Das Wort „Milonguero“ hatte keineswegs immer jenen schwärmerischen Klang, mit dem es heutzutage die Ohren und Herzen europäischer TangotänzerInnen erfüllt. In den goldenen Zeiten des Tango galt der Milonguero eher als Nichtsnutz, der sich die Nächte in den Tanzdielen von Buenos Aires um die Ohren schlug und tagsüber schlafend oder von seinen Erlebnissen schwadronierend dem lieben Gott die Zeit stahl. Wo er seinen Lebensunterhalt hernahm, blieb sein mehr oder weniger offenes Geheimnis. Im Alter ist die Existenz der jungen Wilden von einst oft nicht weniger prekär. Aber die letzten überlebenden „viejos Milongueros“ werden heute als hochangesehene Zeitzeugen goldener Tangokultur gefeiert.
Mit bald 67 Jahren stehe ich an der Schwelle zum besten „Viejo Milonguero“- Alter. Tänzerisch kann ich sicher nicht mit den Tangopas vom „El Beso“ oder so mithalten. Dafür ist meine Rente (halbwegs) sicher. Kein Problem also, die Nacht zum Tag zu machen und ein lockeres Leben als „ Milonguero alemano“ zu führen, zumal ich in Berlin lebe und täglich zwischen mehreren Veranstaltungen auswählen kann. Selbst von meiner tangotanzenden Frau hätte ich kaum Einspruch zu fürchten – solange ich meine Pflichten als Hausmann nicht allzu sehr vernachlässige. Im Weg steht mir ein anderer: Ich.
Es gab Zeiten, da bin ich bis zu fünf Mal in der Woche tanzen gegangen. „Wenn ich’s weniger als drei Mal schaffe, krieg’ ich schlechte Laune“, lautete mein Standardspruch. Damals. Und heute? Drei Mal sind mir oft schon zu viel. Meistens läuft es auf das Luthersche Maß hinaus: „In der Woche zwier…“ Nun kennen wohl fast alle von uns ein periodisches An- und Abschwellen der Tanzlust. Aber heutzutage gibt es einen zentralen Unterschied für mich: Der Baisse folgt nicht automatisch eine Hausse an der Börse meiner Freizeitgestaltung.
„Warum nur, warum?“ sang der legendäre Nachtschwärmer Udo Jürgens. Für versierte Kolumnisten und Blogger wie Harald Martenstein oder Gerhard Riedl ist das keine Frage. Sie wissen alles. Und das besser. Sie hätten sofort und pointengespickt eine griffige These zur Hand. Ich nicht. Meine Pointe besteht erst einmal darin, mich exhibitionistisch in öffentlicher Selbsterforschung zu suhlen.
Früher war bot mir der Tango einen Ausgleich zum manchmal öden, oft aber aufreibenden Job des politischen Hauptstadtkorrespondenten in Berlin: Flucht in eine andere Welt. Schuhe gewechselt, die ersten Schritte getan – schon waren Merkel und Co. hinter einer musikalischen Wand von Carlos di Sarli bis Osvaldo Pugliese verschwunden. Reden in der Milonga? Bloß nicht! Da hätte mich ja jemand auf die Politik ansprechen können. Heute halte ich gern den ein oder anderen Plausch. Denn mit der Arbeit ist auch der regelmäßige Kommunikationszusammenhang perdu. Doch freundliches Pausengeplauder ersetzt kein tiefer gehendes Gespräch…
Seit Ende Dezember 2017 habe ich 33 Beiträge auf mYlonga veröffentlicht. Dazu gab es 110 Kommentare auf dieser Seite und erheblich mehr auf Facebook, wo ich für den Blog werbe. In dieser Zeit wurde die Seite von gut 8000 Besuchern mehr als 20 000 Mal aufgerufen. Auf die Startpage entfielen mehr über 2300 Klicks. Der bisher erfolgreichste Artikel ist „Warum fordere ich wen auf?“ Mit mehr als 1100 Klicks hat er schon kurz nach Erscheinen Platz Eins erobert und „Tangotanzen macht lustig“ verdrängt, das sich lange an der Spitze behauptet hatte. Gerade machen meine „Nachtgedanken… über Tango und Schweinkram“ eine ähnlich dynamische Entwicklung mit. Erstaunlich lange hält sich übrigens der Nachdruck eines Interviews mit dem deutsch-argentinischen Showpaar Nicole Nau und Luis Pereyra unter den Top Ten, das ich vor fünf Jahren für die Zeitungen meines damaligen Verlages geführt habe. Was macht einen Artikel erfolgreich? Klar, das Thema. Aber da ist noch etwas anderes nötig, was übrigens die Bloggerei mit dem klassischen Journalismus verbindet: Eine knackige Schlagzeile.
A propos tiefergehend: Ist der Tango für mich bloß ein oberflächlicher Zeitvertreib? Könnte ich stattdessen Tennis spielen oder Arabisch lernen? Ich glaube nicht. Als spät berufener Paartänzer (erst Ballroom, dann Tango) liebe ich die Auseinandersetzung mit der Musik. Ich brauche die Bewegung mit, nein, in ihr. Ich bin – allen Krisensymptomen zum Trotz – nach wie vor süchtig nach der nonverbalen, nicht erst intellektuell vermittelten Kommunikation mit einer (Tanz-)Partnerin. Aber vielleicht sind meine Ansprüche größer geworden, seit das Kontrastmittel Arbeitswelt fehlt. Vielleicht überfordere ich deshalb den armen Tanz. Nicht mehr: Tango anstatt, sondern Tango für sich. Tango für mich.
Womit wir wieder einmal bei jenem Thema wären, das ich hier schon häufiger behandelt habe – bei der Musik. (*) Wie andere auch habe ich mich dem klassischen Tango erst langsam angenähert. Es gibt ja so viel andere Musik, auf die sich Tangoschritte tanzen lassen. Später mochte ich nichts anderes mehr hören als Tango. Wie in der Milonga, so in der Badewanne. Jetzt hänge ich irgendwo dazwischen. Denn je mehr einschlägige Musik aus den goldigen Zeiten ich kenne, umso leichter bin ich von ihr, sorry, zu langweilen. Allerdings höre ich im Zweifel immer noch lieber König Johann und seine Rhythmkings als das weichgespülte Weltmusikgedudel oder das technoinfizierte Gewummer so mancher Non- und Neolongas.
Aber in den meisten Veranstaltungen der angeblichen Tangohaupstadt Europas sinkt der Anteil der Musik, die mich wirklich packt und auf’s Parkett schleift, in Richtung der 50-Prozent-Marke. Da bleibt viel Zeit zum Schwätzen. Selbstverständlich habe auch ich meine Lieblingstitel, an denen ich mich nicht satt hören und tanzen kann – von Lucio de Mares „Malena“ bis Astor Piazzollas „Deus Xango“. Dennoch bleiben für mich die Gaumen kitzelnden Gewürze im Eintopf einer Milonga jene Titel, die eher selten gespielten werden und/oder die ich noch nie gehört habe. In sie mich tanzend hinein zu finden, vielleicht sogar mit einer neuen Partnerin… da liegt für mich der schönste Teil des Abenteuers Tango.
Doch trotz meiner Unterversorgung mit Stoff, der mich high werden lässt, glaube ich nicht, dass meine Tangokrise am Ende auf einen musikalischen „cold Turkey“ zurückzuführen ist – zumal in Berlin der Nachschub (sorry wegen dieser sprachlichen Anleihe bei der Logistik) an für mich unbekannten Tänzerinnen aus aller Welt gesichert ist, deren Umarmung alte Stücke für mich etwas jünger erscheinen lässt (und mich selbst obendrein). Im Leben eines aus der Arbeitsgesellschaft Ausgespuckten fehlen jedoch mehr als bloß ein paar Töne und Takte. Im Gegenteil. Gleich nach dem, wie heißt es so schön: Eintritt ins Rentenalter hab ich mich auf kontrollierten Entzug gesetzt und mein Pensum an Tango reduziert. Von Anfang an plagte den deutschen Kleinbürger in mir die Sorge, zum nichtsnutzigen Milonguero zu mutieren.
Was ich vermisse in meinem Leben, ich kann’s nicht leugnen, ist der dicke fette Brocken namens Arbeit. Sie bleibt eben doch, was den Menschen vom Tier unterscheidet – so entfremdet sie uns im Kapitalismus auch entgegentreten mag. Da lag der Struwwel-Karl mit dem Rauschebart wohl nicht so falsch, dessen 200. Geburtstag wir 2018 begehen. Wenn ich’s recht überlege, stellt dieser Blog für meinen Seelenhaushalt eine kleine, wenn’s gut geht, halbwegs wirksame Arznei gegen meine Tangokrise dar, von der ich vermute, dass sie Symptom einer tieferen Sinnsuche ist – im Leben eines arbeitslosen Rentners. Schreiben statt tanzen? Eher: Tanzen u n d schreiben!
Mit anderen, aber doch verwandten Mitteln setzt dies für mich immer noch neue Format den Journalismus fort, der ein halbes Jahrhundert lang ein überaus wichtiger, bisweilen zu wichtiger Teil meines Lebens gewesen ist. Mit 17 Jahren hab’ ich, nach der üblichen Propädeutik einer Schülerzeitung, meinen ersten Artikel im Lokalblatt veröffentlicht. Danach hat die Schreiberei nie aufgehört. Heute ist meine Leserschaft zwar erheblich kleiner als die der Zeitungen, bei denen ich angestellt war. Aber im Gegensatz zu jenen wächst die Zahl der Leser dieses Blogs.
Was noch ein wenig fehlt, ist die Relevanz meines Tuns. Oder in Anlehnung an den großen Sozialphilosophen Hape Kerkeling: Die „Wichtischkeit“. Meine Leitartikel haben, ahem, bekanntlich die Weltpolitik verändert. Was die Welt des Tango angeht… Ich arbeite dran.
2 Comments
Lieber Thomas, Gerhard Riedl hat dir den Vorschlag gemacht, eine eigene Milonga zu ‘machen’ … Ich finde den Vorschlag hervorragend ! Ich selbst bin diesen Weg ja bereits gegangen und habe dabei mehr Zuspruch als erwartet bekommen. Um deine Vorbehalte zu prüfen (und zu überwinden), biete ich dir an, auf einer meiner nächsten Milongas im September oder November erst mal 3 oder 6 Tandas (je 5xTango,3xMilonga und 3xVals) beizusteuern. Ich befreie dich dazu auch von der Vorgabe ‘EdO-frei’. Würde mich über deine Zusage und später über den Bericht deiner gemachten Erfahrungen freuen !
Vielen Dank noch mal für Dein Angebot. Ich nehm es lieber nicht an. Bis demnächst, lieber JoTa