Ich hab’ mich schwer getan mit diesem Text. Erstaunlich schwer. Aber warum? Ein paar Beobachtungen von einem kleinen Festival: “Farbenspiele des Tangos”. Dazu ein paar Bemerkungen. Einfühlsam. Launig. Kritisch. Das Kerngeschäft in diesem Blog. Doch diesmal hakte es. Vielleicht lag’s daran, dass ich mir vorgenommen hatte, etwas Positives zu schreiben – weil ich die Vielfalt im Berliner Tangoloft loben wollte, dessen Existenz gerade gefährdet ist. Wer außer Mona Isabelle bringt es fertig, die Berliner mit Volker Marschhausens Gesamtkunstwerk seiner “Tanguerilla Visual Poetry” bekannt zu machen? Ansonsten ist diese auf den ersten Blick von außen so vielfältige Szene der Stadt ja doch eher traditionslastig.
Mein Problem: Den ersten Abend fand ich irgendwo zwischen eher belanglos (die Lichteffekte) und grottig (die Musik). Es war das dritte Mal, dass ich Elio Astor II, den “König des Neotango” als DJ erlebte. Ich will niemandem seinen Geschmack madig machen, aber ich kann’s nicht ändern: Mein Ding ist das nicht. Von Pop bis Techno alles als “Tango”, Abteilung “Neo” einzugemeinden, auf das sich in paariger Umarmung tanzen lässt… Ich hab mich an anderer Stelle in diesem Blog bereits ausführlich darüber verbreitet. (*)
Auf der anderen Seite muss ich Elio dankbar sein. Er hat mir auf diese Weise eine der schönsten Milongas mit traditioneller Musik beschert, die ich seit einiger Zeit erlebt habe. Denn ich brauchte eine “Ohrenspülung”, wie ich sie sonst nach zuviel und (für mich) zu langweiliger EdO-Musik anwende. Ich fand dies Therapeutikum im “La bruja”, in Berlin-Schöneberg, wo an diesem Samstag Andreas von Maxen auflegt (**) – eine ebenso hoch energetische wie abwechslungsreiche Mischung, die mich begeisterte. Außerdem traf ich hier eine Reihe von Tänzerinnen wieder, die ich schon lange nicht mehr im Arm gehabt hatte. Die Folge war eine so große Produktion von Adrenalin nebst Endorphinen, dass ich zum ersten Mal seit langen wieder eine “Doppelschicht” mit zwei Tanzveranstaltungen an einem Tag gewagt habe. Zum Glück.
Denn anderenfalls hätte ich einen der nicht so häufigen Auftritte des “Magic Signs Orchestra” in Berlin verpasst. Das MSO ist eines der aktuellen Projekte von Carlos Libedinsky. Man hört seiner Musik (immer noch) deutlich an, dass er der Gründer und Mastermind von “Narcotango” war, einer der großen Gruppen des Electrotango. Seine neues Quartett (teils mit Gästen) verbindet akustische Instrumente mit Live Electronics. Vor allem aber: Es improvisiert von A bis Z – dirigiert von Carlos nach einem System, das der argentinische Musiker Santiago Vazquez entwickelt hat. (***)
Auf mich übt diese Musik einen in der Tat magischen Reiz aus. Ich finde es immer wieder faszinierend, darauf zu tanzen. Und nicht nur ich. Die Pista ist jedesmal voll – von Tänzerinnen und Tänzern, die ebenso das Abenteuer lieben, sich zu Klängen zu bewegen, von denen nicht einmal die Musiker wissen, wohin sie führen und wo sie enden werden. Volker Marschhausen kreiert dazu nicht einfach das, was wir in meiner Jugend eine “Lightshow” nannten. Er schafft mit seinen Farbspielen neue Räume bis hin zur Illusion der Dreidimensionalität.
Das funktioniert auch mit den Konserven, die er selbst oder andere DJs mischen – in Berlin auf kongeniale Weise Danusia aus Polen. Die Verbindung von Musik und bewegten Farben schafft es immer wieder, einen rauschähnlichen Zustand zu initiieren. Selbst ich kopfgesteuerter Mensch hab irgendwann aufgehört, zu raisonieren: Tanz ich jetzt zur Musik oder zu den Farben, lenkt mich das eine nicht vom anderen ab? Irgendwie klappt die musikalisch-tänzerische Einheit – und das fast unfallfrei, ganz ohne offene oder internalisierte Ronda-Polizei. Ich geb’ allerdings zu: Die Chose bringt mich an den Rand der Überforderung. Zu lange kann ich dieses Übermaß an Reizen nicht ertragen. Einen oder mehrere Tage an einer “Neotang-Rave” teilnehmen? Unvorstellbar. Aber um gerecht zu bleiben: Auch beim klassischen Tango halte ich die Dosen erheblich geringer als die Freaks.
Dass ich so lange für diesen Artikel gebraucht habe, hängt allerdings auch mit einer weiteren Attraktion zusammen, die Mona Isabelle für ihr “Festivalito” angagiert hatte: Die Bondage-Künstlerin Sawa Sagit und ihre Partnerin Anne Gehren. Die beiden führten eine japanische Variante der künstlerisch-erotischen Fesselung vor: Shibari. (****) “Was hat das denn mit Tango zu tun” lautete noch der freundlichste Kommentar, der dazu auf Facebook zu lesen war. Unter den Menschen, die besonders heftig schimpften, taten sich einige hervor, die ich persönlich schätze, nicht zuletzt wegen ihrer tänzerischen oder anderen künstlerischen Fähigkeiten.
Mich haben einige Äußerungen an jenen Geist erinnert, unter dem ich in meiner Jugend gelitten habe, als Konservative gegen alles ihnen Fremde ein “gesundes Volksempfinden” propagierten. Ich hab’ mich entschieden, hier Videos aus dem Loft zu publizieren, auf denen – ich betone: a u c h – die Fesselung zu sehen ist. Wer den Shitstorm dazu lesen mag, sollte selbst auf FB suchen. Um’s ebenso vorsichtig wie klar zu sagen: Mein Ding ist das auch nicht. Wer etwas praktizieren oder sich daran erfreuen möchte, dessen Ursprung in historischen Fesseltechniken der japanischen Polizei liegt… Bitteschön! Aber muss das sein? Doch ich mag deshalb nicht in unbeherrschte Schimpfkanonaden verfallen. Ich habe das Standfoto vom Schluss der Performance hier gepostet, weil es dokumentiert, wie zärtlich die beiden Frauen miteinander umgegangen sind. Ansonsten zitiere ich in derlei Fällen gern den rheinischen Katholiken Konrad Adenauer: Gotten Garten ist groß!
(*) http://kroestango.de/aktuelles/warum-eine-neolonga-nicht-mylonga-ist/
(**) Er wechselt sich wöchentlich mit Thorsten Möbis ab. Näheres unter https://www.hoy-milonga.com/berlin/de
(***) http://www.carloslibedinsky.com.ar/en/magic-signs-orchestra
(****) Eine Kurzinformation gibt dieser Artikel: https://www.sensualropes.de/pages/about . Wer’s genauer wisen will: https://en.wikipedia.org/wiki/Japanese_bondage , https://de.wikipedia.org/wiki/Hojōjutsu
3 Comments
Mit dem ihr eigenen Temperament hat Alessandra Seitz aus Wien in ihrem Blog einen Beitrag zur “Berliner Bondage-Debatte” veröffentlicht. Höchst empfehlenswert: http://tan-do.net/atango/2019/10/26/butter-bei-die-fische-bondage-loftbestien-und-tangopaepste/
[…] Ich möchte hier noch gerne den geschätzten Bloggerkollegen aus Berlin Thomas Kröter mit seinem zugehörigen Artikel verlinken, zum einen weil ich seine Arbeit sehr mag, zum anderen, weil er sich, mit eigenen Worten, so schwer getan hat mit dem Artikel 😉 : http://kroestango.de/aktuelles/von-fesseln-und-farben/ […]
Viiielen Dank…