Es war die erste Milonga, auf die ich allein gegangen bin. Weil ich etwas Bestimmtes erwartet habe? Nichts, außer dass es klassischen Tango gab. Aber es war schlicht der Abend, an dem meine Frau regelmäßig ihr gymnastisches Damen-Kränzchen besuchte. Wie lang mag das her sein? Mehr als zehn Jahre bestimmt. Ich hab’ noch nicht lange Tango getanzt. Doch ich fand es an der Zeit, meine schmalen Fähigkeiten auf der freien Wildbahn zu erproben – und auf diese Weise zu verbessern. Außerdem hatte ich unter anderem deshalb mit dem Tango begonnen, weil es hier üblich ist (oder bis zum Beginn der Epoca Corona üblich war), mit verschiedenen PartnerInnen zu tanzen. Anders als in der Standard- und Latein-Szene. Daher ist die Bedeutung der “Villa Kreuzberg” für mein Hineinwachsen in den Tango kaum zu überschätzen.
Zunächst hab´ ich allerdings nur rumgesessen und zugeschaut, was da geschah auf der Tanzfläche. Ich war unsicher. Irgendwann hab ich mich schließlich getraut, neben mich zu blicken. Links und rechts in meiner Sitzreihe. In der “Villa”, wie der Saal hinter einem italienischen Lokal am Fuße des Berliner Kreuzbergs kurz genannt wird, sind die Stühle außen um die rechtseckige Tanzfläche gruppiert. Am Kopfende eine Bar, links und rechts davon Stehtische. Auf der anderen Seite Bänke mit Kissen zum Lümmeln.
Ein ideales Setting für den “Cabeceo” also, jene Aufforderung per Augenkontakt, wie sie in Buenos Aires und deshalb in den traditionellen Milongas der Diaspora üblich ist. Einerseits. Andererseits bleibt das Licht in der Villen-Wirklichkeit auch in den Pausen zwischen den Tandas auf die Stufe “Gemütlichkeit” gedimmt. In diesem Halbdunkel ist die Äugelei eine eher mühsame Angelegenheit, zu der man sich gelegentlich ein Stück in Richtung der Erwählten anschleichen muss. Hab’ ich mich schon damals dieses Ausweises von “Argentinidad” bedient? Wahrscheinlich. Immerhin hatte ich den Cabeceo im Rahmen des Unterrichts im “Tangotanzen macht schön” https://tangotanzenmachtschoen.de kennengelernt.
Irgendwann hab ich’s dann auf die Pista geschafft. Bestimmt nach einer Orientierung im Nahbereich meines Sitzplatzes. In dieser Halbdistanz dürfte ich die Augen sprachgestützt eingesetzt haben. Erst gucken, dann fragen: “Magst Du?” oder “Woll’n wir?” An meine erste Tänzerin kann ich mich nicht erinnern. An die danach auch nicht. Aber an meinen Platz an der Längsseite, schräg gegenüber dem Eingang. Es sollte mein Stammplatz werden. Neben “Pino”.
Kein Startänzer, aber ein Urgestein der Szene. Er war mir gesichtsbekannt, weil er den Eintritt in einer Nachmittags-Milonga kassierte, die ich gemeinsam mit meiner Liebsten besuchte. Ein untersetzter Italiener, der herrliche Sprüche für den Gebrauch unter Jungs drauf hatte. Zum Beispiel, wenn mehr Männer als Frauen anwesend waren: “Viele Hunde – wenig Knochen.” Er liebte die Musik in dieser Milonga. Strictly classic. “Felix mache beste Musik…” “Pino” war Junggeselle. Irgendwann hat ihn ein Freund tot in seiner Wohnung gefunden.
Ein Satz aus meiner ersten Zeit in der “Villa” ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich hatte eine mir unbekannte Frau zur Milonga aufgefordert. Eine Tänzerin mit erheblich mehr Erfahrung als ich, wie sich herausstellte. Daran ließ sie auch im Geplauder zwischen den Stücken keinen Zweifel. Als ich mich als Anfänger zu erkennen gab, antwortete sie: “Du bist aber mutig.” Hat sie die Tanda mit mir zu Ende getanzt? Ich weiß es nicht mehr. Sie wäre nicht die einzige Abbrecherin gewesen in dieser Phase meine fortgeschrittenen Anfängertums. Gerade Tänzerinnen, die sich etwas Besseres dünken, befleißigen sich oft nicht jener Höflichkeit, die sie von uns Männern erwarten.
Eine Zwischenbemerkung zum Thema Milonga: Ich hab nie verstanden, warum dieser “Sondertanz” bei vielen, ja den meisten in der Tango-Community als besonders schwierig gilt. Gerade als Anfänger kam mir der einfachere Rhythmus entgegen. Schnelle Foxtrotts war ich als Standardtänzer gewöhnt. “Richtig” Milonga zu tanzen, hab ich erst später gelernt. Aber ich kam ohne großes Nachdenken und mit viel Freude über die Tanzfläche. Und meine Partnerinnen mit mir.
Ich hab’ mich dann rein und hoch getanzt. Donnerstag um Donnerstag. Meine Anfänge hab’ ich irgendwann auf den Satz gebracht: Ich war einmal in der Woche Tango tanzen… und wollte drei Mal in der Woche aufhören damit. Aber ich habe mich durchgebissen. Zuerst hatte ich “meinen” Platz. Dann wurde es “meine” Milonga. Deshalb bin ich sogar später immer wieder in die “Villa” gegangen, als mir die Musik oft genug auf den Wecker gegangen ist und ich die bunte Mischung im “Tangoloft” längst lieber mochte.
Das war der grundlegende Rhythmus meiner Tango-Suchtphase: Donnerstags “Villa”, freitags “Tangotanzen macht schön”, samstags das “Tangocafe” von Thomas Klahn im “Bebop”, sonntags das “Loft” bei Mona Isabelle und Henning. Gelegentlich kamen montags das “La Berlinesa” und seltener mittwochs das “Mala Junta” hinzu, in aller Regel zur monatlichen “Milonga que faltaba”. Außerdem immer wieder Abstecher in den Südosten der Stadt nach Friedrichshagen, wo wir nette Leute kennengelernt hatten.. Und wenn’s irgendwo Live-Musik gab, musste ich sowieso hin. Meiner beruflichen Arbeitsfähigkeit hat dies Pensum nicht immer gut getan.
Milongas sind nicht nur Tanzveranstaltungen, sondern komplexe soziale Gebilde. Ein wichtiges Society-Gesetz gilt auch hier: Sehen und gesehen werden. Irgendwann gehörte ich zum Inventar der “Villa”. Wie “Pino”. Oder wie die ältere Frau, die immer auf demselben Stuhl links außen am Stammtisch saß mit dem Rücken zum DJ. Da sie nicht viele Tänzer hatte, hab ich sie irgendwann aufgefordert. Dabei stellte sich heraus, dass uns die Liebe zur Milonga verband. Hab ich je nach ihrem Namen gefragt? Ich glaube nicht. Aber sie freute sich immer, mich zu sehen. Denn dann wusste sie: Eine Tanda ihres Lieblingstanzes war ihr sicher. Und mir auch.
Ich gehörte nie zur Spitze, aber zur – ich sag mal: berechenbaren Mittelklasse der Tänzerschaft, die sich hier tummelte. Mit mir konnte wenig schief gehen. Das hat sich herumgesprochen. Im Lauf der Zeit nahm die Zahl der Blicke ab, die irgendwo im Nirgendwo verschwanden, wenn ich mein Interesse signalisierte. Manchmal hellten sich die Gesichter sogar auf. Ich hatte also genug zu tun. Irgendwann hab´ ich auch gelernt, dass es meinem Tanz und mir gut tut, ab und an eine eine Pause einzulegen.
Aber wie singt Louis Armstrong? “It takes two to Tango”! Wir tanzen umso besser, je besser wir mit einer Partnerin oder einem Partner harmonieren. Daher möchte ich noch zwei Tänzerinnen erwähnen – ohne ihre Namen zu nennen. Regelmäßige Besucher der “Villa” dürften mindestens eine davon ohnehin erkennen. Sie kam stets im Paar. Ihr Mann und sie verhielten sich ähnlich wie meine Frau und ich, wenn wir gemeinsam eine Milonga besuchen. Die meiste Zeit tanzen wir mit “fremden” PartnerInnen.
Für meinen Geschmack war sie nicht nur eine der besten, sondern auch eine der bestangezogenen Tänzerinnen der Berliner Szene. Obwohl erheblich über 30 hatte sie keine Probleme, Tanzpartner zu finden. Im Gegenteil. Ich hab so manche Tanda verpasst, weil man acht geben musste, einen freien Slot bei ihr zu erwischen. Die besten Tänzer drängten sich, um mit ihr zu tanzen. Dennoch hat sie mir nie das Gefühl gegeben, sie tanze nur aus Höflichkeit mit mir. Für mein Selbstbewusstsein war das nicht unwichtig. Sie gehört zu den Frauen, die einen Schritt schon ahnen, wenn man(n) ihn nur denkt. Und sie pflegte ebenso fraglos wie erfreut den Raum zu nutzen, den ich ihr mit meiner eher sparsamen Art des Tanzes gab.
Als dritte Tanguera möchte ich hier noch eine, wie soll ich sagen: Intensivtänzerin erwähnen. Nach unserer ersten Tanda mit Musik von Osvaldo Pugliese wussten wir: Das ist unser Ding! Und Felix neigte nach meiner Erinnerung nicht dazu, vor allem seine frühen, noch vergleichsweise “zahmen” Stücke zu spielen. Hier bekam man den reifen, den Hardcore-Pugliese zu hören. Wir haben uns mit Wonne hinein fallen lassen in diesen wuchtigen Klang. Viel Platz zu großen Bewegungen gab´ selten in der “Villa”. Dennoch waren wir hinterher schweißgebadet. Irgendwann hab ich sie mit dem Satz begrüßte: “Ah, da kommt wieder die feuchte Frau.” Beim ersten Mal hat sie etwas irritiert geschluckt. Aber dann hat sie diesen Anflug einer Anzüglichkeit gelassen hingenommen und sich in meine Umarmung begeben. Wieder und wieder. Für mich war nach diesem tänzerischen Höhepunkt des Abends in aller Regel Schluss. Außerdem kam die Tanda mit “Don Osvaldo” traditionell so spät, dass ich knapp noch die letzte U-Bahn in meine Richtung geschafft habe.
Die “Villa” war und bleibt – hoffentlich – eine feste Größe in der Berliner Tangoszene. Wer eine solide Mischung von Musik aus der “Epoca d’Oro” erwartet, hier wird er nicht enttäuscht. Nur selten erlaubt sich der Gastgeber ein Experiment wie Osvaldo Fresedos Aufnahme von “Vida mia” mit dem Jazz-Trompeter Dizzy Gillespie – jedenfalls in dem Zeitraum, den wahrzunehmen mein U-Bahn-Fahrplan zuließ. Das alles gibt´s zu stabil (manche sagen zu geringen) Konditionen. Preistreibende Extras wie Livemusik und Showtänze behält er besonderen Anlässen vor.
Diese Milonga ist in den internationalen Tango-Führern zu finden. Vor allem aber in den Hirnen und Herzen der Tänzerinnen und Tänzer aus Deutschland, Europa und darüber hinaus, die schon einmal den Weg hierher gefunden haben. Zum Beispiel hab ich mich jedes Jahr auf eine Gruppe von Engländerinnen gefreut, die regelmäßig zum Tangourlaub nach Berlin kamen. So manche Tangotouristin, ob aus der deutschen “Provinz” oder dem Ausland ist allerdings bitter enttäuscht worden. Denn Tangotänzer ähneln nicht nur in der Hauptstadt jenen Landbewohnern, von denen es heißt: “Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht”. Mit fremden Frauen zu tanzen, kommt für viele nicht infrage. Mit meiner Neugier auf neue Tänzerinnen hab’ ich von dieser unangenehmen Eigenart meiner Geschlechtsgenossen immer wieder profitiert – und wunderbare Frauen umarmen dürfen. Nicht zuletzt in der “Villa”.
PS: Eine Spezialität des Gastgebers muss ich noch erwähnen. Und meine persönlichen Assoziationen dabei – die nichts mit der Qualität der Veranstaltung zu tun haben. Irgendwann zwischen elf und zwölf Uhr greift Felix sich einen Kerzenleuchter und tritt in die Mitte der Tanzfläche, um seine Gäste zu begrüßen. Und ein paar Ankündigungen zu machen. Für seine eigenen und für Veranstaltungen von Freunden. Mich hat das auf Anhieb an einen kultigen Werbespot meiner Jugend erinnert: “Wer kennt ihn nicht, den Mann mit dem Licht…” Den Jüngeren muss ich wohl erklären, dass es um ein Abführmittel ging.
2 Comments
Hallo Thomas, was für eine unerwartete Erwähnung von Pino, der nun schon einige Jahren nicht mehr unter uns weilt und seine Ruhe auf einem Tempelhofer Friedhof gefunden hat. Seine nicht immer zitierfähigen Sprüche zum großen Thema Tango sind mir unvergessen, sein “Hunde und Knochen”-Klassiker hatte ich schon bei mancher Milonga auf der Zunge. Er war wirklich eine feste Institution an der Kasse bei Thomas Klahns Milongas im Bebop. Danke für diese Erinnerung.
Lieber Thomas Kröter. Dein Artikel ist ein Hammer. Wenns wirklich wieder losgeht mit der “Villa” werde ich den Darmol-Werbespot dir zu ehren als Cortina einrichten. 😀