orchesters allein mit Tangofreaks nicht zu finanzieren. Bei EMBRACE 2017 hat sich gezeigt, dass zusätzliches Publikum aus der nicht tanzenden Bevölkerung so leicht nicht zu akquirieren ist.
Ohnehin steht Livemusik nicht ganz oben auf der Prioriätenliste der Berliner TangotänzerInnen. Im vorigen Jahr etwa spielte das Sexteto Milonguero in einer ziemlich kleinen Milonga zum Discount-Preis von 10 Euro – weil sich eine unerwartete Lücke in ihrem Tourneeplan aufgetan hatte und die Musiker den Betreiber kennen. Der Auftritt fand an demselben Tag in demselben Haus statt wie eine eingeführte Konserven-Verköstigung. Deren Stammgäste mussten an dem Hinweis auf das Sexteto vorbei. Das Interesse: Minimal!
Ähnliche Schnäppchen sind immer wieder einmal möglich. So spielte an anderer Stelle das „La Juan d’Arienzo“ vor vollem Haus für zehn Euro. Doch mit derlei Zufällen lässt sich kein Festival planen. Vor kurzem endete der Auftritt der Electrotango-Band Otros Aires bei einem Eintritt um die 30 Euro mit einem Defizit. Der Gig war gut besucht – aber nicht gut genug, um rentabel zu sein. Die Gagen international bekannter Showpaare als Attraktionen sind leichter zu zu finanzieren als die kompletter Orchester. Sie geben Workshops (plus Einzelstunden) in mehreren der angeschlossenen Tanzschulen.
Einen Kontrast zu EMBRACE bietet das Contemporary Tango Festival – nicht nur, weil es den Schwerpunkt auf zeitgenössische Musik legt.(*****) Es findet eine Woche lang umsonst und drinnen im Berliner Hauptbahnhof statt. Es wird von der Werbegemeinschaft seiner Geschäftsleute gesponsert. Ihnen gilt der Tango als Imagefaktor. Da lässt sich freier kalkulieren. Auch hier arbeitet man mit einer Mischung aus Ortskräften und (zum Teil internationalen) Gästen. Die Öffnung zur zeitgenössischen Musik eröffnet mehr Variationsmöglichkeiten und Raum für neue Ideen. Die Veranstalter des EMBRACE, so höre ich, gönnen sich in diesem Jahr durchaus bewusst ein schöpferisches Durchatmen, um 2019 mit neuen Ideen und Initiativen zu überraschen.
(*) Das Programm des Festivals gibt es unter dieser Adresse: http://embrace-berlin.de
(**) In Berlin spielt diesmal das Bandonegro Tango Orchesta aus Polen, das sich anschickt, auf den Spuren von Solo Tango zu wandeln, das Berlin Community Tango Orchestra unter der Leitung von Korey Ireland, sowie das Orchesterprojekt von Roger Helou und Christan Gerber, das sich in diesem Jahr mit Alfredo Gobbi beschäftigt. Zwei der Bands treten in unnterschiedlichen Locations an einem Abend auf.
(****) Aus der EMBRACE-Selbdarstellung auf der Homepage des Festivals).
(*****) Thomas Kröter, Festival „Embrace“ in Berlin – Wie Phoenix aus der Asche ,Tangodanza 4/2014
(*****) http://www.lacasadeltango.de/shop/tickets/locura-tanguera-die-tango-dinnershow/
(******) Der vorläufige Facebook-Auftritt 2018: https://www.facebook.com/contemporarytangofestival/
12 Comments
Auch ich liebäugle jährlich mit dem Tango-Festival in meiner Heimatstadt Karlsruhe, unter anderem weil ich mich mit dem Tango-Community Festival in meiner Wahlheimat Berlin nicht 100% anfreunden kann. Vielleicht weil der Festivalgemeinde genau das fehlt, was das Festival im Namen trägt, nämlich die Community. Diese wird durch die vielen verschiedenen Orte doch seltener zusammengeführt, als es vielleicht gut wäre, um einen Hauch von Gemeinschaftsgefühl entstehen zu lassen. Einige Berliner gehen einfach weiter dahin, wo sie immer hingehen und die Gäste fädeln sich irgendwo dazwischen und sind nicht selten verwundert, dass es den Festivalpass noch immer nicht gibt. Man kann sich schon glücklich schätzen, wenn einem neue Gesichter im Verlauf des Wochenendes auch ein zweites oder drittes Mal über den Weg laufen und sich so ein Gefühl des “Wiedersehens” entwickelt. Nichtsdestotrotz werde ich natürlich auch dieses Jahr wieder einige der Embrace-Milongas besuchen, na klar. Und vielleicht klappt es im kommenden Jahr dann endlich einmal mit Karlsruhe.
Vielleicht sehen wir uns ja mal, liebe Laura. Ich werde auf jeden falls bei der Eröffnung sein, weil ich einmal in dem schicken asiatischen Loft II tanzen möchte. Die Community ist, glaub ich, ganz simpel: Zunächst die Gemeinde – die Stadt Berlin. Aber wir wissen ja beide, dass die Berliner Tangogemeinde ein höchst fragmentiertes Gebilde ist. Doch die Worte “Embrace” und “Community” machen sich halt werbemäßig ziemlich gut. Die Geschichte mit dem Pass ist ein ökonomisch höchst vertracktes Problem, hab ich gelernt. Bei einem Veranstalter, einer Kasse – easy. Aber wenn man die Einnahmen auf mehrere verteilen will, gibts riesige Probleme. Wenn es eine deutsche “Einzellfallgerechtigkeit” werden soll, muss dann genau Buch geführt und abgerechnet werden. Bei Pauschalisierungen haben die größeren Veranstalter Bauchschmerzen, weil die kleineren tendentiell bevorzugt werden undsoweiter…. (so hab ich es jedenfalls verstanden)
Lieber Thomas, das würde mich freuen. Vielleicht ja heute abend.
Natürlich sind “Embrace” und “Community” tolle Werbehülsen, ich finde es nur schade, wenn es eben hauptsächlich bei diesen Hülsen bleibt. Nun ja…
Auf spaeter. Bin familiär kurz enttangoisiert. Viel Spaß!
Bei einem kurzen Blick kann ich – als Ortsfremder – die Website des Embrace-Festivals nicht so recht von den Berlin-Tango-Veranstaltungskalendern unterscheiden. Wohl auch eine Art “Werbegemeinschaft”.
Das hast du richtig gesehen, lieber wirdschonwerden. Der Grundgedanke des Festivals ist nach meinem Verständnis: Wir vermarkten das normale berliner Tangoangebot unter einem griffigen Label national und international. Ist ja auch wirklich mehr als in jeder anderen deutschen Stadt. Dazu werden einige Highlights organisiert: Bands, Tänzer, Orte. In den vergangenen Jahren waren das immer eine ganze Reihe von “goodies”. Diesmal sinds halt weniger und eher “Stammgäste”. Aber das soll ja wieder anders werden…
Tango-Live-Musik ist für Veranstalter finanzell hartes Brot, hier eine Kalkulation:
https://tangofuego.de/Images/Tangodanza_Livemusik.pdf
Schade ist es, neben dem wunderbaren Berlin Tango Community Orchestra (wer hat sich bloß diesen sperrigen Namen ausgedacht?) nicht ein anderes internationales Tangoorchester zu hören…. Eine Gran Milonga nur mit Konservenmusik hat für mich eine Vakanz. Liegt es wirklich an den Gagen? Ist es lokal verbreiteter Geiz? Ich weiß es nicht, blicke aber etwas neidisch nach Karlsruhe. Das Embrace wird sicher gut, doch schön wäre es, wenn es einen umfassenden Veranstaltungsplan gäbe, damit man ein bisschen planen kann – sorry, ich bin berufstätig und nicht so spontan wie Andere. Bei Hoy milonga die Veranstaltungen zu suchen ist nicht unbedingt komfortabel, und etwas länger als sieben Tage Vorlauf….. siehe oben……
Ich wünsche den Organisatoren und allen Teilnehmern viele schöne Tandas, in diesem Sinne
Wenn ich’s richtig sehe, lieber Christian, hat sich Korey Ireland das Prinzip schon vor Jahren in Washington ausgedacht (schau mal auf Youtube nach). Er formt in einer lokalen Gemeinschaft aus tangobegeisterten Profi- und Amateurmusikern ein Orchesta tipica. Der Name ist dann in mehreren Städten als Markenzeichen immer wieder verwendbar. Was den Veranstaltungskalender angeht – ich hab ihn, versteckt hinter einem meiner berüchtigten (*) bereits im Titel dieses Beitrags verlinkt: http://embrace-berlin.de Ich schätze, wir sehen uns irgendwann in dieser Woche.
Olaf Tanzt Du magst es langweilig und billig finden – aber die Berliner Einkommen, gerade im unteren und mittleren Bereich unterscheiden sich leider extrem von denen in Karlsruhe! Schon jetzt fällt es mir mit meinem eher schmalen Sozialarbeiter-Gehalt nicht leicht, beim von die kritisierten zu “billigen” Berliner Tango mitzuhalten; die meisten guten Tänzer*innen aus den sehr guten Berliner Tangoschulen gehen eher besser bezahlten Tätigkeiten nach, weil es sich die anderen ( v. a. auch aufgrund der hohen Mieten) einfach kaum noch leisten können, regelmäßig zu Kursen, etc. zu gehen…Gentrifizierung jetzt auch beim Tango???
Habe mittlerweile zu viele sehr traurige Augen von z. B. Freiberufler*innen gesehen, für die regelmäßiges Tanzen oft einfach nicht mehr finanzierbar ist – und das macht mich eben sehr, sehr traurig…
Ich finde jedenfalls, dass die Leute mit viel Mühe auch dieses Jahr wieder ein tolles Embrace-Festival organisiert haben und freue mich schon sehr auf die vielen tollen Veranstaltungen 🙂 Und mit dem Berlin Tango Community Orchester haben wir hier etwas ganz, ganz besonders Tolles! Mittwoch im Walzer wird auf jeden Fall ein außergewöhnliches Highlight!
Ja, die Provinz…von Karlsruhe aus gesehen ist Berlinos Aires nur ein kleiner Punkt am Horizont. Den Gag mit dem Fluchhafen verkneif ich mir jetzt mal. Schätze, der Einzugsbereich von Karlsruhe ist nicht viel kleiner als der von BA. Was die Zahlungsbereitschaft des Tangopublikums angeht – da bin ich nach 10 Jahren Leben in Tangoland immer noch am Staunen. 6 fuffzich oder 7 Euro für ne Milonga, less than 2 Euro pro Stunde Spaß – Hallo? Ja, vielleicht gibts ein paar Leute, die wirklich so wenig Kohle haben, aber die kann man zur Not gezielt unterstützen. Ich fände 10 bis 12 Mäuse auch noch okay. Arm, aber sexy? Nicht wirklich. Es braucht dringend weniger Geiz in Tangoland.
Fahrt: 100€, Unterkunft: 100€, Spesen 100€, Festival 100€ – wirklich billig wären beide besagten Festivals für mich nicht.
Und natürlich kämen ggf. noch viele, viele Einzelstunden hinzu – um mit den “guten Tänzer*innen aus den sehr guten Berliner Tangoschulen” mithalten zu können. 😉