Today we remember Paul Bottomer (12/11/1956 -18/02/2018), professional dancer, teacher, author, researcher, tango lyrics translator and founder of this group (Zhanna Rabinska in “Today’s Tango is… Dazu hat sie einen seiner Lieblingstangos gepostet.)
Aus meinem journalistischen Berufsleben ist mir die Praxis durchaus geläufig, über Menschen zu schreiben, die ich nicht persönlich kenne. Wenn es in Neuseeland einen neuen Ministerpräsidenten gibt, oder im Saarland (oder wenn einer von beiden gestorben ist), dann verfügen auch große Redaktionen nicht unbedingt über einen Mitarbeiter, dem die betreffende Person schon einmal über den Weg gelaufen ist. Für das aktuelle Portrait oder den unerwarteten Nachruf muss es dann der Text einer Nachrichtenagentur tun. Oder ein Griff ins Archiv. Seriöse Medien geben das spätestens am Ende eines Textes zu.
Ich lege mein Geständnis gleich zu Beginn ab: Ich bin der Hauptperson dieses Artikels nie begegnet. Dennoch ist Paul Bottomer für mein Verhältnis zum Tango so wichtig wie kein Zweiter. Denn er hat mein zentrales Nachschlagwerk für unsere Musik ins Leben gerufen: Die Facebook-Gruppe “Todays Tango is…” https://www.facebook.com/groups/627797383984208/. Ein musikalisches Wikipedia, das ich fast jeden Tag nutze. Bis heute.
Am 18. Februar 2018 ist er überraschend gestorben. Es gibt in der Tangoszene in England und anderswo zu viele, die Paul persönlich erlebt, bei ihm gelernt, mit ihm getanzt haben – als dass ich mich traute, so zu tun, als ob… Deshalb ist dies weniger ein Artikel über die Person Paul Bottomer geworden als über ihn als Institution. Denn das ist er auch über seinen Tod hinaus geblieben. Eine Institution für die Tangoszene, aber auch für den Paartanz überhaupt. Denn unter dem Stichwort “Paul Bottomer” sind auf Youtube auch Ballroom-Titel zu finden. Und so ist die Tango-Gruppe im Netz beschrieben:
“TODAYS TANGO durchstreift den Schatz der Tango-Musik von ihren frühen Tagen bis zur Goldenen Epoche und danach. Wir posten Musikstücke mit einem Bezug zum aktuellen Datum: Geburtstag oder Todestag des Komponisten, Textdichters oder Interpreten, das Datum, an dem ein Stück zum ersten Mal aufgeführt wurde, an dem es aufgenommen wurde oder eine andere Verbindung mit dem jeweiligen Tag. Viele Veröffentlichungen enthalten den Text – in der Regel mit Übersetzungen ins Englische, Französische oder Italienische.” (Übersetzung aus dem Englischen von mir)
Darüber hinaus hat Paul Bottomer mehr als 20 Lehrbücher für die verschiedensten Tänze geschrieben. Eins sogar über Linedance. https://www.librarything.com/author/bottomerpaul Vielen britischen Tänzerinnen und Tänzern ist er als Lehrer persönlich bekannt. Unter dem Namen “Dancematrix” hat er (wenn ich das recht verstanden habe) nicht nur eine Tanzschule, sondern ein Netzwerk von Lehrern für Gesellschaftstanz geschaffen. Er hat auch Turniere getanzt und war mehrfach Champion im argentinischen Tango. Ich habe leider nur ein kleines Video gefunden, das Paul tanzend zeigt. Es handelt sich um einen kurzen Demo-Ausschnitt auf Facebook: https://www.facebook.com/watch/?v=10200589673731739 Wie viele andere Freunde des Standard- und Lateintanzes, darunter auch ich, hat er irgendwann eine Leidenschaft für den Argentinischen Tango entwickelt. Diesem Engagement verdanken wir viel.
Pauls Posts in der Gruppe zeichnen sich durch drei Besonderheiten aus: Erstens veröffentlichte er meistens nicht nur das Stück samt Übersetzung, das zum betreffenden Tag passte. Er fügte auch weitere Versionen vom selben Orchester hinzu oder von anderen, die es davor oder danach aufgenommen hatten. Er tat dies in der Regel unkommentiert, so dass jeder Hörer bis heute selbst entscheiden kann, was ihm am meisten zusagt – oder was er aus dem Vergleich der Stile lernen möchte.
Als Beispiel mag hier der Tango “Corrientes y Eymeralda” dienen, den Francisco Pracánico (Musik) und Celedonio Flores (Text) geschrieben haben. Paul präsentiert die Versionen von Francisco Lomuto (1934) http://youtu.be/nDSPQDX3rGk, Osvaldo Pugliese (1944) https://youtu.be/B7_GvS4zl1s Juan D’Arienzo (1945) https://youtu.be/Cp8rXGAoF5Q , Astor Piazzolla (1954) https://youtu.be/voT6ralwmCs und Armando Lacava https://youtu.be/ypTKhVGA51U (ebenfalls 1954). Letztere, mit dem Sänger Angel Vargas, mag ich besonders gern. Die Links zu den Stücken sind ebenso wie Text und Übersetzung in den Liner-Notes zu finden. Das Stück beschreibt das Leben an einem Hotspot des klassischen Tango-Viertels von Buenos Aires.
Besonders wertvoll finde ich bis heute die zweite Besonderheit von Paul Bottomers Veröffentlichungen. Im Folgenden überliefert er zum Beispiel sieben Versionen von Augustin Bardis “Gallo Ciego”. Dazu übersetzt er nicht einfach den Titel, sondern erläutert auch seine Bedeutung (die Übersetzung stammt wiederum von mir):
“Die Übersetzung von ‘Gallo Ciege’ lautet ‘Blinder Hahn’. Ich habe gehört, es handele sich um eine Anspielung auf den Hahnenkampf. Die wirkliche Bedeutung ist jedoch weniger grausam und blutrünstig. Es handelt sich um ein Kinderspiel: ‘Blinde Kuh’ im Deutschen. Auf Englisch: ‘Blind Mans Buff’. (Es folgen weitere Erläuterungen zu englischen Versionen des Spiels.) Pauls Schlussbemerkung: Allen viel Spaß!”
Drittens hat er für jeden von ihm präsentierten Tango ein Foto herausgesucht, das als – wie wir heute sagen – “Trigger” fungiert, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Mich hat er darüber hinaus angeregt mitzumachen. Ich hab mir eine Nische gesucht und vor allem Musik aus der Zeit diesseits der “Epoca D’oro” gepostet. Die Sache mit den Bildern hab ich nie hinbekommen. Und nach Pauls Tod war die Geschichte vorbei. Ich kannte ihn zwar nicht, aber irgendwie hab’ ich’s als eine persönliche Sache empfunden.
Dennoch war ist dies womöglich der wichtigste Teil des Projekts “Today’s tango is…”: Es hat die “Schwarmintelligenz” des Szene mobilisiert. Die Gruppe hat heute mehr als 5800 Mitglieder. Die meisten davon sind passive Rezipienten wie ich. Aber eine internationale Reihe von Aktiven sorgt dafür, dass der kollektive Sachverstand immer wieder neu mobilisiert wird. Und wie bei Wikipedia funktioniert eine freiwillige Selbstkontrolle. Die Gruppe ist ein Nachschlagwerk, auf das Tango-Aficionados in aller Welt sich verlassen können.
Das ist der Punkt, um der Frau zu danken, die den Laden zusammenhält: Der Administratorin Zhanna Rabinska ttps://www.facebook.com/groups/627797383984208/user/100000406140014/ Sie war Paul Bottomers letzte Lebenspartnerin. Heute sorgt sie dafür, dass sein Werk in seinem Sinne fortgeführt wird.
Ich muss allerdings zugeben, dass Paul Bottomers an sich segensreiche Arbeit auf mich eine, nein, mehrere nicht nur positive Wirkungen hatte. So hat sie mich ein ums andere Mal um den Schlaf gebracht und damit die Arbeitsfähigkeit des damals noch im Berufsleben stehenden Journalisten beeinträchtigt. Denn ich habe mich all zu oft nächtens von einem zum anderen Titel in der Gruppe gehangelt. Ich konnte mich nicht satthören an der Vielfalt des traditionellen Tango. Mit anderen Worten: Für Menschen, die sich einmal auf “Today’s Tango is…” eingelassen haben, besteht hohe Suchtgefahr. Auf der anderen Seite hat mich Pauls Werk in meiner Faulheit bestärkt. Da ich durch seine Übersetzungen die Bedeutung der wichtigsten klassischen Tangotexte verstand – wozu sollte ich noch Spanisch lernen? Trotzdem und deshalb:
Vielen Dank, Paul! So lange ich Tango höre und tanze, werde ich immer wieder an Dich denken.
3 Comments
Der ganze Sachverstand gehört Facebook. Schade.
Das ist ein Irrtum. Die Rechte der Clips bleiben bei den Rechteinhabern. Und TTI sammelt seinen Sachverstand auf Youtube.
DANKE lieber Thomas für diese ganz im Sinne von Paul am Datum hängende, sehr schöne Würdigung dieses Mannes, der so vielen von uns Tangosüchtigen auf umsichtig kluge Weise Wege in die Tiefe der Leidenschaft weisen konnte … .