Manche Ursachen zeitigen ungeahnte Wirkungen. Mein Post auf Facebook etwa, in dem ich die „alternativen Codigos“ aus der Milonga MUY LUNES in Buenos Aires gezeigt habe (siehe dazu den vorhergendenden Blogbeitrag). Mit diesem Eyecatcher wollte ich für meine Beobachtungen eines flanierenden Tangotänzers in Mekka werben – zur Illustration der These, dass es dort alles gibt. Und das Gegenteil.
Nach der ersten Ankündigung meines Blogs hatte ich von traditionalistischen Tangofreunden die Mahnung auf den Weg bekommen, keine längst geschlagenen Windmühlenflügel-Schlachten neu aufleben zu lassen. Wollte ich auch nicht, weil mich die Causa längst langweilt. Mit der Bemerkung, ich sei zu alt für derlei Scharmützel, hab ich mich mal arg in die antitraditionalistischen Nesseln gesetzt. Aber ich bin immer noch Journalist genug, um Dinge aufzuspießen, die ich interessant finde. Ohne pädagogische Hintergedanken. Einfach so.
Ich hab von meinem Trip nach Buenos Aires quasijournalistisch aktuell auf Facebook berichtet. Der erfolgreichste Post war die Karte mit den „Codigos“, die das Internetportal „Hoy Milonga.com“ zu seinem fünften Geburtstag veröffentlicht hat. Im Gegensatz zu den deutschen Hervorbringungen dieser Art, die trocken „Verkehrsregeln“ dekretieren, ist in Mekka auch die Aufforderung vertreten, mit dem Herzen zu tanzen. Aber das nur nebenbei.
Das Schild aus dem MUY LUNES hat auf Facebook nun ähnlich große Zustimmung erfahren. Es trifft offenbar einen Nerv. Denn dem – für mich erstaunlich starken – Echo entnehme ich: Es gibt unter den Tango-EnthusiastInnen eine nicht zu vernachlässigende Zahl von TänzerInnen, denen der Ausgang der „Schlacht“ zugunsten des, ich sag mal: Traditionalismus Unbehagen bereitet. Ihnen scheint es nicht bloß um die „otros ritmos“ zwischen zwei Tangoorchestas zu gehen. Sie sähen (so sehe ich es) in den Milongas gern wenigstens eine Spur des alten Spontispruchs verwirklicht: Anarchie ist machbar, Frau Nachbar… wenig weniger schematisch festgefügte Regelhaftigkeit in unseren Milongas.
Ich halte das für ein gutes Zeichen. Denn ich hab’ das Ballroomdancing nicht zuletzt deswegen aufgegeben, weil mir der Tango mehr Freiheit zu versprechen schien. Was die „Codigos“ angeht, stört mich vor allem ein gewisser Hang, die eigenen Auffassungen als Conditio sine qua non auszugeben. Ein gutes Beispiel dafür bietet der Umgang mit dem Tanda/Cortina-Prinzip – das weit nach den goldigen Zeiten in Buenos Aires entstanden ist, wie der des Avantgardismus unverdächtige Tangoguru Michael Lavocah berichtet.(*)
Von den acht bis zehn verschiedenen Milongas in Berlin, die ich gelegentlich bis häufig häufig besuche, kommen vier (von zwei Veranstaltern) ohne musikalische Vorhänge aus. Darüber hinaus gibt es noch mindestens zwei mehr (aktueller Stand). Eine Minderheit. Einer der beteiligten DJs legt in jüngster Zeit zwar „klassischer“ auf als früher. Doch die Überlegung, Cortinas einzuführen, hat er nach einer informellen Besucherbefragung wieder fallen gelassen. Zwei der beliebtesten Berliner Milongas sind „jänzlich ohne“, aber mit einer zum Teil ziemlich bunten Musikmischung. Sie werden übrigens auch von Stammgästen klassisch orientierter Veranstaltungen frequentiert. Ausgerechnet dort ähnelt die Stimmung am ehesten jener Partyathmosphäre, die ich in Buenos Aires erlebt habe. Nur eben mit ganz anderer Musik.
Nun plädiere ich zwar für größere Vielfalt in der Musikauswahl (darüber mehr in einem späteren Beitrag). Aber Cortinas find ich gut. Oder sagen wir: ziemlich praktisch – selbst wenn der ein oder andere DJ seine Uraltschoten in nerviger Endlosschleife immer wieder recycelt. Aber (nicht nur in meinen meinen Ohren) gute Cortinas können die Stimmung einer Milonga heben. Ich schätze sie auch als „Ohrenspülung“ nach Tandas, die mir nicht in die Beine, sondern auf den Wecker gehen. Sie erinnern an jene in der Tat „goldenen Zeiten“, als es in den Milongas von Buenos Aires noch keine konservierte Monokultur gab, sondern Orchesta Tipica sich in einer Veranstaltung mit Jazzbands abwechselten.
Gut für die Stimmung (jedenfalls meine) sind Cortinas erst recht, wenn sie nicht nur als Parkettputzer dienen, um ein cabeceofreundliches Glacis zuschaffen, sondern mindestens gelegentlich als Tanzmusik für geneigte Teile des Publikums ausgespielt werden. Dann helfen sie obendrein bei der gymnastischen Lockerung des Tangokörpers. Ich hab das in Buenos Aires als sehr positiv erlebt, aber auch in Barcelona oder in der deutschen „Provinz“, in Berlin leider immer seltener.
Cortinas haben auch eine sozial entlastende Funktion. Denn sie ermöglichen die gesichtsverlustfreie Scheidung einer, nun ja, nicht idealen Tangopaarung. Wer trotzdem weiter miteinander tanzen will, kann das ja tun. Wir sind schließlich nicht in Buenos Aires, wo spätestens die dritte Konsekutivtanda als Indiz für extrachoreografische Absichten gewertet wird – heißt es.
Mein Plädoyer für die Cortinas ändert nichts daran, dass auf meiner Berliner Milonga-Hitliste die Veranstaltungen ohne sie vorn rangieren. Obwohl die Partystimmung nicht unbedingt meint Ding ist – dort gefällt mir die Musik besser, weil die „otros ritmos“ nicht nur als Pausenzeichen dienen, sondern zur Tanzmusik dazugehören. Manchmal geht’s mir halt wie Erich Kästner, der zu Beginn der 30er Jahre schrieb: „Ich setze mich sehr gerne zwischen Stühle./ Ich säge an dem Ast, auf dem wir sitzen./ Ich gehe durch die Gärten der Gefühle,/ und bepflanze sie mit Witzen.“
(*) „The tanda is an indispensable ingredient of an authentic milonga, but let’s remember that it in the golden age the orchestras did not play in tandas for dancing. Initially, a tanda was often only two songs long – the two faces of a 78rpm record, although some clubs would play two records by the same artist, making a tanda of four. The tanda that we know today only became widespread in the early 1970s with the reissuing of old music on LPs. This made it much easier to play three or four songs in a row.“ Tango DJing – Part 1: Music for dancing. Todotango.com. Siehe dazu auch das ausführlichere Zitat in meiner Facebookchronik.
1 Comment
Schön! Und obwohl ich wie inzwischen wohl jeder mitbekommen hat, für Tandas und Cortinas bin, finde ich es auch ziemlich blöd, wenn es irgendwo anfängt, dogmatisch und verbissen zu werden