Einen Abstecher auf den Pfad der ökologischen Korrektheit hat die “Tangodanza” schon in der vorigen Ausgabe gewagt. Da durfte Arnold Voss in zwei Spalten unter dem Titel “Reiseziel Milonga” darauf hinweisen, dass es – vorsichtig formuliert – Umweltfreundlicheres gibt als die rege Reisetätigkeit großer Teile der Tango-Community. (1) By the way: Der einschlägige “Fußabdruck” eines Pilgerflugs nach Mekka mittels möglichst billiger Airlines einschließlich ortstypischer Rindfleischverköstigung würde mich durchaus interessieren.
Diesmal geht das Blatt zwei Schritte weiter in Gretas Spuren : Erstens appelliert es an die LeserInnenschaft: “Lasst uns mehr zuhause tanzen gehen…” – wodurch nicht nur die Umwelt geschont, sondern auch den zum Teil Not leidenden Home-Milongas geholfen würde. Der Appell hat durchaus etwas Halsbrecherisches. Denn ein großer Teil der schönen bunten Anzeigen im hinteren Teil jedes Heftes wirbt für Tangoreisen in südliche, oft nur per Flugzeug erreichbare Gefilde.
Zweitens tut die “Tangodanza”, was sie selbst in der Hand hat: Sie verzichtet auf ihren mäßig glanzvollen Untergrund und stellt auf 100 Prozent chlorfrei gebleichtes Recylingpapier um. Ästhetisch kein Problem für mich. Ich vermag nur der Behauptung nicht zu folgen, damit rieche das Blatt auch besser. Ich fand ziemlich muffig säuerlich, was mir aus dem frisch geöffneten Öko-Couvert entgegen schwoll und seine Nachhaltigkeit auch gegen mehrtägigen Aufenthalt an frischer Luft behauptete. Aber womöglich liegt nicht nur die Schönheit im Auge des Betrachters, sondern auch der Wohlgeruch in der Nase des Beschnupperers.
Viele meiner Tangofreunde sind Fans des Titelpaares der Ausgabe 1/2020: Martin Maldonado & Maurizio Ghella. Die beiden zählen zu den Stamm-Stars des In Berlin und beim “Tango Spirit” auf dem sächsischen Gut Froberg. Dorthin unternehmen erkleckliche Teile der metropolitanen Tango-Szene alljährlich eine Art Betriebsausflug. Sie schwärmen von ihnen als Lehrer ebenso wie als Showtänzer. Da ich Events von einer gewissen Größe an meide, kenne ich sie nur aus Videos. Mein Eindruck auf Youtube ist ebenfalls positiv. Die “Tangodanza” erzählt die Geschichte der Männer. Die beiden Argentinier waren einmal ein Paar, sind aber keins mehr. Dennoch setzen sie ihre erfolgreiche Zusammenarbeit fort – demnächst im Rahmen eines multimedialen Kulturzentrums als “Stützpunkt” in ihrer Wahlheimat Wien.
Martin und Maurizio vermeiden übrigens die strenge Unterscheidung zwischen “Führen” und “Folgen”. Vielmehr sprechen sie von “Proposer” und “Interpreter”. Sie sähen die “Führungselemente im Tango generell eher als Vorschlag, als Einladung zu einer Bewegung, die vom gegenüber aufgenommen und entsprechend interpretiert wird”, beschreibt Maurizio ihr Verständnis der Paar-Beziehung im Tango. Das wiederum führe “zu einer gemeinsamen Bewegung, die ihrerseits wieder Raum für Interpretation gibt.” (S. 5ff.) Eine rare Spezialität, wie der Artikel es nahe legt, ist das jedoch nicht. Längst gibt es viele jünger Tangolehrer auch außerhalb der Queer-Szene, die das ähnlich sehen.
Aber einordnende Hinweise sind in der “Tangodanza” leider nur selten zu finden. Das Blatt mag seine Protagonisten nicht relativieren. So hab ich zwar gern einen Text über den in Brüssel lebenden DJ Jens-Ingo Brodesser gelesen. Ich lese, dass er dabei ist, mehr als 200 Titel von Juan D’Arienzo zu digitalisieren. Aber warum das trotz der Tätigkeit von TangoTunes noch nötig ist und wie sich seine Arbeit von deren unterscheidet, erfahre ich nicht. (S. 26). Warum erfahren jüngere LeserInnen nicht, dass Gerrit Swaantje Schüler, die über ihre Kombination von Tango mit Qigong schreibt (S.28f.), einst an der Seite von Michael Domke zu den PionierInnen des Tango in Deutschland gehörte?
Ein gewisser Mangel an Distanz kommt auch auf andere Weise zum Ausdruck. Da wird zum Beispiel beschrieben, wie Michael Nadtochi und Paula Duarte (der Russe in New York, die Portugiesin in London lebend) durch eine Begegnung in – na, wo schon – Buenos Aires zum Tango-Traumpaar wurden. Was für eine hübsche multikulturelle Geschichte, fast wie im Märchen. Dass Michael bis zu dieser Begegnung bereits Teil eines anderen Tango-Traumpaares war, erfahren die LeserInnen nicht. Doch bis heute gibt es Fans, die seine vorheriger Kooperation mit der Russin Eleonora Kalganova der heutigen vorziehen. Ich mag mich da nicht einmischen.
Für mich zählen die beiden zu den elegantesten Erscheinungen im internationalen Tango-Circuit. Vor allem zu den originellsten dazu. “Paulita” und “El Gato” lassen sie sich gern nennen: Die kleine Paula und der Kater….Mit Eleonora kam Michael konventioneller daher. Als eifriger Nutzer von Facebook weiß ich auch, wie perfekt er seine Arbeit mit Paula in dem sozialen Netzwerk vermarktet – mit Videos von Showtänzen und Schnipseln aus dem Unterricht. Seine Webpage ist ein tief gestafffeltes Meisterwerk mit einer Unzahl von Tanzvideos. https://www.theartoftango.club
Paulas Site steht der seinen nur wenig nach. http://www.pauladuartetango.com Dort sind auch Beispiele wie das hier gezeigte aus ihrer Zeit mit dem Modern Dance zu sehen. Michael würde gern ein System des effektiven Tango-Lernens erfinden. Als Vorbild nennt er seinem Interviewer Bruce Lee. Der habe 2000 Jahre alte Kampfkunst ebenso studiert wie den den Stil des Boxers Muhammad Ali. Daraus habe er seine Art zu Kämpfen entwickelt. Ähnlich möchte der Tänzer unterschiedliche Stile und Methoden mischen. Aber weit ist er mit seinen Überlegungen noch nicht gekommen. Das ständige Reisen lässt ihm zu wenig Muße. (S. 22f.)
Zu meinen Lieblingsstücken in der “Tangodanza” gehören regelmäßig die Artikel des Münchener DJ Olli Eyding. Diesmal heißt sein großer historischer Text “RCA Victor gegen Platzhirsch Odeon”. (S. 11ff) Der Tango wurde nämlich stehts von ausländischen Plattenfirmen vermarktet – oder auch nicht. Eine hochinteressante Darstellung der politische Ökonomie des Tango in seinen “goldenen”, also auch kommerziell interessantesten Jahren. Dabei erfährt man auch einiges über das wichtigste “Hausorchester eines Konzerns, das “Orchesta Tipica Victor”(OTV), das bis heute zum musikalischen Kernbestand unserer Milongas zählt. Die exemplarische Stück-Analyse dreht sich um einen der wichtigsten Titel eines der wichtigsten Tango-Autoren: “Yira…Yira” von Enrique Santos Discepolo. Ein Stück argentinischer Sozialgeschichte in einem einzigen Tango.(S. 14f.)
Vorgestellt werden auch wieder zwei aktuelle Tangobands: Das spanische Orchesta Social del Tango (S. 31) und “La Misteriosa Buenos Aires”, (S. 8f.) deren Geschichte bis in das Jahr 2001 Zurück geht. Sie haben nie so viel Wirbel um sich gemacht wie “Romantica Milonguera”, verfügen aber über einen Sound mit hohem Wiedererkennungswert auf den Spuren von Carlos Di Sarli – und wissen durchaus, ihre Frontfrau theatralisch in Szene zu setzen. Die Sängerin Eliana Sosa hat eine nicht weniger faszinierende Stimme als Marisol Martinez, die charismatische Ex-Sängerin von RM. Für Auftritte in den meisten deutschen Milongas sind sie schlicht zu groß – und damit zu teuer. Auch ihre CDs werden nur selten gespielt. Ob es wirklich daran liegt, wie Jens-Ingo Brodesser in diesem Heft der TD über die Coverbands behauptet: “Könnten die nicht einfach mal Stücke spielen, die das historische Orchester nie aufgenommen hat?… Dann würde ich auch mehr Aufnahmen von aktuellen Bands spielen.” Wir können es nicht nachprüfen. Für meinen Geschmack jedenfalls können sich einige (nicht alle) ihre Versionen mit den Originalen durchaus messen.
Der aus meiner Sicht musikalisch interessanteste Artikel ist an das Ende des Heftes gequetscht: Volker Marschhausen nähert sich dem Thema “Tango-DNA und Neotango”. (S. 81 ff) Sein Versuch einer “Klassifizierung” ist allerdings ein wenig akademisch geraten – weshalb ich die Entscheidung der Redaktion durchaus verstehen kann. Wer Volkers Musikrichtung erleben will, samt der Raum greifenden optischen Umhüllung durch seine besondere Art der “Visuals,” muss den folgenden Link anklicken: https://www.facebook.com/tanguerilla/videos/472901906860597/
Der Bremer Mulitimediakünstler und Veranstalter wirft den aktuell dominierenden Teile der Neo-Szene vor, sie habe den “Musikanteil der deutlich sperrigeren Tango Nuevos , Electrotangos und zeitgenössischen Tangos marginalisiert und einem leichter konsumierbaren Mix geopfert”. In den Playlists dieses “Gemischtwarenladens” werde “die
Ich habe mich in diesem Blog ebenfalls schon einmal ausführlicher mit diesem Thema befasst: http://kroestango.de/aktuelles/warum-eine-neolonga-nicht-mylonga-ist/
Komplexität der DNA, des Erbgurs des Tango zugunsten eines ‘Querbeet’ Geschmacks’ preisgegeben”. Marschhausen zitiert die in Berlin lebende Neo-Protangonistin Vio Tangoforge: “Das Einzige, was zählt ist, ob ich darauf Tango tanzen will. Dann ist es Tangomusik.” (2) Im Gegensetz dazu plädiert Marschhausen dafür, derlei “alternative” Musik, für die ich noch den Begriff “Non-Tango” gelernt habe, nur in “homöopathischen Dosen” als “punktuelle musikalische Inspiration” zu servieren. Er erinnert daran, dass bereits in den goldenen Zeiten des Tango “Otros ritmos”, meist Jazz oder Latin-Music, als Abwechslung zum Tango gespielt wurden. Marschhausens Empfehlung:
“Andernfalls sollten die DJs und DJanes, deren Playlists von Allerweltsmusik überquellen, so viel Ehrlichkeit und Klarheit aufbringen, ihren Mix als “Alternatve”, Crossover” oder “Fusion” zu bezeichnen. Der Begriff Begriff “Neotango” ist jedoch seit Piazzollas gleichnamigem Song bereits besetzt.”
(*) Wie immer biete ich einen höchst subjektiven Streifzug durch die aktuelle “Tangodanza”, in diesem Fall 1/2020 – ergänzt durch einige Videos der beschriebenen Akteure. Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.
(1) “Tangodanza” 4/2019, S. 33 “Platzhirsch gegen Platzhirsch Odeon”
(2) Ausführlicher in ihrem Blog: https://tangoforge.com/was-ist-neotango/
7 Comments
zu ““Lasst uns mehr zuhause tanzen gehen…” – wodurch nicht nur die Umwelt geschont, sondern auch den zum Teil Not leidenden Home-Milongas geholfen würde.”
das halte ich für eine milchmädchenrechnung. für die heutzutage reisenden würde der anteil der tänze, die sie als zu tiefst befriedigend erleben, sehr reduziert werden. ich halte es für wahrscheinlicher, dass diese dann mit dem tanzen aufhören würden, als dass das örtliche tanzniveau sich wesentlch verändern würde.
Ich weiß nicht, wie ich zum “örtlichen Tanz n i v e a u”, beitrage, lieber Andreas Lange. Aber ich fühle mich wohl damit, in aller Regel in der näheren Umgebung zu tanzen. Neulich fand ich es sehr schön in Bremen. Dahin zu fliegen, wäre mir peinlich.
stell dir berlin ohne die tänzer*innen vor, die nicht in dieser stadt wohnen. das dürfte einen spürbaren unterschied machen.
Falls sich jemand bereits durch meine Kurzfassung des Beitrags “Tango-DNA und Neotango”herausgefordert fühlen sollte… ich freue mich über Kommentare.
es stellt sich die frage, warum nennt volker dann sein jährlich stattfindendes drei tages event „neotangorave“? mitnichten kommt dort „tangofremdes“ nur in homöopathischen dosen vor.
wird es dieses jahr anders sein? auf facebook schrieb volker „NTR20 emphasises the TANGO focus in contrast to mainstream ALTERNATIVE. … As always NTR20 preserves the full freedom and self responsibility of artists – for their music selection and playlists … But additionally it is intended to inspire and encourage DJanes, teachers and bands to give Contemporary Tango more space.” meinen kommentar “ich liebe tango-neukompositionen! gibt es schon genug um diesen richtungswechsel vorzunehmen?“ beantwortete volker mrit: „Es gibt keinen „Richtungswechsel“.
Es bleibt Alles im Ermessen der DJanes.“
https://www.facebook.com/groups/neotangorave/permalink/2644899925544436/
die verwendung des abwertenden begriffs „Allerweltsmusik“ offenbart eine despektierliche haltung gegenüber den zahlreichen tänzer*innen, die es lieben zu solcher musik zu tanzen, und den Dj*anes, die den neotangorave zu dem tollen event machen das es ist, und die reise, unterkunft, verpflegung und eintritt (spende genannt) aus eigener tasche zahlen und ohne entlohnung arbeiten.
unterschiedliches erbgut führt nicht zu wertunterschieden sondern ist bedingung für diversität, sowohl beim menschen als auch bei musik. ich denke nicht, dass die neotango szene diesen fundamentalismus, wie von volker vorgetragen, benötigt. die bandbreite der musik, auf die voller genuss getanzt wird, ist kein ausdruck eines mangels an tangomusik sondern der freiheit.
Vorweg: Ich habe den Artikel von Volker noch nicht gelesen, nur jetzt diesem Review von Thomas. Ich finde Volkers persönliche Sets ziemlich langweilig, auch wenn einzelne Titel tolle Versionen sind, aber ist mir halt zu abwechslungslos 😉
(ok…ist schon ein paar Jahre her das ich ihn gehört habe, vielleicht hat sich ja was getan) aber ich stimme ihm voll und ganz zu…bei diesen “Neo Tango Veranstaltungen” langweile ich mich oft noch viel mehr. Ich habe nicht die Inspiration Tango zu tanzen. Allerdings stimme ich auch Andreas zu das Volkers eigenes Rave Veranstaltung dies nicht wieder spiegelt. Auch die Videos lenken mich mehr vom Tango ab als das sie mich unterstützen.
Mit deiner Einschätzung von Visuals jeder jeder Art hab ich keine Probleme, lieber Iwan. Aber jemanden zu beurteilen, denn Du schon lange nicht gehört hast… Ahem! Ich hab übrigens damals dein Projekt hier gefördert, obwohl ich damit eher wenig anfangen konnte, vorsichtig formuliert. Ein wenig Toleranz kann selten schaden.