Im Grunde bin ich ein altmodischer Mensch. Bis heute höre ich am liebsten die Musik meiner Jugend – also aus den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Wenn ich tanzen gehe, wird’s meistens noch historischer. Denn ich liebe den Argentinischen Tango. Und der hatte seine „goldenen Zeiten“ weitere ein bis zwei Jahrzehnte zuvor. Die Musik an den einschlägigen Tanzabenden oder -nachmittagen kommt meistens von den Notebooks der DJs. Aber besonders schön wird es, wenn einer der „Musicalizadores“ ein paar Kisten Speichermedien aus Vinyl samt Plattenspieler mitgebracht hat. Die guten alten Schallplatten haben eben doch einen besonderen Klang.
Ein paar hüte ich wie kleine Schätze. Blues, Folk, deutsche Liedermacher -und Sänger vor allem, die heute kaum noch jemand kennt: Alex Campbell, gehört dazu, der „Big Daddy of Folk“ mit seiner rauen Stimme, Peter Roland, aus der jugendbewegten Szene um die Burg Waldeck oder die Rockjazzband „Colosseum“, mit der ich mich nach zu langen Nächten während meines Studiums morgens wach gedröhnt habe. Dazu zählt auch ein Doppelalbum von Hanns Dieter Hüsch, dem philosophischen Kabarettisten vom Niederrhein, wo ich aufgewachsen bin. Undsoweiter…Sogar meinen alten Turntable vom Typ „ELAC 910“ hab ich mir dafür vom Elektronik-Bastler unten im Erdgeschoss meine Wohnhauses reparieren lassen. Aber die Mehrzahl der Kisten mit den schweren Scheiben hat beim letzten Umzug ein junger Arbeiter bekommen, der seiner Mutter eine Freude machen wollte: „Die sammelt sowas.“
Doch meine Nostalgie hat ihre Grenzen – nicht zuletzt, wenn es darum geht, dass ich selber etwas schleppen soll. Derlei analoge Zumutungen haben mich Zug um Zug die Vorteile des Digitalen gelehrt. So bevorzuge ich beim klassischen Kulturgut Nr. Eins schon seit langem die digitale Variante. Für Bücher habe ich meinen E-Reader. Das kleine handliche Ding hat inzwischen eine stattliche Bibliothek gespeichert. Ende offen, ohne dass es auch nur ein Gramm zunähme. Ärgerlich nur, dass die Verlage den Preisvorteil gegenüber den weit aufwändiger hergestellten Papier-Produkten immer weiter eingeschmolzen haben.
Anderes als andere Bildungsbürger oder Krimi-Leser brauch ich mir vor Flügen mit den einschlägigen Billig-Linien nicht mehr das Hirn zu zermartern, welchen meiner Lektüre-Lieblinge ich auf eine Reise mitnehme. Stattdessen kann ich zustimmend zu einem Cartoon schmunzeln, den ich neulich gesehen habe. Da führt jemand junge Menschen mit dem Hinweis durch eine Bibliothek: Das sind Dämm-Mittel aus dem vorigen Jahrhundert. Auch bei mir zuhause finden sie nach wie vor reichlich Verwendung. Aber neue kommen höchstens hinzu, wenn ich im Antiquariat bei mir um die Ecke unabweisbare Beute machen kann.
Dort hab’ ich neulich allerdings eine Enttäuschung erlebt: Nach reiflicher Überlegung hegte ich die Illusion, wenigstens eine winzige materielle Entschädigung zu kassieren, wenn ich meinen Vorrat an altmodischem Dämm-Material reduziere. Denkste! Die kaufen nichts – jedenfalls nichts mehr, das älter als allerhöchstens ein Jahr alt ist – oder eine historische Rarität. Alles dazwischen ist nur noch… Und dann gebrauchte der Besitzer ein Wort, das ich dem Herrn über einen erlesenen Bücherbestand nicht zugetraut hätte: Müll! Zur Strafe werden große Teile meines Bildungsmülls demnächst entschädigungslos einer jener wohltätigen Organisationen zugeführt, die dem professionellen Antiquar Konkurrenz machen.
Aber ich gebe zu: Ohne den materiellen Anreiz wird sich der Trennungsprozess wohl noch etwas in die Länge ziehen. Letztens hab’ ich mich tatsächlich beim Staub Wischen an einem der Bücherregale erwischt.
Dass der Markt für „Totholz-Medien“ – eine zauberhafte Frechheit aus der Generation der „Digital Natives“ – durchaus lebt, bekam ich jüngst am Rande eines Tango-Abends bestätigt. Eine Tänzerin, die ich eine Weile nicht gesehen hatte, wollte wissen, warum sie keine Artikel mehr von mir in der „Berliner Zeitung“ lesen könne. Der Aufklärung bezüglich meiner neuen Lebensphase schloss sich ein kleines Gespräch über Zeitungen als solche an. Die Dame, ein paar Jahre jünger als ich, mochte nicht nur meine Texte, sie schätzt auch das altmodische Speichermedium, mittels dessen sie verabreicht werden: „Zeitungen müssen aus Papier sein“, schwärmte sie. „Ich liebe den Geruch, das Knistern…“
Seltsam. Ein ganzes Berufsleben lang war ich Zeitungsjournalist. Ich hab’ sogar noch jene Zeiten erlebt, da die Lettern, aus denen einmal ein Zeitungstext werden sollte, zunächst in Blei gegossen wurden. Damals machten sich die alten Drucker einen Spaß mit Novizen wie mir, die zum ersten Mal in der „Mettage“ auftauchten. Dort wurden die metallenen Negative der Zeitungsseiten mit Druckerschwärze eingestrichen, ehe sie auf die Rotationsmaschinen gespannt wurden. „Haste gesehen“, fragte dann so ein Witzbold, und deutete auf den Tisch vor uns. „Bleiläuse…“ Irritiert fragte unsereiner „Wo? , neigte den Kopf nah an die geschwärzte Seite – und wurde prompt in die Farbe gestupst. Die Tiere gab’s selbstverständlich nicht. Dafür stand ein frischer Text in mein Gesicht geschrieben.
Doch der digitalisierte Opa erzählt zwar gern von früher, hier vom Ende der 1960er Jahre. Die alten Zeiten mag er gleichwohl nicht zurück haben. Denn die knitternden und knisternde Journale kommen zwar nicht so schwergewichtig daher wie Bücher – unhandlich finde ich sie trotzdem. Ich genieße es, in der einen Hand meine Kaffeetasse zu halten und mit der anderen meine Zeitung auf dem Smartphone durchzublättern.
Ich erinnere mich noch gut an eine Pressekonferenz des Verbandes der Zeitungsverleger vor einigen Jahren. Da hielt ein Funktionär ein flaches Gerät hoch und jubelte: „Damit macht’s wieder Spaß!“ Ein Tablet. Dann geriet er ins Schwärmen darüber, wie das olle Totholz-Medium durch Filme, bewegte Grafiken undsoweiter zum Leben erweckt werden könne. Stimmt. Im Prinzip. Doch zum Leidwesen der Journalisten und ihrer Verlage kamen die darbenden Erträge nicht ebenso in Bewegung. Die neuen Formen aber brauchten neues Personal und daher auch neue Mittel. So bleibt es im großen und ganzen bei der unbewegten Zeitung. Mich stört das nicht. Das neumodisch multimediale „Storytelling“, traf in mir auf einen doch wieder altmodischen Leser, der müde abwinkt.
So geht es mir auch mit einer Neuerung, die aktuell sprunghafte Verbreitung finden. Es handelt sich um die ebenso digitale wie mobile Variante dessen, was einmal abschätzig als „Dampfradio“ tituliert wurde, um auf seine Herkunft aus der Zeit längst veralteter Maschinen hinzuweisen. Im medialen Neudeutsch heißt sie „Podcast“. Die Menschen mögen sie und die Macher auch. Die können sie kostengünstig produzieren und müssen nicht umständlich neue Formen lernen: Es reichen ein oder zwei Journalisten, die ihre Texte in ein Mikrophon sagen – wie im noch vor nicht allzu langer Zeit belächelten Deutschlandfunk mit seinen langen Interviews. Was allerdings nicht mehr gilt, ist der Satz des legendären Radiomannes Friedrich Luft, der sich von seinen Zuhörern mit den Worten verabschiedete, er werde in der Woche drauf wieder da sein: „Gleiche Welle, gleiche Stelle“. Das Radio steht nicht mehr daheim auf dem Vertiko – seine Hörer können es abrufen, wo und wann sie wollen.
Mein Ding ist das trotzdem nicht. Als viel und schnell lesender Profi habe ich mir im Lauf der Jahrzehnte ein höheres Tempo bei der Informationsaufnahme antrainiert als die meisten Menschen. Mich auf das Tempo eines Sprechers herunter zu dimmen, womöglich noch Passagen hinzunehmen, die mich langweilen, ist mir ein Graus. Deshalb mag ich auch die allseits beliebten Hörbücher nicht. Beim altmodischen Lesen, egal ob auf Papier oder Bildschirm, bin ich der Herr des Verfahrens. Ich bekomme wenigstens oberflächlich mit, was mich nicht so interessiert – und kann bei Bedarf meine Aufmerksamkeit wieder hoch fahren.
Damit ist der digitale Opa bei seinem Lieblingsmedium angelangt. Es heißt Youtube. Ich habe die ungeordnete Sammlung von Videos schon geschätzt, ehe sie in alle Munde kamen, weil junge Menschen hier ihre eigene Kanäle gründeten, um Tipps für Klamotten, Kosmetik und Sexleben zu verbreiten oder einer deutschen Regierungspartei die Pest an den Hals zu wünschen.
Youtube ist meine virtuelle Musicbox – gefüllt mit altmodischen Mehrheitsschätzen aus meinen Lieblingsjahrzehnten. Wichtiger noch: Hier finde ich Skurilitäten und Raritäten ohne Unterlass, für die sich nur Spezialisten interessieren – verschwommene Liveauftritte etwa aus meinen musikalischen Liedieblingsgebieten. Da kann ich das einzige gemeinsame Konzert der Tango-Legenden Osvald, o Pugliese und Astor Piazzolla genießen oder den allerletzten Live-Auftritt von Johnny Cash irgendwo auf einer Veranda im Mittleren Westen der USA. “With a little help from my friends” auf Facebook kann ich hier auch in Videos von Tango-Musik und Tango-Tanz schwelgen, die in Berliner Milongas nicht so leicht zu erleben sind. Sie helfen mir über so manchen Frust bezüglich der real existierende Szene hinweg.
Das Projekt der Digitalisierung meiner CDs ist darüber allerdings ins Stocken geraten.
Was aber das Schönste ist: Ich kann mich treiben lassen – von einem Titel oder Interpreten, nach dem ich gesucht, zu einem, von dem ich noch nie gehört habe. Von dort geht’s dann weiter, im bequemen Schreibtischsessel bei einem Glas Wein, bis ich irgendwann spät in der Nacht oft mit den Kopfhörern im Ohr eingeschlafen bin. Macht nichts. Als Rentner muss ich ja morgens nicht so früh raus.
(*) Die ist die leicht veränderte und um einige Videos ergänzte Fassung eines Artikels, der am Sonnabend 3. August unter dem Titel „Neulandlust“ auf S. 5 im Magazin-Teil der Berliner Zeitung erschienen ist. Wenn der Eingangssong manchen bekannt vorkommen wollte. Die deutsche Version mit dem Titel “Schon so lang…” ist einer der Standards von Hannes Wader.
2 Comments
Mit feiner Feder geschrieben. Von kluger Bereitschaft zum Neuen, womöglich gar Besseren, inspiriert, immergültige Vorlieben bekennend, eine aufgeschlossen-konservative Leserschaft gut unterhaltend und repräsentierend – that’s the way it is.
Kröter lässt schmunzeln und bereitet Lesevergnügen.
Wieder so ein Lob zum Erröten. Danke lieber Herr Michels.