In der harmonischen Zusammenarbeit des jungen Kurt Tucholsky mit seinem Redakteur Siegfried Jacobsohn gab’s eine kurze Irritation. Einmal erhielt er nicht das übliche Lob, sondern sein Manuskript zurück. Die Einwände des väterlichen Freundes quittierte der Star in spe mit einem Schwall von Worten darüber, was er habe ausdrücken wollen. Jacobsohns ungerührte Antwort: „Und warum haben sie’s nicht geschrieben?“(**)
Wohl wissend also, dass erklärende Interpretationen eigener Texte in aller Regel auf den Autor zurückfallen, erlaube ich mir einen Hinweis an meine Leserlnnenschaft: Ich nehme bei einigen die Tendenz wahr, „Kuschelparty und Tangasmus“ unter dem Label abzulegen: Männer wollen sowieso immer nur das eine, mögen sie’ s auch mit „wahnsinnig achtsame(n) Bekundungen zur Geschlechtlichkeit speziell im Tango“ zu camouflieren trachten. (***) Mmmh, da möchte ich doch drauf hinweisen, dass (leider) nicht ich es war oder ein anderer Kerl, der sich die zauberhafte Wortschöpfung „Tangasmus“ hat einfallen lassen lassen – sondern eine Frau (****)
Sasha Cagens kürzeste Definition geht so: „Tanzen in einer Umarmung bringt Energie zwischen unseren Herzen hervor und erzeugt ein Hoch, das den ganzen Körper erfasst“. In der Szene gebräuchlicher für die gelungene Ménge à trois zwischen einem Tanzpaar und der Musik ist der Begriff des „Flow“. Aber hätten Cagen oder ich damit Aufmerksamkeit erregt? Für mich wurde es in kürzester Zeit mein bislang erfolgreichster Blogtext. Auf der anderen Seite der Niveauskala greift Cassiel, der vor Überhöhungen selten zurückschreckt, tief in die Schatzkiste seiner Bildung und bekommt Platons „Gastmahl“ zu fassen. Ich finde seinen Vorschlag schlüssig, im Begriff „sensual“ in Opposition zu „sexual“ Spuren jener Entgegensetzung von geschlechtlichem Begehren und dem Streben nach „reiner“ Schönheit zu erkennen, das wir uns angewöhnt haben, „platonische Liebe“ zu nennen.
An dieser Stelle komme ich jedoch auch den eher erdigen Unterstellungen meiner bayerischen FreundInnen Manuela Bößel und Gerhard Riedl einem halben Schritt entgegen: Das Postulat porentiefer Tangoreinheit klingt mir zu sehr nach Helene Fischer. Wenn Menschen (egal wie gegendert) einander auf dem Tanzboden begegnen, geht es nie aseptisch zu. Da wird Staub aufgewirbelt. Real wie metaphorisch. Deshalb meine These, dass eine (wie auch immer dosierte) Spur von Sex, Erotik – name it how you may – meistens mitspielt im Paartanz. Nicht nur, aber eben auch im Tango. Würden sich sonst die Ladies in den Milongas so kleiden wie sie es tun? Würden die (nicht immer) Gentlemen andernfalls ihren archaischen Jägerblick schweifen lassen? Das soll nicht heißen, dass die Mehrheit der BesucherInnen einer Milonga in transgeschlechtlicher Eintracht mehr will als nur das angeblich Eine – nämlich tanzen.
Aber ich nehme eine gewisse Scheu zur Kenntnis, die erotische Seite des Tanzes in unserer Wahrnehmung zustimmend zuzulassen. Das ist mit einiger Wahrscheinlichkeit dem Versuch geschuldet, das elende „Tango ist der erotischste Tanz der Welt“-Klischee zu vermeiden. Aber geht es womöglich auch um das – durchaus sympathische – Streben nach Selbstschutz gegenüber den Gefährdungen, die der Tanz eben doch eröffnet? Nicht alle sind so gefestigt wie Jürgen Kühne, der von sich sagt, dass er „jede Tangopartnerin als Frau mit ihren eigenen weiblichen Reizen“ wahrnehme, ihm aber dennoch „weder vor, noch bei und schon gar nicht nach dem Tanz in den Sinn“ komme, „an etwas zu denken, was über die reine Tanzfreude hinausgeht“. Er führt das unter anderem auf seine Konzentration „auf die Musik, die Partnerin, den Raum, die Schritte, die Figuren“ zurück. Da unterscheiden wir uns: Für mich beginnt ein geglückter Tanz dort, wo ich die technische Seite vergesse.
Nach meiner Meinung ist es gerade die Möglichkeit des „mehr“, die dem tänzerischen Geschehen einen Teil seiner Würze gibt. An dieser Stelle interpretiere ich dann doch mal meinen Text: Zur Charakterisierung des Kribbelns, das im besten Fall zwischen zwei TanzpartnerInnen entsteht, hab ich nicht zufällig das Gefühl jener Angstlust herangezogen, die wir wir empfinden, wenn wir aus großer Höhe hinab schauen. Beim gebräuchlicheren „Spiel mit dem Feuer“ wird die Flamme öfter mal größer als beabsichtigt. Aber wer springt freiwillig aus dem 12. Stock? Mag sein, da sind eine Reihe JägerInnen unterwegs – ich muss mich nicht an ihrer Jagd beteiligen, um zu verspüren, was ich den zusätzlichen „Kick“ nenne. Im Klartext: Es geht um die Phantasie, nicht um ihre Verwirklichung.
Womit wir beim wichtigsten Missverständnis wären. Das hätte übrigens schon vermeiden können, wer den Titel von Sasha Cagens Text genau zur Kenntnis nimmt: „Tangsm vs. Orgasm, or, is Tango better than sex?“ Doch die vertrackte Magie der Worte „Orgasmus“ und „Sex“ nimmt gerade jene LeserInnen gefangen, die ihr entgehen wollen. Der spektakuläre Begriff des tänzerischen „Tangasmus“ spielt bloß mit dem sprachlichen Klang des sexuellen Orgasmus. Aber es handelt sich um ein Bild. Einen Vergleich. Und Vergleiche hinken. Grundsätzlich – weil sie sich einem Sachverhalt annähern, indem sie Parallelen und Ähnlichkeiten suchen. Aber eins wird die Erklärung mit dem Erklärten nie. Wieder im Klartext: Tangsmus ist eben k e i n Orgasmus, sonder ein tänzerischer Höhepunkt ohne Sex.
Der Kommentar von Laura Knight zeigt mir aber, dass derlei Missverständnisse keineswegs zwangsläufig sind. Sie erläutert aus ihrem eigenen Tangoleben den Unterschied zwischen den Sphären von sexuell fokussierter Erotik und Tangoverzückung. Genau um diese „Differentia spezifica“ geht es. So gesellt sich außer Cassiels Platon auch noch Aristoteles zu unserer illustren Ronda. Lauras Beitrag hat mich dazu bewegt, mein eigenes Tangoleben kurz Revue passieren zu lassen: Ich habe den Tanz in einer Lebensphase gelernt, als ich in festen Beziehungen lebte. Heute bin ich verheiratet. Die Milonga war für mich nie „Hunting ground“, sondern immer nur „Playground“. Meinen Leitsatz „Ich will nur spielen“ hat in den vergangen zehn Jahren nur eine einzige Tanzpartnerin infrage gestellt – ohne dass aus der Gefährdung Realität geworden wäre. Ich tanze bis heute mit ihr. Meine Frau sieht uns gern zu. Ab und zu tanzt auch sie mit ihr.
Zum Spielerischen gehört für mich auch der eher ironische Umgang mit den Emotionen, die uns die Musik des Tango nahe bringt. Ich liiiebe das Pathos in vielen Stücken von Osvaldo Pugliese. Aber ganz ernst nehmen kann ich es nun wirklich nicht, obwohl oder gerade weil ich besonders gern zu jenen Stücken tanzen, in denen es in puren Shmaltz hinüber gleitet: „En otros Caminos“ ist einer meiner Lieblingstitel – erträglich nur durch die hohe Kunst Don Osvaldos. Oder eine Stufe darunter: Herrlich, wie Argentino Ledesma seine „Muchacha“ anschmachtet… Mit der richtigen Partnerin kann ich mich tief in diese Melange aus Giaccomo Puccini und Franz Lehar fallen lassen und ihre näheste Nähe suchen, um mit einem leisen Seufzer und dem Anflug eines Schmunzelns nach dem letzten Taktschlag wieder aufzutauchen. Genau dieses Tanzgefühl ist es für mich, dass dem unheimlichen Kribbeln beim Blick vom Balkon gleicht. Aber ich werde den Teufel tun und springen. In Anlehnung an einen Satz des berühmten Milonguero Bill Clinton: „It’s a Game, stupid!“
(*) Ich bitte um für Verständnis dafür, dass ich nicht auf alle KomentatorInnen namentlich eingegangen bin. Dann wäre es kein durchkomponierter Text mehr geworden. Aber ihre Argument sind darin aufgehoben.
(**) Normalerweise liefere ich die Fundstelle für derlei Zitate. Leider ist mir die Quelle durch Ausleihe abhanden gekommen. Aber ich verbürge mich für die Authentizität. Die Episode ist eine meiner Lieblingsanekdoten.
(***) Manuela Bößel, https://im-prinzip-tango.blogspot.com/2018/05/pablo-klart-mich-auf.html
(****) https://www.huffingtonpost.com/sasha-cagen/tangasm-vs-orgasm-or-is-t_b_6413098.html?guccounter=1
5 Comments
Und warum jetzt die vielen Worte?
Ich vermute, weil wir uns in der heutigen Zeit (wieder mal) in Richtung einer neuen Prüderie hin bewegen, wo jeder Hinweis auf Sexuelles möglichst weit von sich gewiesen werden muss 😉
PS: wäre die erotische, sexuelle oder sensuelle Komponente beim Tanzen und insbesondere auch beim Tango nicht da (ohne diese tatsächlich ausleben zu müssen, schliesslich sind wir ja alle schon etwas “reifer”), wäre der Tango für mich schon lange langweilig geworden …
Zur Prüderie würde gehören, dass man Berichte über (para-)sexuelle Erfahrungen ablehnt. Ich sehe dabei keine aktuelle gesellschaftliche oder tänzerische Strömung, die Prüderie ernsthaft befeuern könnte.
Wer seine Grenze zwischen Tanzgefühl und Sexualität ausloten will, der kann einfach Tanzpartner gleichen bzw. anderen Geschlechtes suchen … zumindest wenn er selbst nicht ausgewogen bisexuell ist. Also ich habe zweimal große, schlanke, erfahrene Männer geführt – das geht in solidem Kontakt ganz anders über die Fläche, als wenn ich eine tänzerische Leichtmatrosin auf Armlänge herumschwenken muss. Aber ich weiß halt auch, wass mir dabei fehlt.
Jetzt wird’s aber feuilletonistisch bis zur Schmerzgrenze! Gehörte doch auch früher nicht zu Deinem Metier, soweit ich weiß?!
Ich finde, Du hättest es beim ersten Artikel und seinen Kommentaren belassen sollen!
Hallo Thomas, noch mal vertieft das Thema und das sehr spannend, wie ich finde. Mich hat dein Beitrag jedenfalls inspiriert und ich hab mir mal wieder Gedanken über Meinen Tango gemacht.
Ich bin 1x gesprungen und hatte Glück.. Ich bin gelandet und nun hab ich Spaß am Tango und allem was dazu gehört!!!!
Dir weiter viele schöne Tangos und Blogartikel!!!
Liebe Grüße aus dem sonnigen Wien
Alessandra
Lieber Thomas,
schon interessant, gell? Den Männern gefällts eher nicht, oder aber sie zitieren vor lauter Schreck griechische Philosophen und Achtsamkeitsformeln.
Die Damen dagegen (sofern sie überhaupt was schreiben) nehmen’s locker und ziemlich bodenständig.
Insgesamt eine schöne Themenserie, die viel Resonanz findet – und wer’s nicht lesen mag, soll’s halt lassen…
Beste Grüße
Gerhard