Zu meinen Vorsätzen für die Jahreswende zählt die Belebung einer Rubrik in diesem Blog, die ich sträflich vernachlässigt habe: Kurzinterventionen unter dem Titel MITTAGSSPITZEN.
Manchmal ist es ganz nützlich, sich in der realen Welt des Tango zu bewegen – außerhalb Berlins und jenseits der einschlägigen Debatten auf Facebook. Ort der Handlung: Eine Milonga im höheren Norden. Musikfarbe: Knochenklassisch. Organisiert in Tandas mit Cortinas. Einschlägig konditioniert, bin ich davon ausgegangen, dass die wortlose Fernaufforderung per Augenkontakt hier zum Pflichtprogramm gehört. Denkste… Eine Partnerin nach der anderen entging mir (im Wortsinne), weil ich der mühsam erlernten „Argentinidad“ frönte – und keine der Damen den fremden Herrn beachtete, der da still vor sich hin starrte.
Während meine Liebste in emanzipierter Unbefangenheit problemlos die Herren verbal aufforderte, saß ich dumm rum. Bis ich mir ein Herz faßte: Magst du Tanzen? Selbstverständlich! Korbquote: Null. So hatte ich gleich ein Gesprächsthema: Also, bei uns in Berlin… Kopfschütteln. Keine meiner Tanzpartnerinnen wäre auf die Idee gekommen, eine deutsch konventionell höfliche Aufforderung als Regelverstoß oder gar als Belästigung aufzufassen. Keine! Sicher, auch hier kam der Cabeceo vor, aber eher so, wie die Norddeutschen das Wasser im Grog dosieren: Kann, aber muss nicht.
Mit einem Anflug von Melancholie wiegte die Betreiberin der Veranstaltung ihr Haupt, als ich ihr von meiner Erfahrung berichtete. Sie finde das ein bisschen schade, antwortete sie, denn der Cabeceo sei doch ein ein nettes Spiel… allein, die Damen hier hätten kein Verständnis dafür. Bitte beachten: Sie sagte „Nettes Spiel“, nicht: „Schutz vor übergriffigen Kerlen“ oder gar „Eintrittskarte für die höheren Regionen der Tango-Welt“.
In der “Metropole” Berlin hab’ ich mir angewöhnt, die Kenntnis des Cabeceo als Indiz für Tanzkunst zu werten. Denn hier sind in aller Regel nur Anfängerinnen mit der Aufforderung per Äugelei nicht vertraut. In der norddeutschen “Provinz” durfte ich mich eines Anderen belehren lassen. So viele gute bis sehr gute (und obendrein noch freundliche) Tänzerinnen in einer einzigen Milonga, wie ich sie an diesem Weihnachtsabend erlebt habe – die sind in hoch mögenden Hauptstadt-Veranstaltungen zwar möglich, aber keineswegs selbstverständlich. Und die Moral von der Geschicht’? Überlasse ich meinen LeserInnen…
(1) Foto: Oliver Wolf
10 Comments
Ja, das mit dem Cabeceo, offenbar ein unerschöpfliches Gesprächs- / Schreibthema.
Wenn die Korbrate in dieser Milonga gleich null war, Glückwunsch. Das ist selten.
Und bevor jetzt Missverständnisse aufkommen, ich gehöre nicht zu den Tänzern, die viele Körbe kriegen. Die meisten Damen in den Milongas die ich besuche, tanzen gern mit mir.
Trotzdem kommt es, aus den verschiedensten Gründen, die nicht wirklich etwas mit mir zu tun haben, vor, dass eine Dame nicht oder gerade in diesem Moment nicht mit mir tanzen will.
Leider bin ich im Hellseherkurs schon bei der Aufnahmeprüfung durchgefallen, und kann nicht immer erkennen, was sich im Kopf jeder Dame gerade abspielt.
Und hier beginnt das Problem beim verbalen Auffordern.
Ich gehe auf eine Dame zu, fordere Sie auf aber sie lehnt das ab (Alle Möglichkeiten für das Warum aufzuführen, die mit meiner Person absolut nichts zu tun haben, würde den Rahmen dieses Kommentars sprengen).
Ich bin kein sehr empfindsames Seelchen, den Korb könnte ich also problemlos wegstecken, aber nun kommt Teil zwei des Problems. Wen fordere ich jetzt auf? Ich möchte nämlich tanzen und nicht rumsitzen. Aber jetzt sind alle anderen Damen (zumindest die in Sichtweite) im Ablehnungsmodus.
Keine der Damen möchte sich nämlich etwas vergeben, als zweite Wahl angesehen werden und möglicherweise ihr Gesicht verlieren. Konsequenterweise tanzen sie auch nicht, und es wäre auch ein absolutes NoGo, eine nach der anderen abzuklappern, bis sich doch eine dazu bewegt.
Die Tanda kann ich also getrost vergessen.
Bei der Einladung mit Mirada und Cabeceo passiert mir das nie. Nach dem alten Prinzip aus der After Eight Werbung “Am Besten wir tun als hätten wir es nicht bemerkt” können hier alle ihr Gesicht wahren. Man schaut einfach mit wem man und wer mit einem tanzen will. Das war´s.
Deshalb bevorzuge ich nach langer Tanzerfahrung eindeutig diese Art der Aufforderung, obwohl ich auch nichts dagegen habe, eine Dame freundlich mit Worten aufzufordern.
Vielen Dank für Deinen ebenso schnellen wie freundlichen Kommentar. Ich hatte das Thema “Cabeceo” nicht mehr auf dem Zettel. Eigentlich… Aber das Leben wollte es anders. Ich war schlicht so perplex über mein Erlebnis. Deshalb wollte ich davon berichten. Es gibt offenbar “Normalitäten”, die ein wenig anders ausschauen als jene, die wir uns so zusammen gebastelt haben. Anders als andere Menschen diesseits und jenseits der C-Grenze verspüre ich auch keine Mission. Von mir aus soll jede(r) auffordern, wie er mag. Oder Nein sagen. Ich mag nur nicht so ein Gewese drum machen – um heilige “Codigos”, um zarte Seelen weiblichen wie männlichen Geschlechts. Deshalb ausdrücklich keine direkte “Nutzanwendung”. Nur an einem Punkt werde ich ein wenig ärgerlich: Wenn es darum geht, wann wir das “Gesicht verlieren” oder behalten. Tatsächlich oder angeblich. Sorry, dass ich ein wenig unfreundlich formuliere: Ich finde das eine ziemliche Spießer-Nummer. Soll bloß keiner was merken… In einem Ratgeber für Buenos Aires hab ich sogar mal gelesen, Männer sollten zwar Wechselhemden mitnehmen, aber bitte in derselben Farbe, damit niemand was merkt. Wir sind doch alle erwachsene Menschen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Meine Frau musste übrigens nur zwei Mal selbst initiativ werden, dann ist sie aufgefordert worden, bis sie nicht mehr konnte. Aber das wäre eine andere Geschichte. Mit einer anderen “Moral”.
Hallo,
norddeutsche Provinz passt für mich nicht so gut, Bremen ist eine Großstadt.
Aus Berliner Perspektive mag das auf den ersten Blick als Provinz erscheinen, es ist aber nicht so. Bremen ist halt nicht Pörnbach…
Entsprechend muss ich auch ein wenig Wasser in den Cabeceo-Wein schütten: auch im betreffenden Salon hab ich schon (auf freundliche verbale Aufforderung hin) einen weniger freundlichen Korb bekommen… Also: auch in norddeutschen Großstädten/Provinz gilt: es möchte nicht jeder mit jedem tanzen, Cabeceo hin oder her…
Womit ich dir Recht gebe: der Cabeceo ist im Nordwesten weniger gebräuchlich.
Ich jedenfalls fordere gern mit Cabeceo auf, wenn es passt, mag aber keinen Dogmatismus an der Stelle.
Gruß und guten Rutsch!
Vielen Dank lieber TRH, auch wenn ich lieber mit Menschen kommuniziere, die sich nicht hinter Pseudonymen oder Kürzeln verbergen. Schau doch bitte noch einmal kurz in meinen Text: ich habe D das M-Wort wie das P-Wort in ” ” gesetzt. Im Übrigen: Als jemand, der zehn Jahre in Hannover gelebt hat (die meiste Zeit gern), weiß ich um den Schmerz der Unterschätztheit.
Moin!
Lass doch einfach nur noch Kommentare mit Klarnamen zu, dann hast du dein Problem mit den Pseudonymen nicht mehr.
Deine Anführungszeichen bringen es an der Stelle auch nicht, eine Großstadt wird auch mit Anführungszeichen nicht zur Provinz…
Um Unterschätztheit geht es mir ebenfalls nicht, bin weder Bremer noch Berliner, sondern ein echter Provinzler… 😉
Lieber Thomas anregende und heiter kritische Betrachtungen von Dir zu Berliner Dogmen, die übrigens letztlich doch nicht so oft executiett werden. Spiel ist netter Rahmen für kultiviertes Anstarren. Und in Berlin ist ja die Argentinidad nur ein Bemühen darum. Selbst die Cortina wird ja Gott sei Dank nie ganz befolgt. Statt protestantischer Argentinidad bin ich dafür sich mehr um Gentlemanlikness (altdeusch Höflichkeit) zu kümmern: Als Mann ordentlich und respektvoll angezogen, sich vorstellen, keine Belehrungen, mal Anfängerinnen auffordern, mal Frauen auffordern, die fremd sind bzw. nicht so oft aufgefordert werden. Vielen Dank für Deine Etüde😀
Danke lieber Fridolin: “protestantische Argentinidad”. Großartig! Das merk ich mir, ums gelegentlich ohne Angabe der Quelle zu verwenden.
Auch das mit dem “Gesicht verlieren” ist halt so eine Sache. Keine(r) steht gerne dumm da. Ich glaube, dass ist nicht spießig, sondern normal.
Natürlich kann man es auch übertreiben und zuviel Wichtigkeit in Dinge legen, die zwar nett aber für den Lauf der Welt nicht wirklich bedeutend sind (Zum Beispiel ob der Typ jetzt mich oder die Dame neben mir zuerst aufgefordert hat : – ).
Und so wie ich das sehe, sind wir Deutschen da noch vergleichsweise moderat. Bei anderen Nationen ist die Angst vor Gesichtsverlust noch wesentlich stärker ausgeprägt.
Übrigens: Verrat uns doch, in welcher Milonga Ihr da wart. Ich bin sicher, dass auch andere Tänzerinnen und Tänzer gerne mal dort hingehen würden.
Lieber Wolfgang, zu Letzten: Ich bezweifle, dass der Cabeceo oder sein Scheitern der aufmerksamen und informierten Umwelt verborgen bleiben. Was die Milonga angeht, schau bitte nach unter: https://www.lamilonguitatradicional.de
Der suchende Blick hat den Vorteil, dass er auf größerer Entfernung wirkt als die persönliche verbale Ansprache. Aber er bleibt ein suchender und kein zufälliger, geschweige denn ein rein beobachtender. Er trifft also Jemanden ganz bewusst und verharrt dort. Für den Aufmerksamen ist er also nicht zu verheimlichen. Erst recht, wenn dieser selbst ein konkurrierenden Blick auf den Vorgang, bzw. auf den Aufgeforderten wirft. Ein Korb ist so auch durch den Cabeceo nicht zu vermeiden.
Vielmehr hat eine Auswahl mit Alternativen immer Verlierer. Die Frage ist also, ob man/frau ein guter Verlierer ist, und nicht auf welche Art der Verlust zustande gekommen ist. Ein guter Verlierer ist einer, der ohne Gram und Jammern weiterspielt, bis auch er/sie gewonnen hat. Ein schlechter Verlierer will erst gar nicht verlieren, weil er/sie den Verlust als Scham empfindet. Jemand der lächelt und weiterspielt verliert aber gar nicht sein Gesicht. er zeigt nur, dass er/sie ein guter Verlierer ist.