Ich bin immer noch gerührt, welch große Anteilnahme mein kleiner Text über den Abschied von meiner Schwiegermutter ausgelöst hat. Meine Frau und ich möchten uns an dieser Stelle für euer Mitgefühl und die vielen guten Wünsche bedanken. Sie werden uns begleiten, wenn wir sie nach den Feiertagen zu Grabe tragen. Ihre letzte Ruhestätte wird sie an der Seite ihres geliebten Mannes finden.
In den letzten Jahren gehörten Tango und Weihnachten für mich zusammen. Die Mutter meiner Frau lebte seit einiger Zeit in einem Pflegeheim in Bremen. Wir haben sie regelmäßig besucht und zum Essen ausgeführt. Auch am Heiligen Abend waren wir bei ihr. Alle Jahre wieder. Das wichtigste Geschenk: Unser Tanz. Eine mixed Tanda für (Schwieger)Mama: Tango, Vals, Milonga. In ihren jüngeren Jahren hat sie leidenschaftlich gern selbst getanzt. Im hohen Alter genoss sie es, uns zuzuschauen. Ihre “Kinder” in Smoking und Abendkleid. Es war schließlich ein Festtag.
Unser privates Ritual in die weihnachtliche Zeremonienfolge der Station einzuklinken, war nicht immer einfach. Schon die kleine Feier, die eine Mitarbeiterin liebevoll mit Liedern, Gedichten und Geschichten gestaltete, überforderte einen Teil der Bewohnerinnen. Ihnen waren Glühwein und Gebäck wichtiger. Aber wir hatten mächtige Verbündete. Denn die Schwestern mochten unsere Darbietung. Wenn sie Zeit hatten, kamen auch Kolleginnen aus anderen Stationen dazu.
Erschwerend kam hinzu, dass es der Mehrheit unseres nicht völlig freiwilligen Publikums an den Grundvoraussetzungen für die Würdigung unseres Unterfangens gebrach: Jenseits der 80 Jahre (wie die meisten hier) sind Augen halt nicht mehr bestens in Schuss. Und das Gehör sowieso nicht. Dennoch gab es Interesse. Manchmal sogar Begeisterung.
Bis heute bekomme ich feuchte Augen, wenn ich an eine kleine schmale Frau mit einem fahlen, eingefallenem Gesicht ohne Gebiss denke. Sie war stocktaub, wie die Pflegerinnen berichteten. Aber in unseren Bewegungen erkannte sie: Die Tanzen! Das war einst auch ihr Ding gewesen. Ihre Züge gerieten in Bewegung und der Körper im Rollstuhl auch, soweit das noch möglich war. Vor lauter Freude brachte sie schwer definierbare Laute hervor – irgendwo zwischen Lachen und Weinen. Im Jahr drauf war sie nicht mehr da.
Lange gehörte Schwiegermama zu den rüstigsten an diesen Advendsnachmittagen. Stets saß sie aufrecht an ihrem Platz und lauschte. Und schaute. Sie war wohl auch ein wenig stolz auf ihre “Kinder”. Denn oft kamen Pflegekräfte aus anderen Stationen, um unserer kleinen Show zuzuschauen. Mit ein paar musikalisch platzierten Boleos und Ganchos ist es nicht so schwer, tangoferne Menschen zu beeindrucken.
In diesem Jahr war alles anders. Die alte Dame war im Lauf der Zeit allmählich immer schwächer geworden. Die regelmäßigen Telefonate meiner Frau mit ihr gestalteten sich immer schwieriger. Ihre Tagesform schwankte. Aber irgendwann beschleunigte sich der gesundheitliche Verfallsprozess. Seit ein paar Wochen konnte sie ihr Bett nicht mehr verlassen. Weihnachten werde sie wohl nicht mehr erleben, hatten die Schwestern uns gewarnt.
Wegen Corona bekamen die Töchter mit ihren Ehemännern kurz vor dem neuen Lockdown die Ausnahmegenehmigung zu einem “Palliativbesuch”. Jeweils zu zweit. Mit Abstand und Masken. Das war schön, aber auch ein Zeichen dafür, wie schlecht es um sie stand. Auffällig schon beim Betreten des Zimmers die Parade ihrer Bewegungshilfen vor dem Fenster. Lange hatte sie sich geschickt mit dem Rollator durch ihre Station bewegt. Sie kam in die Küche, um bei den Vorbereitungen für die Mahlzeiten zu helfen.
Diesmal parkte der Rolli ungenutzt unter ihren geliebten Orchideen am Fenster. Daneben der Rollstuhl, den zu nutzen, sie sich lange gewehrt hatte. Dann der Rollstuhl mit Kopfstütze. Wie hatte sie die Ente mit Rotkohl und Klößen am Ersten Feiertag in unserem Weihnachtsstammlokal genossen oder die Auswahl von Räucherfisch, die wir am Heiligen Abend gemeinsam in ihrem Zimmer verzehrten. Nun mochte sie nichts mehr essen. Sie lag nur noch auf dem Bett. Ausgestreckt. Fast regungslos. Wenn sie nicht schlief, hatte sie die Augen meist weit geöffnet. Wie ihre eigene Totenmaske. Sie ist schon halb in einer anderen Welt, sagte mein Schwager.
Ob sie uns uns noch wahrgenommen hat? Auf jeden Fall genoss sie es, wenn eine ihrer Töchter neben ihr auf der Bettkante saß und ihre Hände nahm. Manchmal bewegte sie auch ganz leicht die Augen in Richtung des Smartphones, aus dem die Musik für unseren Tanz kam. Erst Tango. Dann hab ich nur noch Valses gespielt. Zum Schluss einen deutschen Langsamen Walzer. Zu dem Stück von Hildegard Knef hatten wir auch in früheren Jahren immer wieder für sie getanzt:
Für mich soll’s rote Rosen regnen
Mir sollten sämtliche Wunder begegnen
Das Glück sollte sich sanft verhalten
Es soll mein Schicksal mit Liebe verwalten
Sie liebte das Lied. Früher hatte sie gestrahlt, wenn es erklang, und sich ab und an dazu im Takt gewiegt. Auch diesmal regierte sie. Kaum hörbar flüsterte sie: “Schön…” Das letzte Wort aus ihrem Mund, das ich wahrgenommen habe. Nicht lange danach ist sie vollends in die andere Welt gegangen. Sie wurde 92 Jahre alt. Mir gefällt der Gedanke, ihr könnte am Ende ihres mühsamen Abschiedskampfes diese Zeile durch den Kopf gegangen sein: “Für mich soll’s rote Rosen regnen…”
7 Comments
Das war so emotional, dass ich unmittelbar Tränen in die Augen bekam. Super, dass Ihr das jährlich so liebevoll gemacht habt. Wunderbar beschrieben. Danke!
Mein aus tiefem Herzen mitfühlende Beileid euch !
Ich kann das sooo gut nachvollziehen aus dem langen Abschied von meiner eigenen Mutter, die auch nur noch über Berührung und Musik erreichbar war. Wunderschön dieser Gedanke mit den Roten Rosen … ! DANKE
auch mein herzliches beileid! schön wenn die letzten momente des lebens mit schönen erlebnissen gefüllt sein können.
Danke für dieses Geschenk.
Das hat mich besonders berührt, da unsere Mutter sich auch für diese Reise vorbereitet. Sie liebt und liebte das Leben wie ihre beiden Geschwister, die mit 94 und 95 gingen. Ihre ältere Schwester letzten Jahr am 31. Juli. Sie war sozusagen die Ersatzmutter unserer Mutter, die eben 93 geworden ist. Als Halbweise (der Argent.-Ital. Vater starb bei einem Arbeitsunfall) musste sie in ein Heim gesteckt werden und nach dem Krieg suchte sie ihr Glück in die Schweiz, wo sie meinen Vater kennen lernte. Und nach einer Phase von Opiaten, einer Vollnarkose wegen einer Notoperation hat ihr Gedächtnis dramatisch abgebaut. Meine Schwester, ihre Familie und ich schauen zu ihr und beobachten den Abbau.
Es ist ein Abschied auf Raten und es ist dennoch schön, dabei zu sein und etwas zurück geben zu dürfen. Viele kennen wohl diese Frauen und Männer, die aus jeder Lebenslage das Beste machten, hart arbeiteten und sich selten beklagten.
Das Lied von der faszinierenden Hildegard Knef eroberte mein Hezr schon vor 20 Jahren als ich es per Zufall entdeckte. Meiner lateinischen Seite geschuldet, will ich an die vielen Musikstück erinnern, die den Müttern dieser Welt gewidmet sind.
Dabei fällt mir auch etwas Trauriges ein, das aber letztlich ein paar wichtige Gedanken Wert ist. Mein Neffe arbeitete neben seinem Studium in einem Altersheim am Wochenende und wird wegen seiner zupackenden und fröhlichen Art sehr geschätzt. Alleine letzte Woche sind 9 Betagte gestorben. Wiederum einige kaum Symptome. Einige in der anderen Abteilung Fieber..und vermutlich werden noch mehr gehen müssen.
Berührend aber auch die Tatsache, dass die ehemalige Nachbarin meines Neffens bzw. meiner Schwester dort auch weilt und nur darüber trauert, warum sie nicht gestorben sei. Sie ist dement und kann nicht zum Sterben nach Florida fliegen, wo sie ihren Sohn und Enkel hat.
Seit letztem Wochenende verharren alle in ihren Zimmern und erhalten das Essen vor der Tür in Plastikgeschirr, das leicht entsorgt werden kann. Nur in Begleitung dürfen sie das Zimmer kurz verlassen.
Das erinnert mich an Isolationshaft, wenngleich es gut gemeint ist.
Insofern stellt sich bald einmal die Frage der Würde des Menschen. Unsere aller Würde. Wieviele Jahre sollen es sein oder warum wir diese wertvollen Momente, heute und morgen und in der Stunde unseres Todes (nach einem christl. Gebet) geniessen müssen.
Was ist wohl aus den alten Menschen, die ich in der Milonga Obelisco oder im Gricel 2015-2018 beobachtete? Seit bald einem ganzen Jahr sind sie eingesperrt…
Denken wir an alle unsere Mammas – aber auch den Papas, mit Charles Aznavours “La mamma” oder das Italienische “Mamma”, hier in der schön-dezenten Fassung von Claudio Villa (wurde auch übersetzt in vielen Sprachen).
https://www.youtube.com/watch?v=qyLTRqs9OvU
Lieber Thomas,
auch von mir ein herzliches Beileid.
Ich finde auch Deine Zeilen, die liebevolle Erinnerung bewegend und dank Dir dafür.
Liebe Sylvia lieber Thomas auch von mir das herzlichste Beileid. Sehr einfühlsam, ergreifend den Übergang eines Menschen zur anderen Seite. Und einmal mehr wie der Tanz unser Tango auch Zuschauer ergreift, sie sich erinnern und die elementare Energie des Tanzes erfahren. Und so habt Ihr beiden Gutes getan und Vorurteile gegen Schwiegermütter abgebaut. Respekt. Bist eben ein filigraner Dokumentarist. Danke.
Lieber Thomas,
mein herzliches Beileid.
Dein Text hat mich sehr berührt.
Ich umarme dich und Sylvia,
Ines