„You have to stand like in the Supermarket!“ Der Satz begleitet mich seit einigen Jahren. Immer wenn ich beim Tanzen beginne, im Schultergürtel zu verkrampfen, halte ich kurz inne, atme ruhig, erst aus, dann ein – und rufe ich mir dieses Mantra in Erinnerung. „Ihr müsst stehen wie im Supermarkt!“ Es stammt von Susana Miller (*) der Königin des „Milonguero“-Stils. Mal einfach so locker dastehen… In dem Workshop, den ich bei ihr belegt hatte, war das für die Mehrheit der Männer eine Provokation. Damals galt noch die Mode, mit stolzgeschwellter Brust eine „Tango-Posture“ mit einzunehmen, weil man angeblich nur auf diese Weise richtig führen könne.
Susanna Millers Satz ist mir ins Gedächtnis gekommen, als ich in einem Tango-Forum bei Facebook diesen euphorischen Bericht gelesen habe:
„Neulich auf dem Wochenmarkt wurde ich wieder angesprochen, wie teuer denn die Kartoffeln wären. Dabei war ich als Kunde da, nicht als Händler. Das passiert mir in letzter Zeit immer wieder: im Blumengeschäft, im Kaufhaus, usw.. An der Kasse lächeln mich wildfremde Menschen an und, wenn ich gehe, geben mir die Menschen den Weg frei…. Die Umwelt reagiert auf mich. Woran kann das liegen? Nun, ich praktiziere Tangohaltung, Tangogehen und Tangosehen. Ich stehe, gehe und sehe neu…“ (**)
Was für ein Unterschied: Nicht die Alltagshaltung dient hier als Vorbild, sondern umgekehrt: Wie du tanzt, so sollst Du gehen, stehen undsoweiter. Da ist sicher viel Anfänger-Euphorie im Spiel. Doch ich fürchte, der Jubel darf durchaus als repräsentativ für eine Geisteshaltung in weiten Kreisen der Tangogemeinde gelten. Danach ist unser Tanz ein Allheilmittel: Von Haltungsschäden über Partnerprobleme bis zum Weltfrieden – Tango hilft immer. Mal abgesehen davon, dass ich nicht unbedingt nach der Ausstrahlung eines Gemüsehändlers strebe (wie auch immer die aussehen mag), eine gesunde Körperhaltung lässt sich auch ohne Musik aus goldigen Tangozeiten lernen. Ich hab’ neulich mal in die Alexander-Technik reingeschnuppert. Der aufrechte Gang, das gesunde Gehen auf dem ganzen Fuß… das komplette Repertoire. Schon mein Standard- und Latein-Tanzlehrer hat mir den Rücken gerade gezogen. Da war übrigens auch vom Lächeln die Rede, das wir TangotänzerInnen unter dem Vorwand der Konzentration so gern vermeiden.
Ein wunderbares Beispiel für die Selbstüberhebung der Community ist die in unregeläßigen Abständen unter Berufung auf wechselnde Wissenschaftler recyclierte Meldung, Tango bewahre vor Demenz. Falsch ist der Befund nicht. Das hängt damit zusammen, dass Tanzen, zumal im Paar – vereinfacht gesagt – nicht nur Körper oder Geist trainiert, sondern in erheblichem Maße Koordinationsleistungen zwischen beiden fördert. Freilich fehlt ein zentraler Hinweis: Derlei heilsame Wirkung auf den mentalen Zustand des Menschen üben auch andere Tänze aus. Aber welcher Tangofreak mag schon die segensreiche Wirkung des Discofox preisen?
Ich erinnere mich noch gut an eine Fete vor Jahren. Außer mir, damals noch mit Ballroom-Dancing beschäftigt: Lauter TangotänzerInnen, von denen ich bis auf meine Liebste niemanden kannte. Auf der Suche nach einem verbindenden Gesprächsthema landete ich beim Tanzen – allerdings bei meinem. Also dem falschen. Ich hätte besser die Klappe gehalten, von Herta BSC oder der Relativitätstheorie schwadroniert. Denn meine Bemerkungen zu dieser in den Augen der Anwesenden niederen Bewegungsform wurden aufgenommen, als hätte ich einen besonders übel riechenden Furz gelassen. Was für eine Zumutung, Anhänger der Königsdisziplin des Tanzes mit derlei Banalitäten zu behelligen…
Wenn ich mir den Lobpreis des Tango näher anschaue, stoße ich allerdings immer wieder auf einen veritablen Widerspruch. Denn seine Überhöhung wird all zu oft mit einer Erniedrigung begründet. Nicht vom Tanz um seiner selbst willen ist da die Rede. Vielmehr dient er als Mittel zum Zweck. Beispielhaft ein Workshop mit dem schönen Titel: „Achtsamkeit in der Beziehungsgestaltung mit Tango Argentino“ (***) – Tanzpartner oder Vorkenntnisse nicht nötig . Dabei werden in unseren Kreisen werden gern, ehrfürchtigen Blickes, die „viejos Milongueros“ beschworen – jene alten Herren, die nichts anderes tun hatten oder haben, als große Teile des Tages zu verschlafen und sich die Nächte mit Tango um die Ohren zu schlagen. Ich vermag mir allerdings nur schwer vorzustellen, wie ich Puppi Castello (****) oder einem anderen dieser Könige der Nacht den neodeutschen Begriff der „Achtsamkeit“ übersetzten sollte. Und was würden sie wohl zur Zielsetzung des Kurses sagen: „In der Übung mit einfachen Elementen aus dem Tango Argentino, reinszenieren sich alltägliche Kommunikations- und Beziehungsmuster in vielfältigen Aspekten, Rollen und Polaritäten“?
Gustavo Naveira und seiner MitstreiterInnen haben im Tango Nuevo den Tanz dekonstruiert, um zu erkunden, was wir tun, wenn wir diesen oder jenen Schritt setzen und auf welche Weise wir im nonverbalen Dialog den PartnerInnen unsere Absichten nahebringen. (*****) Ihre Erkenntnisse werden heute nicht nur im Tango-Unterricht genutzt, sondern auch in derlei Workshops. Dort aber geht es nicht um Tango. Vielmehr werden technische Elemente unseres Tanzes als psychologische und soziale Techniken genutzt. Ich will ihre Eignung nicht bestreiten. Selbstverständlich erfahre ich in einem Paartanz wie dem Tango viel über mich und meinen Umgang mit anderen Menschen. Aber ist dies Medium alternativlos? Rollenspiele zur Verfeinerung von Selbst- und Fremdwahrnehmung beherrschen auch Psychologen aller möglichen Richtungen, die nicht zufällig im Privatleben dem Tango als Hobby verfallen sind. Was erfährt nicht alles über sich und seine Mitmenschen, wer mit seiner Rechtsanwaltskanzlei oder Verwaltungsabteilung eine Durchschlage-Übung in unbekanntem Gelände absolviert?
Mehr oder weniger elaborierte Psychospielchen gibt es zuhauf. Doch müssen wir unbedingt den Tango dazu degradieren? Vor allem aber: Sind es die auf diese Weise (womöglich) gewonnen Erkenntnisse, die uns animieren, so viel Zeit, Geld und Leidenschaft in ihn zu investieren, wie es die meisten von uns tun? Ich kann nur für mich sprechen und ein klares NEIN formulieren. Ich tanze Tango, weil ich gern tanze, weil ich mich ihn ihm besser ausleben und ausdrücken kann als in jeder anderen musikalisch inspirierten Bewegungsform zu zweit. Kurzum: Weil er mir einen saumäßigen Spaß bereitet, selbst wenn das meiner Miene beim Tanzen nicht immer anzusehen sein mag. Was die Menschen auf dem Wochenmarkt oder sonst wo über mich sagen, quittiere ich mit einem lockeren Zucken aus dem Schultergürtel…
(*) Susana Miller kommt einmal im Jahr zu Workshops ins Berliner Mala Junta. Das Video zeigt sie mit dessen Besitzerin Judith Preuss. Die präziseste Vorstellung ihrer Arbeit, die ich im Netz finden konnte, stammt aus den USA: https://www.tango-agenda.com/en/date/61734 Die anderen beiden Videos hab ich ausgewählt, um zu illustrieren, dass es nicht so einfach ist, eine “Tangohaltung” zu identifizieren.
(**) KoKoTango – Konstruktiv Kollegiale Tangogespräche https://www.facebook.com/groups/tangoforum/
(****) http://www.todotango.com/english/history/chronicle/508/Confessions-by-Puppy-Castello/
(*****) http://www.danceoftheheart.com/naveirainterview.htm, Carolyn Merritt, Tango Nuevo, University Press of Florida, 2012, 272 S.
5 Comments
Einiges wird überhöht, so weit, so gut. Wobei Körpertherapeuten beim Tango, etwa gegenüber Discofox, praktische Vorteile hinsichtlich Bewegungsvariabilität, Anstrengungslevel und Verletzungsgefahr sehen dürften. Nicht von ungefähr wirken manche Sonntagsmilongas wie ein Kurtanztee. Und für Beziehungstherapeuten ist es wohl ein offenkundiges Paradies.
Bleibt eine persönliche Frage: wenn Tangotanzen Dir einen saumäßigen Spaß bereitet, warum neigst Du dabei zu Verkrampfungen im Schultergürtel?!
Es besteht in der Tangoszene sehr oft die Gefahr, Gesellschaftstänze, insbesondere Standardtänze, mit dem Tango zu vergleichen und vorschnell zu verurteilen. Ich kann z.T. die Ablehnung der Standardturniertänze einiger Tangotänzer verstehen, muss aber auch sagen, dass sie oft nicht über ausreichendes Wissen verfügt, um über diese Tänze qualifiziert urteilen zu können. Über ein einfaches „gefällt mir oder nicht“ kann diese Beurteilung also nicht hinausgehen. Mit sachlicher Kritik kann also nur ein fachlich geschulter Blick eines Fachmanns (wie z.B. eines Literaturkritikers) beurteilen, was es mit en Tänzen auf sich hat.
Doch zunächst ist der direkte Vergleich aus Unkenntnis der eigentlichen Motivationen der Protagonisten dieser Tänze sehr fragwürdigt. Standardtänze des sogenannten Welttanzprogramms – Tango, Wiener Walzer, Langsamer Walzer, Slow Fox und Qickstep – sind Relikte aus einer Zeit, als diese Tänze zu den zeitlich verbreitetsten Tänze gehörten. Früher gehörten sogar noch Polka, Rheinländer u.a. dazu. Sie sind mittlerweile, bis auf Ausnahmen, aus dem Blickwinkel der Öffentlichkeit verschwunden, d.h sie werden selten auf öffentlichen Tanzveranstaltungen in Cafés, Speziellen Tanzlokalen wie Milongas getanzt, wenn man mal die Veranstaltungen der Tanzschulen ausnimmt. Die Tanzsportvereine bilden ihre Mitglieder entweder sehr zielbewußt in Richtung Turniertanz aus oder ältere Hobbytänzer/innen in gehobenere Tanzlevel, die dem Turniertanz sehr ähnlich sehen. Auf jeden Fall nicht in eine praxistaugliche Form der Gesellschaftstänze auf gefüllten Tanzflächen. So sind auch die Tanzflächen überproportional groß, um z. B. einen Wiener Walzer nicht zum Kegelsport zu machen. Auch eine möglichst kompatible Form eines allgemeinüblichen Tanz-Codes wie im T.A. wird nicht vermittelt, geht es doch allgemein um äußerlichen Ausdruck und nicht um Rücksichtnahme; als ab einer relativ überschaubaren Menge auf einer Tanzfläche wird’s ruppig.
Doch wenn man mal die einfachen Gesellschaftstänze betrachtet, Walzer, Foxtrott, Tango, wie sie in den 60er Jahren von der Allgemeinheit getanzt wurde, (zu sehen z.B. bei Tanzen mit dem Ehepaar Fern aus den 60er Jahren Iink: https://youtu.be/45-FuDO6KC4) fällt auf dass sie relativ einfach und natürlich getanzt wurden, also nix mit verdrehten Köpfen und abstrusen Bewegungen. Die Musik war natürlich schauderhaft.
Davon ist heute leider nichts mehr zu sehen, die Entwicklung der heutigen Turniertänze hat sich leider weg von allgemeintauglichen Bewegungen und Tanzhaltungen in ungesunde Rücken- und Nackenmuskelgymnastik verwandelt und die Musik ist leider noch scheußlicher geworden.
Aber dass einige Tangotänzer/innen das Können eines Standardturniertanzpaares herabwürdigen, betrachte ich als extrem überheblich. Die unzähligen Stunden ausdauernden, harten Trainings einer relativ großen Anzahl von Turniertänzern auf der Welt, stellt die Bereitwilligkeit vieler Tangueros ihnen dies gleich tun, vor allem in Deutschland, weit in den Schatten. Die 2-3 Jahre mittelmäßiger, recht rudimentärer Tanzkenntnisse eines durchschnittlichen Tangotänzers lassen sich nicht mit dem schon in den unteren Startklassen D bis S üblichen Vorraussetzungen und Arbeitsaufwand vergleichen.
Fazit: Nur über den eigen Geschmack allein läßt sich nicht ein Tanz und seine Eigenschaften und auch nicht die Fähigkeiten ihrer Ausführenden beurteilen. Mir selbst gefallen diese Turniertänze in ihrer heutigen Form auch nicht, aber es gibt mir nicht das Recht, den Tango Argentino als den einzigen wahren Tanz zu erheben. Aber ich würde mir wünschen, es hätten mehr etwas mehr Tangueros diesen Fleiß und diese Energie, den sehr viele Turniertänzer in ihren Tanz stecken, und sei es nicht zu Wettbewerbszwecken, sondern aus Freude und Spaß an der Sache selbst.
Also, ích tanze, weil ich mich da, auch wenn es komisch klingen mag, am vollständigsten fühle, bei mir selbst bin ((und gleichzeitig bei meiner Tanzpartnerin) in mir ruhe.
Ein richtig tolles Gefühl. Beim Bildhauen geht es mir ähnlich, aber Tanzen ist noch direkter.
Ich weiß nicht, wie andere Menschen im Supermarkt stehen. Außer an der Kasse steh ich eigentlich ziemlich selten. Dafür tanze ich Tango, wenn ich den Einkaufswagen schiebe.
Da hat sich wahrscheinlich schon mancher darüber gewundert, was der Typ da bloß macht.
Die aufrechte, nicht verkrampfte Haltung, da bin ich mir inzwischen völlig sicher, ist schon die halbe Miete beim Tango tanzen. Sie macht viele Dinge leicht, die ansonsten unnötig schwierig sind.
Mit dem ganzen Psycho Tralala der oft an den Tango gehängt wird, hab ich nicht viel am Hut, und als traurigen Gedanken empfinde ich Tango tanzen eher selten (auch wenn viele der Lieder traurige Texte haben), Ich finde, dass man am Besten tanzt, wenn man zumindest innerlich, lacht (gern auch über sich selbst).
Vielleicht interessiert Dich dazu dieser Artikel http://tango-kurs.com/warum-ihr-beim-tango-tanzen-lachen-solltet-oder-zumindest-lacheln/
> „Ihr müsst stehen wie im Supermarkt!“
Ein m.E. merkwürdiger Satz bzw. komisches Bild, das mir auf Anhieb gar nichts sagt. Wie steht man denn (nach einem anstrengenden Arbeitstag?) im Supermarkt? SO will ich auf alle Fälle nicht beim Tanzen aussehen.
> Überhöhung des Tangos
Das Absurde ist: Je konservativer/”traditioneller” Milongas (bzw Encuentros) sind, umso weniger machen/”tanzen” die Leute überhaupt noch. Bei mehr als 90% der TänzerInnen kann man die Figuren/Variationen an zwei Händen abzählen (oft reicht auch eine). Je weniger sie machen, desto mehr sind sie aber zutiefst überzeugt, dass dieses Mikrogefuzzel WAAAAHNSINNIG schwer ist und mit Friedhofsmiene zelebriert werden muss.
Und ja doch, ich weiß, richtiges “caminar” ist sooo unglaublich schwierig, man kann ein ganzes Leben lang lernen usw. udgl. aber es ist und bleibt halt einfach nur “Gehen”.
…stehen, wie im Supermarlt… nee, sicher nicht. Wenn ich da so stehe, die Griffe des Einkaufswagens in den Händn, bemüht, andere Besucher nicht über den Haufen zu fahren oder auch nur anzurempeln, da habe ich mich schon mehrfach bei dem Gedanken erwischt : soo wird es sein, wenn ich meinen zukünftigen Rollator schiebe… aber da habe ich dann ja wenigstens eine Bremse dran !