Vor einiger Zeit bin ich umgezogen. Nach mehr als 20 Jahren Berlin lebe ich zum ersten Mal in dem Teil der Stadt, für den sich hartnäckig der Begriff “Osten” hält. Korrekt: im Bezirk “Mitte” – nur wenige Meter von jener Grenze entfernt, die einmal durch Mauer, Stacheldraht und andere Freundlichkeiten befestigt war. Nicht weit hinter dem grüngelben Schild, das den Beginn des Bezirks “Kreuzberg” markiert, kreuzt die Oranienstraße die Heinrich-Heine-Straße, in der ich wohne.
Wie schon seit Jahren bin ich etwa einmal in der Woche hier. Von Schöneberg aus, tief im Westen, brauchte ich eine gute halbe Stunde mit der U-Bahn (einmal umsteigen), um mein Ziel zu erreichen. Heute gehe ich aus der Haustüre in die Dresdener Straße, biege am Oranienplatz nach links ab und bin nach zehn Minuten zu Fuß da. Früher hat es mich am Freitag Abend Woche für Woche in die Nr. 185 gezogen – zur Milonga “Der schöne Freitag” in der Tanzschule “Tangotanzen macht schön” (TTMS) https://tangotanzenmachtschoen.de. Heute geht’s mir um die Wurst. Und den Käse. Beides und andere Leckereien kaufe ich am Samstag Morgen schräg gegenüber im Feinkostgeschäft Hillmann https://www.lebensmittel-hillmann.de. Sehr frei nach Bertolt Brecht: Erst das Fressen… und dann keine Milonga. Für lange Zeit.
Denn leider sind wir in diesen Tagen ja gezwungen, uns dem Tango vornehmlich in der Erinnerung zu nähern – an jene Zeit, bevor uns Covid 19 aus dem Paradies vertrieben hat. Was bleibt übrig als zu träumen? In diesem Fall war es jedoch nicht zuvörderst der böse Virus, der meine einstige Stamm-Milonga zerstört hat, sondern die Veränderung der Tangoszene und als Reaktion darauf: Die neue Geschäftspolitik des Veranstalters. Ich hoffe, ich mache mich nicht der “Nestbeschmutzung” schuldig, wenn ich diese Sicht der Dinge so offen ausspreche.
Mehr als ein Jahrzehnt lang hatte es Rafael Busch https://www.facebook.com/rafael.busch, der die Schule gemeinsam mit seiner Partnerin Susanne Opitz https://www.facebook.com/susanne.opitz.50 betreibt, Freitag für Freitag verstanden, hier eine besondere Atmosphäre zu schaffen – durch seinen persönlichen Charme als Gastgeber und durch seine Musikauswahl mit wohldosierten Portionen von Non- und neueren Tangos. Besonders gern erinnere ich mich an einen Abend, den er fast komplett mit modernen Cover-Versionen klassischer Tangos gestaltete. Ab und an gabs gegen Mitternacht eine ebenso fröhliche wie Kraft raubende Einheit Salsa. Da mochten die meisten Solo-Tango-Freaks zwar nicht mitmachen. Aber auch dies trug zur Auflockerung der Stimmung bei.
Doch Rafael war immer öfter mit Susanne auf Tour. Gast-DJs aber kosten Geld. Und die Lehrerin aus dem TTMS, die ihn meistens am DJ-Pult vertrat, schaute lieber in ihr Smartphone als ins Publikum. So brachte sie selbst viele Anhänger konventioneller Musik zum gelangweilten Augenrollen. Daher lichteten sich die Reihen des Publikums immer mehr. Später zog sie gemeinsam mit andern eine eigene Milonga mit strikt klassischem Tango auf – als Untermieter im TTMS. Diese Veranstaltung war ein Erfolg.
Die Abwärts-Entwicklung wurde insgesamt durch den Hinzutritt neuer Veranstalter auf den Berliner Tangomarkt beschleunigt. Sie richteten sich an ein jüngeres Publikum, das sie durch zusätzliche Gimmicks wie Shows und Verlosungen oder Visuals lockten. Als der “Schöne Freitag” schließlich nur noch ein Schatten seiner selbst war, zog Rafael die Reißleine. Schluss mit der wöchentlichen Milonga. Die Schule wurde am Wochenende an andere Veranstalter vermietet. Der Hausherr legte nur noch (in der Regel) einmal im Monat auf. Dann kam auch wieder die Mehrheit des alten Stammpublikums. Aber nach meinem Eindruck: Mehr nicht. Ein Zukunftsmodell sieht anders aus.
Zur besonderen Atmosphäre dieser Institution hatte nicht zuletzt die “Tauschtanda” beigetragen. Dabei spielt der DJ in der Regel fünf Stücke und fordert die Tanzenden auf, nach jedem davon den Partner oder die Partnerin zu wechseln und möglichst mit jemandem zu tanzen, den man/frau noch nie im Arm hatte. Das hat eine kleine Minderheit in die Verweigerung (oder aufs Klo) getrieben. Aber die Mehrheit hat mitgemacht. Manche Augen rollend. Aber die meisten hatten Spaß dran. Ich auch. Gelegentlich wurde der Brauch in anderen Milongas kopiert.
Das Ganze führt zur Auflockerung der Veranstaltung – weil auf diese Weise auch Menschen mit einander tanzten, die das nicht geplant hatten. Es gab weniger “Wallflowers”, und alle wurden daran erinnert, dass eine Milonga eben keine Hochleistungskür ist, sondern ein “social event”. Aber es kam bei der “Tauschtanda” nicht nur zu Neuentdeckungen, sondern auch zu Wiederbegegnungen: “Ach, wie haben ja schon lange nicht mehr mit einander getanzt.”
Besonders lustig fand ich’s, als eine DJane mitten in den Stücken unterbrach und wechseln ließ. Da musste jeder mit dem oder der vorlieb nehmen, die oder der gerade vor ihm stand. Weil da niemand quer über die Pista laufen konnte, um doch noch nach dem der Lieblingspartner zu suchen, mischte sich das Tanzvolk besonders bunt. Sogar die Freunde des nachhaltig geregelten Kreistanzes waren’s zufrieden – weil die “Ronda” kaum angetastet wurde.
Ich war an diesen Abenden fast immer Single. Es sei denn, es spielte, selten genug, eine Live-Band. Da kaum auch meine Frau mit. Normalerweise ist sie kein Nachtmensch. Sie tanzt lieber nachmittags. Aber egal, um welche Tageszeit – das sozial bunt gemischte Tanzen, eine Sitte, die in der “Tauschtanda” ihren besonderen Ausdruck fand mit Partnerwahl nach dem Zufallsprinzip – diese Art von Tango ist bis auf weiteres vorbei.
Früher wäre ich froh gewesen, gleich um die Ecke eine Milonga zu wissen, die ich mag. Heute finde ich es praktisch, dass ich hier nicht nur Wurst und Käse kaufen kann. Genauso nahe habe ich zwei Mal die Gelegenheit, mich auf den schrecklichen Virus testen zu lassen. Ein Impfzentrum gibt’s bestimmt auch bald. Wir wollen ja optimistisch bleiben…
6 Comments
Ein schöner, gefühlvoller Artikel.
Der Vergleich mit der Wurst ist doppelt interessant, da Susanne und Rafael ja vegan leben.
Die Tauschtanda habe ich in Herne als „Berliner Runde“ kennengelernt.
Danke für das Kompliment, lieber Christian. In diesen Zeiten werden selbst olle Zyniker wie ich sentimental. “Berliner Runde” find ich gut. Ich weiß, dass Susanne ihre Familie zum Veganismus erzogen hat. Für die Milonga hatte das eine positive Folge: Freie Gurkenschnittchen am späteren Abend. Die mochte auch ein Carnivorer wie ich. Zumal ich vor dem Tanzen, egal wo, grundsätzlich nix mit Fleisch gegessen habe.
klingen lecker, die freien Gurkenschnittchen 🙂
Gut beobachtet, Thomas – klingt zumindest plausibel auch wenn ich nie im TTMS war.
Der wirtschafliche Zwang zu Tangoreisen ist die ultimative Selbstausbeutung in einem Beruf, der schon durch seine Arbeitszeit und Emotionalität das “Runterkommen” am Abend schwer macht. Und was man mit 30 noch gut weggesteckt hat, kann mit 50 sehr beschwerlich sein. Irgendwas wird da langfristig auf der Strecke bleiben, da kann man eigentlich froh sein, wenn es nur die Milonga ist.
Aber eine Milonga ohne spürbare Gastgeber ist für mich ein no-go (bzw. one-go), schon wenn man vom abendlichen DJ mal absieht.
Du sprichst mir aus dem Herzen. Aus ähnlichen Gründen, wenn auch etwas jünger, war ich noch nicht im TTMS.
Ich bin mir nicht sicher, ob Tangoreisen – organisiert von einem professionellen Unternehmen – für Lehrer nicht die weniger anstrengende Art der Arbeit sind, als bis in den frühen Morgen auf Milongas rumzuhängen und dann aufzuräumen etc. und womöglich am nächsten Tag zu unterrichten. Aber ich kenne die Kalkulationen nicht. Was ich weiß: Die Milonga im TTMS war immer toll, wenn Rafael Busch als DJ und Gastgeber auftrat.