Wenn ich in einer Milonga zu lange sitze, kann es schon einmal sein, dass ich mich, nun ja, festsehe am Geschehen um mich herum. Dann schlägt der satireaffine Teil meines Gemütes Purzelbäume. Tangotanzen macht nämlich keineswegs schön, wie es der werbetechnisch geniale Titel einer Berliner Tanzschule verspricht. Jedenfallls nicht automatisch. Und nicht durchgängig. Das beginnt mit der Kleidung. Bei den Männern wirkt sie gelegentlich, als habe der Tanguero nach dem Aufräumen seines Kellers nicht hinreichend Zeit zum Umziehen gehabt. Die Frauen versuchen es dagegen mit dem Lockstoff der Eleganz – allerdings nicht selten in Kleidergrößen, die eher den Täumen der Trägerinnen entsprechen als der Realität. Über die Tiefe von Dekolletees und die Höhe von Rocksäumen, von Farben, Parfüm und Blümchen in den Haaren (potentieller) Großmütter schweige ich. Die sind Geschmacksache.
Wenn ich mir die Muße gönne, eine Pista nicht nur auf mögliche Tanzpartnerinnen hin zu scannen, sondern auch der männlichen Konkurrenz auf die Führungskörper zu schauen, dann fällt mir immer wieder auf, wie es um den Realitätsgehalt einer Behauptung bestellt ist, die wir gern wie eine Monstranz vor uns her tragen: Tango sei ein durch und durch improvisierter Tanz. Wie hieß es einst auf Radio Eriwan? Im Prinzip ja, aber… Denn selbst, oder soll ich sagen: gerade die gut oder besser sich dünkenden Tänzer haben ihre deutlich wahrnehmbarem Muster, die sie nicht weniger stabil nutzen als Standardtänzer die, sagen wir: Zwölferfolge beim Slowfox.
Alles andere wäre auch verwunderlich – solange wir unterstellen, dass unser Tanz etwas mit der Musik zu tun hat. Denn wir bewegen uns (jedenfalls in den klassischen Milongas) zu immer wieder denselben Stücken in immer wieder derselben Interpretation immer wieder derselben Orchester. Keineswegs selten werden einmal eingeübte choreografische Muster unabhängig von den jeweils gespielten Titeln exekutiert. Selbstverständlich unterliege auch ich diesem Wiederholungszwang. Wenn ich gut drauf bin oder Glück hab’, merke ich’s sogar selber. Gelegentlich. Nicht zufällig beginnen gute TangolehrerInnen ab und an eine Unterrichtseinheit mit den Worten: Heute wollen wir mal versuchen, ein paar Muster aufzubrechen….
Nichttangotänzern, die es in zum ersten Mal in eine Milonga verschlägt, fallen in aller Regel als erstes die Gesichter auf. „Warum guckt Ihr denn immer so ernst“, fragen sie dann. „Das ist nicht ernst, sondern konzentriert“, lautet die Standardantwort. Auf meiner Pilgerfahrt nach Buenos Aires hab ich darüber mit einem Mann gesprochen, der die meisten Singlefrauen unserer Reisegruppe auf der Pista ziemlich glücklich gemacht hat. Mit mehr als 30 Einsatzjahren ist Sergio Ramirez der wohl erfahrenste Taxitänzer der Stadt. Warum er beim Tanzen manchmal lächele und manchmal nicht, wollte ich wissen. „Ganz einfach“, lautete seine Antwort. Die nicht so erfahrenen Tänzerinnen fühlten sich besser aufgehoben, wenn er ihnen seine Zuwendung und Zustimmung zu ihrer Art zu tanzen, mit einem Lächeln signalisiere. Die erfahrenen hätten es lieber ,wenn er ernst bleibe.. „Dann setze ich mein ‘Tangoface’ auf.“ Ernst. Viril. Viejomilongueromäßig.
In der Diaspora deutscher Milongas zeigt das Tangoface durchaus viele Variationen. Das konzentriert ernste ist nicht das einzige. Der Milonguero Alemano kann auch unsicher dreinschaun. Suchend: Wie war noch dieser Schritt im Unterricht letzten Dienstag? Selbstverständlich mag er’s lieber selbstsicher. Bis zur Arroganz. Aber nicht jeder ist so sehr Herr seines Mienenspiels, wie Buster Keaton es war. Mich interessiert jedoch nicht nur s e i n Gesicht, sondern auch i h r e s . Ich find’s immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich die Partner eines Tanzes dreischaun können.(*) Ein Paar strahlt nicht selbstverständlich denselben Innigkeitslevel aus. Das Tangoface der Damen kann ziemlich gleichgültig daher kommen. Selbst wenn ihm gerade Zufriedenheit und Stolz aus den Poren zu spritzen scheinen. Dieser Kontrast ist es, der meinem Böser-Betrachter-Buben-Ich immer wieder das größte Vergnügen bereitet. Wobei ich mich frage, warum meinen Geschlechtsgenossen das Missbehagen ihrer Partnerinnen nicht an deren Körperspannung auffällt. Aber das ist ein anderes Thema…
Doch nicht alle Gesichter sind so einfach zu sehen. Ich find’s immer wieder erstaunlich, wie gründlich eine zentrale Mahnung der Tanzlehrer aus den ersten Unterrichtstunden (übrigens auch im Standard- und Latein) vergessen wird: Nicht nach Unten schauen! Geradeaus geht der Blick. In Tanzrichtung. Diese Nose-Down-Marotte dient weder der Achse, noch macht sie schön. Sie ist jedoch keineswegs bloß bei Anfängern zu beobachten, die ihrer Schritte noch nicht sicher sein können. Selbst aus Buenos Aires eingeflogene Tangomissionare frönen dieser Fehlstellung. In Mekka hab ich dafür den wunderbaren Begriff „Gemüsegucker“ (**) gehört.
Leider bin ich schon in meinem journalistischen Berufsleben eher Kommentator als Reporter gewesen. Sonst könnte ich besser jene Szenen plastisch ausmalen, die vor meinem geistigen Auge schweben. Dazu zählt es auch, wenn die Herren mit Jägerblick durch die Reihen tigern oder einen Gang zum Klo zur vermeintlich unauffälligen Begutachtung der Beute nutzen. Oder die unterschiedlichen Arten der Damen, sich für uns Jungs in Positur zu setzen. Eine Bekannte hat mal eine Korrelation zwischen der Tiefe des Schlitzes in ihrem Kleid und der Zahl ihrer Tänzer aufgestellt. Undsoweiter.
Eine Phase zweckfreien Unterhaltungszuschauns kann ich nur empfehlen, wenn Ihr einmal Pause macht in einer Milonga und kein interessantes Gespräch sich anbietet. Es würde mich wundern, wenn ein/zwei Tandalängen solchen Studiums Eurer Umgebung nicht in der Lage wären, selbst die trübeste Stimmung aufzuhellen. Tangotanzen mag nicht immer schön machen. Aber es kann verdammt lustig sein. Doch Vorsicht: Manchmal fällt’s mir schwer, nach so einem Intermezzo mein Tangoface wiederzufinden. Oder die Veranstaltung überhaupt ernst zu nehmen.
(*) Mit dem ihm eigenen Ernst hat Cassiel, der tieffliegende Erzengel des klassichen Tango „Über Ähnlichkeiten und Unterschiede im Erleben einer gemeinsamen Tanda“ geschrieben. http://tangoplauderei.blogspot.de
(**) Leider hab ich mir das spanische Wort nicht gemerkt. Ob die Wörterbuchrückübersetzung „visor des verduras“ ideomatisch angemessen ist, weiß ich nicht.
9 Comments
herrlich treffend mit viel Charme und Humor geschildert…. Ich werde definitiv mehr lächeln, mehr gute Laune verbreiten,…..wenn die Musik stimmt.
ich habe bei der Gleichförmigkeit und der Tatsache über einen langen Zeitraum immer wieder das gleiche hören zu müssen ein Paradoxon entdeckt. Und zwar glaube ich, dass die wirkliche Improvisation sich erst nach jahrelangem Hören einstellt. Nicht in der Auswahl irgendwelcher hipper Figuren oder Schritten sondern eher in der Fähigkeit deines Körpers durch Timing die Musik wiederzugeben. Erst dann sieht der Tanz auch so aus wie das Gehörte. Hilfreich ist dann natürlich auch mal etwas zu betanzen was einen fordert.
Besonderen Dank für Deinen Kommentar, lieber Eddy. Er hat mich so nachdenklich gemacht, dass sich meine Antwort darauf zu einem neuen Blogbeitrag auswächst. Deshalb dauert es noch etwas bis zur Veröffentlichung.
Bei schönen, harmonischen Tänzen kann ich nicht anders als zu strahlen. Bei einer verspielten und dynamischen Milonga entfleucht mir auch mal ein übermütiger Quietscher am Ende, was der trauernden Gemeinde sogar mal ein Lachen entlockt. Mein “Dramagesicht” ist der Bühne vorbehalten, wenn ich Tango tanze, will ich mich kopfüber in die Musik werfen, und lachen und strahlen gehört definitiv für mich zu meinem Emotionsspektrum dazu. Gestorben wird später. Toller und charmanter Blog.
Lieber Thomas locker rotzig und scharfsinnig beobachtet. Ja, da findet sich vieles zum projizieren, interpretieren und lästern. Ich beobachte jedoch auch gerne, wie viele sich tapfer bemühen und dabei mehr oder weniger zufrieden sind. Ich schau da etwas wohlwollender. Und es gibt viele Tanzpaare die tatsächlich gut im Kontakt mit einander und mit der Musik sind. Das ist für mich auch schön anzuschauen. Tango ist und bleibt eben die nur allzumenschliche Komédie humaine.
Vielen Dank den KomentatorInnen. Danke, dass Ihr meinen ironischen Ton mögt. Ne ausführlichere Antwort folgt. Aber jetzt geh’ ich erst mal tanzen.
Für mich wurde es auf den Milongas erst “lustig”, als ich nach einem Jahr mit meinen Erkenntnissen “ernst” gemacht habe:
Keine wöchentlichen Kursstunden – man sieht doch beim Kurs der “weit, weit Fortgeschritten” wie wenig es bringt.
Bisweilen auch Pflichttänze – aber mit niemandem auf zwei Milongas hintereinander.
Pausen machen – und dabei mindestens eine Tanda mit einem anderen Tanguero schwatzen.
Rechtzeitig aufhören – nicht wenn ich mit allen Damen getanzt habe sondern wenn die Konzentration nachlässt.
[…] (***) Kommentar auf kroestango.de am 15. März 20118 um 13.48 Uhr.r […]
Was man beim Zuschauen nicht vergessen darf, ist die Tatsache, dass auch rhythmische und figurale “Fehler”, wenn sie denn in der völligen Harmonie des Paares geschehen, für das Paar selbst keine mehr sind. Anders kann ich mir nicht erklären, dass ich immer wieder beim Blick auf die Beinarbeit keinen, oder nur einen sehr geringen Zusammenhang zur Musik sehe, beim Blick auf die Gesichter jedoch beiderseitige Freude und Zufriedenheit. Für mich sind deswegen die Gesichter zum Kriterium eines gelungenen Tanzes geworden und nicht die Beintechnik. Was alle Tango Lehrer und Lehrerinnen aus der Natur ihrer Aufgabe natürlich anders sehen müssen.