Elio Astor hat außerordentlich schnell auf meinen Beitrag geantwortet. Freundlicherweise nicht auf Italienisch, sondern auf Englisch. Vielen Dank dafür. Um der besseren Sichtbarkeit willen hat er mich gebeten, seinen Text gleich am Ende dieses Artikels zu platzieren, statt in der Kommentarspalte. Ich sehe keinen Grund, ihm diese Ausnahme zu verweigern. Darüber hinaus möchte ich seine Antwort erst einmal ein/zwei Tage wirken lassen, ehe ich meinerseits erwidere.
Ich weiß nicht, ob Elio Astor den Namen Annette Postel kennt. Aber der “King of Neotago” schätzt einen Begriff, den sie kreiert hat: “Tangotaliban”. (FB 16.1. 22.54 Uhr https://m.facebook.com/story.php?story_fbid=1347311865470562&id=315217352013357) Zum ersten Mal tauchte er vor einigen Jahren in einem Brief an die “Tangodanza” (2/2013) auf. Darin beklagte sich die Sängerin und Kabarettistin über die ihrer Ansicht nach eintönige Beschallung mit Musik aus den goldigen Zeiten in unseren Milongas und berichtete, wie sie sich in diversen Veranstaltungen mit ihrem Musikgeschmack ausgegrenzt fühlte. Es schloss sich eine zum Teil hochpolemische und emotionale Debatte an, deren Kontra-Positionen im damals noch Ton angebenden Blog von Cassiel nachzulesen sind https://tangoplauderei.blogspot.com. Bis heute schwillt einigen AnhängerInnen des traditionellen Tango der Kamm, wenn sie das Wort hören oder lesen. Angestoßen durch ein Video aus ihrem neuen Programm, habe ich sie angeschrieben, weil ich in einem Beitrag an die Kontroverse erinnern wollte. Aber so brennend fand ich’s dann doch nicht. Mein Eifer erlahmte schnell. Nun hat seine Majestät mich aus meiner Lethargie gerissen.
“Unser grande Elio”, wie er in seinen Kreisen schon Mal kumpelehrfürchtig genannt wird https://www.facebook.com/mari.olschewski, hat die Polemik gegen die “EdO-istas” auf seine Weise weiter gedreht. Den diesbezüglichen FB-Post illustrierte er mit dem Bild eines mampfenden Menschenaffen – damit auch jeder weiß, wie rückständig die Anhänger des traditionellen Tango aus seiner Perspektive sind. Warum er ausgerechnet jetzt ein Wort aufgreift, das schon so historisch geworden ist, dass ich Mühe hatte, einen Beitrag zu schreiben, kann ich nur vermuten.
Vielleicht hat er es erst jetzt wahrgenommen oder er wollte etwas Reklame für eine seiner Veranstaltungen machen, in deren Ankündigung er nun eines auftaucht. Mit Blick auf die “Neolonga roma” hat er eine “Etimologia del termin ‘TALEBANO’ (del Tango) verfasst. Der Neotango-Lichtkünstler Andreas Lange, der als Produzent von Visuals regelmäßig mit Elio A. zusammenarbeitet, könnte ihn darauf gebracht haben. Er gebrauchte ihn jüngst einer kurzen Auseinandersetzung innerhalb der Neo-Community: “wie es aussieht, gibt es einen neuen tango-taliban.” Der Bremer Veranstalter und DJ/VJ Volker Marschhausen hatte in der “Tangodanza” (1/2020) als Voraussetzung von Musik auf Neo-Veranstaltungen eine “Tango DNA” gefordert. (siehe dazu: https://www.facebook.com/thomas.kroter.5/posts/2731270093619210 Für den Italiener und viele andere in dieser Szene sind dagegen alle aktuellen Klänge “Neotango”, auf die sich in Tango-Umarmung tanzen lässt.
Mich mutet Elio Astors Polemik etwas seltsam an. Denn sie unterstellt den Traditionalisten eine Macht, über die sie vielleicht einmal verfügt haben, aber nach meiner Wahrnehmung längst nicht mehr verfügen. Viele Tänzer seien ratlos, behauptet dagegen Elio. Sie akzeptierten ihren Neigungen zuwiderlaufende Regeln, weil sie Angst hätten, nicht als Teil des Systems Tango anerkannt zu werden. Ich habe keinen hinreichenden Live-Eindruck von der Neo-Szene und ihre Größe. Aber auf Facebook tummeln sich ihre Protagonisten mit zahlreichen Ankündigungen von Neolongas, Marathons usw. Auch in Berlin gibt es wenige, aber durchaus florierende Milongas. Selbst in Buenos Aires, so lese ich, hat der Neotango (welcher auch immer) inzwischen Einzug gehalten. Und Cassiel ist fast völlig verstummt.
Am Ende aber wird Elio Astors Argumentation für mich so skuril, dass ich mich frage, ob die Google-Übersetzungsmaschine noch bei Troste ist. Denn da ist nicht nur vom sozialen Druck in der Szene die Rede, sondern auch von einer Branche, die angeblich mit Hunderten von Millionen Dollar die Richtung bestimme. Antikapitalismus geht ja immer noch ganz gut. Aber mal ernsthaft: Hinter dem – gesamtgesellschaftlich gesehen – bisserl Tradi-Tango soll eine Millionenbranche stehen? Das gilt doch wohl eher für die Poprocktechno-Musik, die Elio & Co. bevorzugen. Bisher hat der Text noch keine großen Wogen geschlagen. Er ist, wie gesagt, auf Italienisch verfasst, und noch niemand seiner JüngerInnen hat sich der Mühe einer Übersetzung ins Englische oder Deutsche unterzogen.
Annette Postel http://www.annette-postel.com jedenfalls, die Erfinderin der “Taliban” sieht die Chose erheblich entspannter. Im Gegenteil… Sie bilanziert in ihrer Antwort auf meine Anfrage zu ihrem Text von 2013:
“Zum Glück ist in den Jahren danach viel passiert. Eine Diskussion wurde angestoßen. Und ich habe den Eindruck, durch die vielen verschiedenen Angebote an Milongas kann sich jeder seine Musik heraussuchen, die er betanzen will und kann… Das umstrittene Wort habe sie “nicht bereut”, schreibt sie. “Im Gegenteil, ich wurde sehr oft darauf angesprochen, weil der Begriff wohl auch anderen Leidtragenden sofort gepasst hat. Er richtet sich ja auch nicht gegen Traditionsliebhaber, sondern gegen Moderne-Bekämpfer. Das ist ein riesiger Unterschied.”
Wie die Koexistenz von, ich sag’s Mal flapsig: Tradi-Tango und Neotango funktionieren kann, erleben ich exemplarisch im Berliner Tangoloft: Mona Isabelle, die Hausherrin legt ein gelegentlich auch für mich verrückte Mischung auf. Aber sie vergisst dabei nie den klassischen Tango – im original oder in aktuellen Coverversionen. Hier treffe ich auf ihren Milongas immer wieder Tänzerinnen und Tänzer, die sonst der traditionellen Szene zuneigen. Gelegentlich legt sie gemeinsam mit Michael Rühl auf, dem Nestor der traditionellen Szene. Im Loft finden aber auch Veranstaltungen mit rein traditioneller Musik statt. Beim jährlichen Contemporary Tangofestival (CTF), das sie alljährlich gemeinsam mit Andreas Rochholl veranstaltet im Berliner Hauptbahnhof veranstaltet, treffen sich Tänzerinnen und Tänzer aller Schattierungen. http://kroestango.de/aktuelles/notizen-vom-und-zum-ctf-2019/Für mich ist es der Höhepunkt meines Tangojahres, wenn hier das Quinteto Angel um den Bandoneonisten Christian Gerber gemeinsam mit Gästen immer Freitag nachts sechs Stunden live klassischen Tango spielt. Koexistenz ist also möglich – wenn alle Beteiligten bereit sind, einander zu tolerieren.
Was wir, behaupte ich, nicht brauchen können, sind RechthaberInnen, die sich als alleinige Lordsiegelbewahrer der angeblich “originalen” Tango-Tradition aufspielen. Der Hang zum Alleinvertretungsanspruch geht mir aber auch bei manchen “Neos” auf den Wecker. Um eine Formulierung von Annette Postel aufzugreifen: Es geht weder darum, die Moderne zu bekämpfen, noch darum, die Tradition für verstaubten Plunder zu erklären. Der Tango ist ein weites Feld. Darin haben viele verschiedene Vorlieben Platz – vor allem wenn wir bereit sind, uns selbst nicht immer (tango)tierisch ernst zu nehmen – so wie Annette Postel es in ihrem Programm “Alles Tango oder was?” vorführt. http://www.annette-postel.com/programme/tango/
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9 Comments
Gut geschrieben … habe es gerne gelesen. Wie Du richtig schreibst, ist ein Allgemeinvertretungsanspruch vollkommen daneben; Tango ist eine Subkultur. Wenn jemand zu Popmusik oder Elektro tanzen möchte, dann ist es vollkommen in Ordnung (solange es im Vorfeld transparent gemacht wird – ich habe gestern abend nach Jahren wieder Kevin Johansen „Sur“ hören müssen … ich finde den Titel so langweilig wie damals in meiner Anfangszeit im Tango).
Einen Aspekt möchte ich vielleicht etwas stärker betonen: Warum muss eigentlich verbal derartig aufgerüstet werden? Tango-Taliban (das ist ja mittlerweile fast Folklore), Liebhaber des älteren Tangos aus Bs As werden mal als „regelversessen“, „reaktionär“ usw. usf. etikettiert. Unschöne Exzesse sind dann „Tango-Nazi“ AfD-Vergleiche und weitere Geschmacklosigkeiten. Wollen wir das wirklich?
Ich habe mir angewöhnt, nicht mehr auf jedes Krakelen zu reagieren. Und diese verbale Kaäftemeierei fällt fast immer auf die Akteure zurück. Miese Gedanken lassen den eigenen Tango leiden.
Ich kann die Beobachtungen von Thomas nur bestätigen: In der Rhein-Main-Neckar Tango-Scene (Karlsruhe bis Frankfurt) existieren die verschiedenen Stile konstruktiv nebeneinander und die TänzerInnen besuchen stilistisch “reine” Milongas genauso wie gemischte. Wobei der Trend hier zu Milongas geht, die trad. Tangos, Tango Nuevo, Neo-Tango und Non-Tango gemischt spielen. Es exisiteren auch mehrere sehr erfolgreiche Doppel-Milongas und -Festivals, die auf zwei Tanzflächen unterschiedliche Stile bedienen – ein Luxus, den wir vor allem den Tanzschulen mit mehreren Räumen verdanken. :-).
Sogar die früher extrem traditionalistische Darmstädter Tango Initiative hat jetzt schon zwei Jahre hintereinander einen Tag der Darmstädter Tango Tage stilistisch geöffnet. Man merkt zwar noch, das sie auf der Suche nach dem richtigen Format sind, aber sie suchen.
Insgesamt würde ich sagen: Die TänzerInnen sind viel entspannter und flexibler (und lustvoller) als viele (Promi-)Köpfte der Tango-Szene. JA, es funktioniert: Jeder kann nach seiner Façon selig werden. Wir sollten uns da nicht in völlig unnötige Grabenkämpfe reinziehen lassen.
Was das Benennen der Musik (nicht der Veranstaltungen) angeht, ist mir eines wichtig: Der Begriff “Non-Tango”. Denn auch wenn ich liebend gern zu den Doors, zu Armstrong und zu den Dire Straits Tango tanze – es sind keine Tangos sondern sie entstammen anderen Musikrichtungen und diese (Jazz, Teckno, Drum’n’Bass, Blues, Pop, KLassik,…) als Neo-Tango zu summieren macht die Kommunikation schwieriger und sorgt für mehr Verwirrung als für Klarheit. Non-Tango sagt klar: Es ist musikalisch kein Tango, auch wenn wir Tango drauf tanzen.
Und selbst für den (nicht traditionellen) Tango wünsche ich mir mehr begriffliche Unterscheidung. Denn nicht alles was dazu gehört, ist tatsächlich “neu” und was heute “Contemporary” ist, kann morgen schon ein Klassiker sein.
Auf Facebook hat Nath StrokeBloke den folgenden Text publiziert.(19.1.2020, 113.16 Uhr) Es handelt sich nicht um einen Kommentar zu meinem Beitrag. Aber er behandelt dasselbe Thema mit einer entgegengesetzten Tendenz. Er plädiert für strikte Sortenreinheit: Tangotänzer tanzen zu Tangomusik, Neotänzer zu Neomusik. Keine Vermischung. Jede Gruppe für sich. Ist das eine Lösung der Probleme zwischen den unterschiedlichen Geschmacksgruppen? Ich meine: Nein. Dies Verfahren verfestigt nur die Differenzen, statt Verständnis für einander zu wecken und womöglich die Grenzen durchlässig zu machen.
“What is Alt (alternative) Tango?
This is an oft asked question when people inquire about our Alt Tango events. Let me start answering that question by talking about traditional Argentine Tango a little.
Argentine Tango is a fantastic improvised dance that started in Argentina and has been danced for over a century. In that time it has spread internationally, with classes and milongas (social dances) being held in the vast majority of countries world wide. Tango is danced in a lead/follow partnership within an embrace. Traditionally Tango is danced to one of three rhythms, tango-tango, tango-vals or tango-milonga. Indeed at a traditional milonga you should be able to hear all of these rhythms.
As Tango spread to countries with different cultural backgrounds dancers started to use the Tango embrace along with the lead/follow rules of Tango to dance to rhythms and music other than those used traditionally in Argentina. There are a multitude of reasons for this, so I am not even going to attempt to list them! Suffice it to say there are dancers who really enjoy dancing to the traditional Argentinian rhythms as well as other interesting music and rhythms from their own culture – I include myself in this group.
However, trying to mix traditional Tango music and alternative rhythms at a social evening can really spoil the structure of the night, lead to confusion, and of course not every dancer wishes to step outside the box and embrace the skills needed to accomplish a beautiful dance to non-traditional music. The two seem to mix like oil and water. By separating them as traditional and alternative dancers attending events know ahead of time exactly what to expect.
To my mind it makes sense to provide an evening of dancing that is one or the other. So, as far as the embrace, the connection, the improvised steps and the feel of the dance is concerned there isn’t really a difference between the two. The difference lies in the music that the dancers use to create their dances with. And that is all. It’s alternative only in as much as the music used steps away from the three traditional rhythms of Argentine Tango.
Why do that? Isn’t there already enough traditional music to dance to? The simple answer from my perspective is, why not? I adore dancing Tango to traditional music, but I also love being able to express myself using Tango rules to a whole plethora of music from across the globe. For me it’s not about dancing to one or the other, rather it’s about embracing the joy to be had in all music.”
Gerhard Riedl hat sich ebenfalls mit Elio Astors Text auseinandergesetzt. Hier der Link https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/01/er-hat-das-bose-wort-verwendet.html
Eine beliebte Reaktion auf unliebsame Wahrheiten ist, etwas in den Raum zu stellen, was nie gesagt wurde und dann in Grund und Boden zu kritisieren .
Ich habe nie die Existenzberechtigung von Alternativer Musik bestritten. Alternative Musik und Events werden immer ihre Anhängerschaft haben. Sie können durchaus auch als kreative Ausflüge innerhalb des Tango-Universums gesehen werden. Daher ist es als Ausdruck von Toleranz zu sehen, wenn bspw auch Alternative DJanes auf meinen eigenen Events auflegen.
Ich betone lediglich die Notwendigkeit der begrifflichen Trennschärfe bei der Bezeichnung von unterschiedlichen Ansatzpunken bei DJing und Events. Überwiegt der Anteil von Tango (DNA), sollten diese als NeoTango und umgekehrt bei überwiegendem Anteil von Worldmusik als Alternative, Crossover oder Fusion bezeichnet werden. Es geht mir also ausschließlich um klare Begriffe und die damit verbundenen Orientierungsmöglichkeiten für TänzerInnen.
Ich fnde Milongas mit nur einer Tanzfläche und Musikmischung aus Tradi und Non/Neo auch schwierig. Nach einer Erfahrung kommen Non-Tänzer auch besser mit Tradi klar als umgekehrt. Ich treffe also bei Mix-Veranstaltungen also viele meiner Tradi-Lieblingstänzerinnen nicht.
Und einige meiner Nontango-Lieblingstänzerinnen finden Tradi-Musik langweilig oder sie wollen keinen so engen Körperkontakt.
Das bedeutet, es sind einfach zwei Sorten Publikum.
Veranstaltungen mit zwei Tanzflächen dagegen gefallen mir sehr gut. Man kann nach Belieben wechseln und sich so immer etwas “frische Luft” holen.
“18 DJanes, representing the entire spectrum of Neotango music genres”
https://www.facebook.com/groups/neotangorave/permalink/3062430867124671/
erfreulich, dass die diskussion über das thema, was ist neotango, doch etwas bewirkt hat. von in “homöopathischen dosen” über “überwiegend” zu “entire spectrum of Neotango music genres”.
Der Begriff »Tango Taliban« stammt übrigens von Carlos Libedinsky, Narcotango aus den Jahr 2005:
https://www.mopo.de/wie-junge-musiker-den-tango-revolutionieren-19931202
Na, ob Annette Postel den Artikel gelesen hat? Aber egal – ihr Brief an die “Tangodanza” hat den Begriff in der deutschen Tangoszene bekannt gemacht. Aber danke für die Lesefrucht.