Ein tolles Tanzpaar die beiden. Aber mindestens so toll ist der Blick, den man von der Bühne der Komischen Oper in den Saal hat.
Dieses Mal konnte ich nicht so intensiv am Tangofestival in der Komischen Oper teilnehmen, wie ich wollte. Aber ich habe vorher an einer kleinen Gesprächsrunde teilgenommen, die im Programmheft abgedruckt ist. Hier der Text, einschließlich Vorstellung der Diskutanten.
Judith Preuss (Tangotänzerin und Tangoschulleiterin), Frank Schulte (Tangomusiker und Repetitor an der Komischen Oper Berlin) und Thomas Kröter (Journalist und Blogger) über schmutzige Schwestern, schräge Böden und die Tangometropole Berlin
Berlins Tangoszene gilt als eine der größten jenseits von Buenos Aires? Was zeichnet sie aus?
JUDITH PREUSS Allein die schiere Zahl an Tanzveranstaltungen: In Berlin kann man an 365 Tagen im Jahr Tango tanzen.
THOMAS KRÖTER Ich habe mir letztens die Mühe gemacht, mir einen Überblick zu verschaffen. Selbst am schwächsten Wochentag, dem Montag, finden mindestens vier Tango-Veranstaltungen statt. Und das geht dann am Freitag, Samstag auf acht bis zehn hoch. Man muss nicht, wie in anderen Städten, im Veranstaltungskalender regelrecht nach Milongas suchen, die dann womöglich nur einmal monatlich, etwa jeden dritten Donnerstag, veranstaltet werden. Insofern ist Berlin ein Tango-Paradies, das Menschen aus aller Welt anzieht. Aufgrund der ökonomisch schlechten Lage in Argentinien kommen viele Tänzer*innen und Musiker*innen aus Buenos Aires nach Berlin, da sie hier einfach besser verdienen.
FRANK SCHULTE: … Und neben den argentinischen auch osteuropäische Musikgruppen wie Solo Tango oder Beltango, die hier sehr gefragt sind, viel und auf hohem Niveau spielen und dadurch die Berliner Szene bereichern.
JUDITH PREUSS Ein Grund für diese Veranstaltungsdichte ist sicherlich die Raumsituation: Hier in Berlin existieren viele große Tanzschulen, Milongas und Tanz-Lokalitäten wie Clärchens Ballhaus nur deshalb, weil die Räumlichkeiten noch bezahlbar sind. Und insgesamt ist Berlin noch eine Stadt, die Künstler*innen ein relativ günstiges Leben auf einem geringen Einkommensniveau ermöglicht. Ich hoffe sehr, dass das auch so bleibt – nicht nur für die Tangoszene.
Wann hat die Stadt ihre Liebe zum Tango entdeckt?
JUDITH PREUSS Nach dem Mauerfall, so Mitte der 1990er Jahre hat das Wachstum und die Internationalisierung der Tango-Szene angefangen. Als ich 1991 mit dem Tango-Tanzen angefangen habe, gab es nur wenige Milongas, z.B. die von Jörg Buntenbach einmal im Monat. Ich war immer wieder in Paris und habe gestaunt, wie viele Milongas und argentinische Tänzer*innen es dort gab. Aber das hat sich dann – wie so vieles – in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre umgedreht.
FRANK SCHULTE In der Musikszene lässt sich eine ähnliche Entwicklung beobachten. Ich habe 1996 angefangen, Tango zu spielen. Da waren mein Ensemble und ich noch relativ allein. Hin und wieder kamen auch ein paar argentinische Gruppen nach Berlin – aber eher auf der Durchreise nach Holland, wo die Musikszene auf jeden Fall ausgeprägter als in Deutschland war. Inzwischen ist Berlin zu einem der wichtigsten Auftrittsorte für Tango-Musiker*innen geworden…
In Berlin ein Festival zu veranstalten, liegt also nahe. Warum aber an der Komischen Oper?
FRANK SCHULTE Vor ca. fünf Jahren hatten Arnulf Ballhorn, Kontrabassist im Orchester der Komischen Oper Berlin, und ich die Idee, eine unserer großen musikalischen Leidenschaften mit unserem Arbeitsort zusammen zu bringen, also den Tango an die Oper zu holen. Das verbindende Element war eine konzertante Aufführung von María de Buenos Aires, die bekannteste Tangooper aus der Feder von Astor Piazzolla. Und dann kam die Frage auf, was wir rund um das Konzert machen, damit sich die Aufführung mit einem schlüssigen Gesamterlebnis, mit Musik und Tanz auf und jenseits der Bühne verbindet. Hierzu hat die Komische Oper, die vielleicht keine Tango-Expertin ist, sich dafür aber mit Gesamterlebnissen auskennt, Judith Preuss, Leiterin der Tangoschule Mala Junta, und Olaf Kroll, Veranstalter der Milonga-Reihe Sólo Una Vez, als Kooperationspartner ins Boot geholt. Es war sehr wichtig, dass wir Tango nicht nur konzertant aufgeführt haben, sondern Milongas, Workshops und Tanzcafés überall im Haus, auf der Bühne, im Foyer und auf den Probebühnen stattfanden.
THOMAS KRÖTER Ich fand es toll, dass eine große Kulturinstitution wie die Komische Oper Berlin sich so öffnet. Und der große Saal ist der blanke Wahnsinn. Zwar hat die Bühne eine Schräge und der Bühnenboden ist stumpf, aber Tangotänzer*innen sind es ja gewohnt, auf allem Möglichen herum zu stolpern. Wenn du aber zum ersten Mal die Schräge hoch getanzt bist und dich dann umdrehst, um wieder runter zu tanzen, und dann siehst du diesen Wahnsinnssaal, mit den Brüstungen und dem goldenen Stuck dahinter – das ist einfach geil.
JUDITH PREUSS Mit Olaf Kroll hatten und haben wir einen Partner, der Milongas bereits an verschiedensten Orten veranstaltet hat, und Ideen dazu hatte, wie man z. B. mit dem Teppichboden im Foyer oder der schrägen Bühne umgehen könnte. Mir war es wiederum wichtig, möglichst viele Akteur*innen der Berliner Tangoszene zu integrieren, die großen Studios und gute Tänzer*innen einzubinden, was sicherlich zu dem großen Erfolg beigetragen hat. Denn die treffen sich ansonsten nicht. Die einen mögen den klassischen Tango, die anderen lieber Tango Nuevo. Um die ganze Spannbreite zu bedienen und ganz unterschiedliche Geschmäcker anzusprechen, haben wir zwei Tanzflächen eingerichtet – wie es Olaf schon bei Sólo Una Vez gemacht hat.
Und nun sind wir bereits bei der zweiten Festivalausgabe … Um sich in dem Festivalprogramm, auf den Milongas und Tangocafés zurechtzufinden, kann ein gewisses Vorwissen ganz hilfreich sein. Gerade fielen die Begriffe »traditioneller Tango« und »Tango Nuevo«. Worin bestehen denn die Unterschiede?
FRANK SCHULTE »Tango Nuevo« umfasst im Prinzip die Tangomusik seit Astor Piazzolla. Als ambitionierter Komponist und Musiker, der durch den klassischen Tango sozialisiert wurde und in Buenos Aires Tango für die Tanzfläche arrangiert hat, hat er aus dieser Tradition heraus etwas Neues, nämlich Tangomusik für den Konzertsaal entwickelt. Das hat natürlich zu Konflikten mit traditionellen Tangoverfechtern geführt. Seit den 1990er Jahren wird der Tango Nuevo allerdings wieder auf die Tanzfläche zurückgeholt – insbesondere für den Show-Tanz, da es sich dabei um einfach magische Musik handelt. Traditioneller Tango ist wiederum eher »tanzbar«,…
THOMAS KRÖTER … übersichtlicher, mit durchgehendem Beat, ohne große Be- und Entschleunigungen und Verzierungen…
JUDITH PREUSS … und häufig für die Tänzer*innen verlässlicher…
FRANK SCHULTE Man weiß, dass er vermutlich um die drei Minuten lang dauert – und eben nicht irgendetwas zwischen zwei und fünfzehn.
THOMAS KRÖTER Und doch merkt man auch dem heutigen klassischen Tango an, dass es zwischendurch Piazzolla gegeben hat. Die Harmonien und Verzierungen sind heute anders als auf den alten Platten.
JUDITH PREUSS Wenn klassischer Tango gespielt wird – als Aufnahme oder live –, dann wissen die Tänzer*innen, woran sie sind; das unterstützt ihre Stimmung auf der Tanzfläche. Von Tango Nuevo werden die Tänzer*innen mehr gefordert, sie müssen besser zuhören und spontaner auf die musikalischen Änderungen reagieren. Beides ist wirklich sehr spannend, und ich bringe meinen Schüler*innen bei, mit beiden Musikarten umzugehen.
Mehrfach fiel bereits das Stichwort »Milonga«. Was ist das denn genau?
THOMAS KRÖTER »Milonga« hat zwei Bedeutungen: Einerseits heißen die Tanzveranstaltungen, die Tanzabende oder -nachmittage, auf denen man Tango tanzt, Milongas. Und andererseits ist die Milonga eine Unterart bzw. enge Verwandte des Tanzes Tango mit leicht anderem Rhythmus.
JUDITH PREUSS Eigentlich die Mutter des Tangos …
FRANK SCHULTE … oder die kleine Schwester…
THOMAS KRÖTER … oder die schmutzige Schwester! Weil in ihr ein bisschen mehr Energie steckt und man sich bei der Milonga mehr bewegen darf als beim Tango.
Wer sich nicht so gut auskennt, denkt bei Tango an Freiheit. Aber es gibt doch eine Menge Regeln, die zum Beispiel eine Tanzveranstaltung strukturieren. Was sind zum Beispiel Tandas und Cortinas?
JUDITH PREUSS Eine Tanda – auf Deutsch: Reihe – ist ein Block von meist drei bis vier Musikstücken, die traditionell von demselben Musikensemble gespielt werden. Heute werden Tandas natürlich auch von DJs zusammengestellt, aber immer nur von einem DJ. Somit können sich die Tänzer*innen auf den Musikstil einstellen und entscheiden, ob sie auf die Tanzfläche gehen möchten oder nicht. Und während einer Tanda wechselt man eigentlich nicht die*den Partner*in. Das thematisieren die Tangolehrer*innen bereits in der Tangoschule. Cortina – übersetzt heißt das „Vorhang“ – nennt man die Zwischenmusik zwischen den Tandas. Das kann Pop, Rock, Swing, im Grunde alles sein. Währenddessen leert sich die Tanzfläche und die Tänzer*innen suchen sich eine*n neue*n Partner*in für die nächste Tanda.
Im Programm steht auch der Auftritt eines Orquesta Típica. Worum handelt es sich dabei?
FRANK SCHULTE Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich eine Sextettbesetzung mit zwei Bandoneóns, zwei Geigen, Kontrabass und einem Klavier als typisches Tango-Ensemble herauskristallisiert, das dementsprechend als Sexteto Típico bezeichnet wurde. Mit dem Erfolg des Tangos wuchsen die Szene und vor allem auch die Räumlichkeiten der Tanzveranstaltungen, so dass auch die Ensembles zum (Gran) Orquesta Típica mit standardmäßig vier Bandoneóns, vier Geigen, Kontrabass und Klavier erweitert wurden. Wie eine Bigband hat sich diese Besetzung als feste Größe etabliert, wenngleich nach der „Goldenen Ära“ des Tangos in den 1930er und 1940er Jahren die großen Tangoorchester mehr und mehr verschwanden und heute kaum mehr zu erleben sind.
Nun haben wir beim Festival ein Gran Orquesta Típica … Und zwei Weltmeister im Tango de Salón, Clarisa Aragón und Jonathan Saavedra …
JUDITH PREUSS Ich bin auf die beiden gekommen, nicht nur weil sie 2015 Weltmeister geworden sind – denn man kann auch ohne diesen Titel weltmeisterlich tanzen –, sondern weil dieses junge Paar Esprit und Tradition auf einzigartige Weise miteinander vereint. Und die beiden haben eine sehr, sehr starke Verbindung zueinander, die insbesondere für den Tango de Salón, der ja ein improvisierter Tanz ohne feste Choreographie ist, sehr wichtig ist. Zudem sind sie einfach gute Pädagog*innen. Während des Festivals findet ja auch eine Reihe an Tango-Workshops statt– u. a. mit den beiden. Der Weltmeistertitel bringt solche argentinische Paare überhaupt erst in die ökonomische Situation, reisen und davon leben zu können.
Zum Schluss noch zu Eurer persönlichen Leidenschaft für den Tango: Was fasziniert Euch daran?
THOMAS KRÖTER Beim Tangotanzen kommt man sich körperlich, in der Umarmung besonders nahe. Das hat gerade in unserer Zeit, in der wir uns wenig berühren, einen besonderen Reiz. Letztens habe ich einen Artikel darüber gelesen, dass schon eine Umarmung im Stehen eine riesige Ausschüttung von Glückshormonen auslöst. Was passiert dann erst, wenn die Umarmung in Bewegung kommt und das zu einer so emotionalen Musik!?
FRANK SCHULTE Der Tango weckt eine große Entdeckerlust in mir, weil es so viel unterschiedliche Musik und Stile, aber nur wenig gedrucktes und verlegtes Notenmaterial gibt. Ich bekomme handgeschriebene Noten aus Argentinien, höre Aufnahmen, stoße auf einen spannenden Tango, arrangiere ihn, denke bereits an ein paar Musiker*innen, eine bestimmte Formation, in der ich ihn spielen möchte, und erschließe mir somit immer wieder neue Welten.
JUDITH PREUSS Das gilt auch für den Tanz. Auch hier gibt es immer wieder Neues zu entdecken, aber stets auf der Basis einer überaus reichhaltigen Tradition. Für uns Zentraleuropäer, die häufig Regeln sehr ernst nehmen, sich daran halten und alles richtig machen wollen, können sich neue Welten öffnen, wenn sie beim Tango-Tanzen lernen, dass man sich von Regeln lösen muss, dass sie nur die Grundlage für eine überaus große Freiheit bilden.