… oder auch nicht. Jedenfalls nicht öffentlich. Und ich war so gespannt, was die szene-bekannte DJane und Tangoexpertin Theresa Faus zu einem Thema zu sagen hat, das mich nicht nur in diesem Blog (**) immer wieder beschäftigt: Piazzollas Musik und das Tangotanzen – um das umstrittene Wort zu vermeiden, das mit „T…“ beginnt und auf „…anzbarkeit“ endet. (Theresa mag es nicht. Dennoch verwendet sie es immer wieder. Daran ändern auch ihre Anführungszeichens nichts.) Anlass für meine Neugier war ein Seminar, das sie in München gehalten hat. Die diskrete Zusammenfassung der Diskussion bei ihrem theoretischen Encuentro verband sie mit einer Ankündigung:
„Die Leute waren sich nicht einig, wie zu erwarten war. Es waren auch sehr verschiedene Stücke dabei, mit unterschiedlichem Grad von ‘Tanzbarkeit’. Demnächst schreibe ich mal meine persönliche Meinung dazu auf.“
Meine Enttäuschung kann ich Theresa nur bedingt vorwerfen. Denn der kurze Text lässt sich durchaus so lesen, dass sie nicht speziell über die „Tanzbarkeit“ von Astor Piazzolla schreiben wollte, sondern generell über „Tanzbare Musik“ als solche. So heißt ihr Text auf Facebook dann auch. Auf seinen Anlass deutet nur eine Fußnote hin. Für ihre Argumentation ist die Autorin in dem Sozialen Netzwerk hinreichend gelobt worden. Kritik daran lass’ ich jetzt einmal beiseite.
Denn anders als Theresa geht es mir hier nicht ums Grundsätzliche, sondern konkret um die Musik des Mannes, der wie kein zweiter außer Juan Carlos Copes (***) zum Überleben, respektive der Wiederbelebung des Tango beigetragen hat. Doch die Münchnerin weiß nicht nur so viel über Tango wie nur wenige, sie versteht es darüber hinaus, ihre Meinung nicht nur direkt, sondern auch auf kunstfertige Weise durch Andeutungen und Auslassungen auszudrücken, ohne den Pfad der Höflichkeit zu verlassen.
In der bereits erwähnten Fußnote verlinkt die Autorin zwei Stücke, zu denen selbst ich nicht unbedingt tanzen möchte. Danach folgt der Satz: „Es gibt aber auch ‘tanzbare’ Musik von Astor Piazzolla.“ Hätte sie nicht wenigstens ein Beispiel davon erwähnen können? In ihrer FB-Ankündigung vom 10. Dezember 2018 hieß es:
„Wir hören komplexe traditionelle Tangos, experimentelle Musik im Grenzbereich zu Jazz und Rock, aggressive Musik und meditative Musik, immer mit Piazzollas kraftvollem und expressivem Bandoneon-Spiel. Mit viel “Knarzen, Kratzen und Quietschen” (Jochen Lüders).“
Einmal abgesehen davon, dass sie die Verbindung zur modernen „ernsten“ Musik weglässt – die zitierte Formulierung des Münchener Tango-Djs Jochen Lüders greift, ich sag’s mal vorsichtig: Charakterisierungen auf, mit denen in Kreisen des konservativen bürgerlichen Konzertpublikums gern moderne Musik generell mies gemacht wird. Die höfliche Theresa tut das selbstverständlich nicht, dafür hat sie ja ihre Anführungszeichen.
Anlässlich des Piazzolla-Seminars sei „an verschiedenen Orten im Netz über die Tanzbarkeit von Piazzolla-Musik diskutiert“ worden, erläutert sie dem FB-Publikum ihren Tanztext und verlinkt drei Namen (Jochen Lüders, Thomas Kröter, Klaus Wendel). Einer fehlt: Gerhard Riedl. Der Blogger und Buchautor ist in der Münchener Tangoszene etwa das, was Leo Trotzki in der alten Sowjetunion war: Der Inbegriff des übelst zu beschimpfenden Revisionisten und Feindes des damals herrschenden Kommunismus, heute des wahren Tango. Die höfliche Theresa beschweigt ihn lieber.
Zum Schluss will ich ein paar Sätze zitieren, in denen sie beschreibt, was aus ihrer – und in diesem Fall auch meiner Sicht – zum musikalischen Tanzen gehört:
„Mit dem reichhaltigen Vokabular von Bewegungen, der völligen Freiheit im Timing und der unendlichen Welt von Bewegungsqualitäten die Musik aus dem Moment heraus interpretieren; in den dazu einladenden Momenten Pausen und Verzögerungen einbauen, und zwar lebendige Pausen, nicht Stillstand …..Die Wellen in der Musik (das Atmen) tanzen…“
Was wäre dazu besser geeignet als Musik von Astor Piazzolla. Zum Beispiel dies Stück, das zu meinen besonderen Lieblingen gehört:
(*) https://www.facebook.com/notes/theresa-faus/tanzbare-musik-auf-die-musik-tanzen/2527775663905116/ Dazu gibt es viele, in aller Regel lobende Kommentare. Aber es hat sich im Lauf der Zeit auch eine Diskussion entwickelt. Wen’s interessiert: Sie ist öffentlich zugänglich.
(**) http://kroestango.de/aktuelles/zu-piazzolla-tanzen-warum-nicht/,
http://kroestango.de/aktuelles/tanz-den-piazzolla/
(***) http://www.todotango.com/english/artists/biography/656/Juan-Carlos-Copes/
(****) http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/12/milonga-in-der-nicht-tanzbar.html, http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/12/hier-irrt-luders.html
20 Comments
Lieber Thomas, der Vergleich mit Leo Trotzki ehrt mich natürlich. Gott sei Dank gibt es einen wesentlichen Unterschied: Ich benutze kein Pseudonym.
Und Theresa hatte ja schon angekündigt, sich nicht mehr mit mir befassen zu werden.
Wollen wir hoffen, dass ich nicht ebenfalls in meinem Pörnbacher Exil von Agenten der reinen Lehre einen Eispickel aufs Hirn kriege…
Mit letzterem wirst Du als Zauberer doch umgehen können. Oder?
> Gerhard Riedl: Der Inbegriff des übelst zu beschimpfenden Revisionisten …
Oje, mir kommen gleich die Tränen. Wie wäre es denn bitte schön mit der entsprechenden AKTIV-Konstruktion “Der Inbegriff des übelst beschimpfenden …”?
Beispiele? Aber gerne doch:
“Wie sonst könnte ich Menschen, die mich dennoch mögen, von Vollidioten unterscheiden?” (http://milongafuehrer.blogspot.com/2017/07/mund-auf-augen-zu.html)
“… hätte ich bereits damals wissen können, dass sich im Tango der Einmarsch der Vollidioten ankündigte.” (http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/12/die-milonga-der-uneingeladenen.html)
Im Englischen gibt es ein schönes Sprichwort: “If you can’t stand the heat, get out of the kitchen.”
Na, ich hab mich doch gar nicht bedauert – und ich fürchte, Thomas Kröter tut das ebenso wenig.
Und es stimmt ja: In meinem Weltbild gibt es durchaus Vollidioten. Dazu gehören aus meiner Sicht beispielsweise Tänzerinnen, die mich auf dem Parkett an körperliche Gebrechen erinnern oder Tänzer, welche die Frage stellen: „Muss ich dann mit jeder tanzen?“
So viel zu den Zitaten, in denen ich übrigens keine konkreten Personen benenne.
Ansonsten gilt, was Joschka Fischer einmal gesagt hat: „Ich kann Krokodile nicht weinen sehen.“
> Charakterisierungen auf, mit denen in Kreisen des konservativen bürgerlichen Konzertpublikums gern moderne Musik generell mies gemacht wird.
Och, Thomas, das ist jetzt nun ein bisschen unter deinem Niveau. Ich differnziere bei Piazzollas Musik und habe mich auf ein ganz konkretes Stück bezogen, nämlich “Four for Tango” (https://www.youtube.com/watch?v=2AC6yhNv20E). Du rechnest dich also nicht zum “konservativ bürgerlichen (Konzert-)Publikum”? Wundert mich angesichts der Sachen, die du postest …
Als ehemaliger Studenten-Leninist weiß ich schon, wen ich mit wem vergleiche. Der lange Pörnbacher weiß im übrigen, sich zu wehren. Und vor allem: Er mimt nicht das Unschuldslamm. Man/frau muss ja nicht mit ihm kommunizieren. Aber erwähnen wär schon nicht schlecht. Mich hat TF übrigens auch erst im zweiten Anlauf genannt.
Thomas, du weißt doch: Zuerst genannt werden immer die Ungefährlichen.
Lieber Thomas,
wir schreiben hier über etwas, über das sich vielleicht vor Ort und Stelle, also beim Tanzen oder als Zuschauer in einer Milonga viel besser diskutieren ließe. Vielleicht mit ein paar guten, weniger guten, durchschnittlichen oder Top-Tänzern vor Ort. Und wir lassen alle mal vor Ort zu unterschiedlicher Musik von Piazzolla tanzen, vielleicht auch zu diesem von Dir favorisierten Stück “Deus Xango”. Danach zu klassischen Tangos der EdO. Dann setzen wir uns hin und beurteilen mal die Lage nach gewissen Kriterien: Wer hat hier sichtbar die Musik interpretiert? ICH GLAUBE, WIR KÄMEN SEHR SCHNELL AUF EINEN NENNER. Immer wieder wird die Frage, ob man Piazzolla tanzen könne, generalisiert. Und alle stellen fest: Manche Titel ja, aber nicht alle. Viele sind es aber nicht. Das selbe schreibt auch auch Theresa Faus.
Obwohl ich zugeben muss, liebe Theresa, dass einige von Dir favorisierte Tangos von Pugliese/Chanel auch eine tänzerische Zumutung sein können (https://youtu.be/jw6lEVu316) Wo ist also das Problem? Dass Theresa sich nach reichhaltigen persönlichen Erfahrungen mit Gerhard Riedl nicht auf seine Aussagen über Musik beruft? Der Vergleich mit Trotzki ist ja wohl sehr weit hergeholt. Der war nämlich einer der Gründer der ersten Stunde des Kommunismus in Russland. Hat Gerhard Riedl für Dich die gleiche Bedeutung in der Tangoentwicklung in Deutschland? Ist er ein Top-Tänzer? Ist er Musikkenner? Ist er ein anerkannter Musikkritiker? Was zeichnet ihn denn als besonderen Kenner des Tangos aus? Er kann vielleicht ein paar szenetypische Zusammenhänge, Missstände und Eigenarten der Protagonisten satirisch, und ich muss zugegen manchmal auch sehr treffend, beschreiben, aber ich spreche ihm keine besonderen Kenntnisse als Tänzer, als Dj oder Kritiker dieses Genres zu. Alles was er beschreibt, sind seine persönlichen Meinungen und Erfahrungen dazu. Die Auseinandersetzungen, die ich z.B. in seinem Buch kritisiere, sind seine Widersprüche. Z.B. kritisiert er , das sich viele einfache Tänzer einfach zu Tangolehrern deklarieren, aber gibt in zumindest in seinem 1. Milonga-Führer Hinweise, wie man tanzen solle. Also alles ganz einfach: Ihr braucht eigentlich keine Lehrer, Ihr braucht nur dieses Buch zu lesen. Er kritisiert den Umgang mit dem Cabeceo, aber kennt die Zusammenhänge nicht, weil in Pörnbach alles viel einfacher und seine Musikmischung überhaupt die beste ist. Usw. Ich finde einige Beschreibungen von ihm sehr treffend, wie z.B. seine Kritik über spezielle Workshops, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Aber ich würde nie auf die Idee kommen, Gerhard Riedl als Trotzkisten des Tangos zu bezeichnen.
Ich finde, er hat eine spitze Feder, die manchmal aber auch etwas zu weit über Satire hinausgeht, auch ist er manchmal witzig und schreibt manchmal überaus gut formuliert. Aber das sollte uns nicht zu tiefe Kenntnisse vortäuschen.
Also Thomas, ich muss zugeben, dass mich Deine manchmal ausgedrückte Nähe zu G.R. sehr irritiert.
Danke, Klaus! Du sprichst mir in vielem aus der Seele.
Nur deinen Link zu Pugliese/Chanel kann ich nicht öffnen, vielleicht ein Schreibfehler? Ich wüsste ja gerne, welches Stück da schwierig zu tanze ist und wo ich es empfohlen haben soll.
Hallo Theresa, das Stück von Pugliese/Chanel heißt Tiempo (https://youtu.be/jw6lEVu316I?list=PLye61ofJqtNqx3pS70cM8AoZvRSHQ-rAV) und Du hast es im ADA in Wuppertal gespielt, als wir uns zuletzt sahen. Ich hatte ich damals auf eine Serie angekündigter Pugliese-Titel aus dem Jahre 1943 gefreut (z.B. Raza Criolla, Malandraca, Las Marionetas) aber es kam die Serie mit Chanel. Das hat mein damaliges Tanzfieber leider nicht lindern können.
Oh! Hier kommen wir sehr in Fragen von subjektiver Vorliebe. Ich finde z.B. Malandraca zum Tanzen viel anstrengender als Tiempo. Aber beides sind großartige Stücke, und auf beide tanze ich – mit dem richtigen Partner – sehr gerne.
O je, kommen wir nun zum unter Zehnjährigen beliebten Diskussionsmuster: „Wenn du dem sein Freund bist, mag ich nicht mehr mit dir spielen“?
Sagen wir mal so: Den Berliner und dem Pörnbacher eint die Überzeugung, dass man (beispielsweise) zum Tango unterschiedlicher Meinung sein darf, ohne sich gegenseitig die Rübe einzuschlagen, und dass dies manchmal umso interessanter sein kann.
Daher habe ich den Trotzki-Vergleich schmunzelnd als satirische Polemik verstanden, ohne meine Bedeutung für die Tangoentwicklung in Deutschland auch nur ansatzweise zu überschätzen. Trotzki hat immerhin die Oktoberrevolution hinbekommen. An der deutschen Tangorevolution arbeite ich noch…
So nehme ich gefasst, ja demütig die Einschätzung entgegen, keine besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten im Tango zu haben. (Was mich dann wundert, ist nur, warum sich andere immer wieder seitenweise an mir abarbeiten – früher sogar Theresa Faus.) Aber gut: Dann gibt es im Tango viele wie mich. Aber auch die müssen eine Stimme haben, nicht nur jene, die unter dem Anspruch fachmännischer Unfehlbarkeit ihre Dogmen verkünden.
Und sollte mir tatsächlich mal eine tiefe Erkenntnis unterlaufen, halte ich es mit Hugo von Hofmannthal: „Die Tiefe muss man verstecken. Wo? An der Oberfläche.”
Ja, da kann man wiedermal erkennen, wie bestimmte Aussagen gedeutet werden: Anhand seiner Deutung kann man auch oft auch erkennen, wie der Autor dieser Deutung „tickt“.
Aber Thomas braucht bestimmt keine Angst haben, dass ich jetzt nicht mehr mit ihm spiele.
Es gibt allerdings in jedem Wissengebiet viele Fachleute und viele Laien, die darüber miteinander zu reden versuchen. Ist das überhaupt möglich?
Es ist allerdings interessant, wie schnell in der Tangoszene nach nur kurzer Zeit der Beschäftigung mit der Sache so schnell Fachleute entstehen. Da mutieren Menschen nach nur relativ kurzer Zeit der Beschäftigung mit dem Thema zu reinsten Fachleuten in allen Gebieten des Tangos und können plötzlich mit allen Themen mitreden. Manche davon schreiben sogar Bücher. Belehrungen auf der Tanzfläche – man nennt es auch verbale Führung – sind da ebenso alltäglich wie die Diskussion, ob Edo Tango Musik langweilig ist. Nur ist das subjektive Gefühl und die persönliche Erfahrung damit noch kein Wissen über alle Bereiche des Tangos. Das sollte Herrn Riedl als Gymnasiallehrer eigentlich klar sein. Oder diskutiert er im Unterricht mit seinen Schüler über Fakten wie z.B. die Richtigkeit des Periodensystems? Ist die Periodentabelle jetzt ein Dogma oder nur eine vorübergehend gültige wissenschaftliche Erkenntnis? Oder würden Sie mit mir als Laien die richtige schulische Vermittlung von Chemie diskutieren?
Es gibt mittlerweile gute Seminare über die musikalische Strukturen der Tango-Musik von Lehrern, meist Musikern – also Fachleuten, wie Joaquin Amenábar, (Michael Lavocah, Erdemsel) die die tänzerische Umsetzbarkeit der Musik der EdO gut vermitteln und somit vielen Tänzern Welten eröffnen und auch Laien die Raffinesse dieser ausgebufften Tanzmusik erklären. Es ist nämlich so, dass man sich durchaus bei vielen Tangos langweilen kann, wenn man nicht die Struktur versteht und stattdessen nur den Grundtakt tanzt.
Frage an Sie Herr Riedl: haben Sie als Freizeittänzer jemals an einem dieser Seminare teilgenommen? Wenn ich in einem Feuilleton einer Zeitung eine Musikkritik lese, erwarte ich vom Kritiker, dass er ein Fachmann seines Genres ist; dass er sich lange Zeit seines Lebens mit Konzertbesuchen, dem Hören und Vergleichen unterschiedlicher Interpreten, mit den Lebenswerk einiger Komponisten und deren Lebensgeschichten auskennt. Seine Kritiken sollten über die bloße Unterscheidung „gefällt-mir-oder-gefällt-mir-nicht“ hinaus gehen. Also danach nochmal die Frage: Sind Sie Musikkritiker?
Da es beim tanzen auch über die Interpretation der Musik geht, sollten beim Kritiker die Fähigkeit der musikalischen Interpretation vorhanden sein. In einem Video, das Sie stolz in einem Ihrer Beiträge als Beleg der „Tanzbarkeit“ eines Tangostücks veröffentlich haben, erfüllen sie sichtbar diese Vorraussetzungen nicht.
Aber ich möchte in diesem Beitrag auf einen allgemeinen Misstand hinweisen, wenn über „Tanzbarkeit“ diskutiert wird: den unterschiedlichen Wissenstand der Diskussionsteilnehmer. Da fällt mir immer wieder der bekannte Wikipedia-Beitrag über den bekannten Dunning-Kruger-Effekt ein:
Als Dunning-Kruger-Effekt wird die systematische fehlerhafte Neigung relativ inkompetenter Menschen bezeichnet, das eigene Wissen und Können zu überschätzen und die Kompetenz anderer zu unterschätzen.
„Wenn jemand inkompetent ist, dann kann er nicht wissen, dass er inkompetent ist. […] Die Fähigkeiten, die man braucht, um eine richtige Lösung zu finden, [sind] genau jene Fähigkeiten, die man braucht, um eine Lösung als richtig zu erkennen.“
David Dunning
Dass sich Fachleute an Ihnen, Herr Riedl, „abarbeiten“ ist eine treffende Bezeichnung. Denn als Buchautor und Blogautor sind sie zwar nicht automatisch ein Fachautor, aber in einer gewissen Weise in der Tango-Öffentlichkeit. Sie haben z.T. durch Vermischung mit einer gewissen Sozialkompetenz mit einem Massenphänomen zutun und haben zumindest in der Laienabteilung viele Anhänger. Nicht dagegen in der Profiabteilung! Wenn Sie sogenannte Dogmen anzweifeln in der Öffentlichkeit, ist das durchaus Ihr Recht, aber sie gleichzeitig als Unsinn zu bezeichnen, geht doch zu weit. Denn wenn Sie als Autor etwas öffentlich anzweifeln, haben Sie damit auch eine öffentliche Verantwortung. Außerdem muss man im weitesten Sinne zwischen Dogmen und Fakten unterscheiden.
Lieber Herr Wendel,
es tut mir leid: Ich habe im Tango tatsächlich keine Diplome oder Ähnliches vorzuweisen. Ich war lediglich in fast 20 Jahren wöchentlich auf zirka drei Milongas zum Tanzen (also zirka 3000 Mal). Und seit meiner Pensionierung 2011 beschäftige ich mich täglich mehrere Stunden mit Texten und Internet-Recherchen zum Tango (dürften so zirka 15000 Stunden sein). Dies hat zu 3 Ausgaben meines Tangobuches und zirka 700 Veröffentlichungen auf meinem Blog geführt. Als DJ aufgelegt habe ich sicherlich weit über 100 Mal – nicht nur in Pörnbach.
Was den Vergleich mit dem Lehrerberuf angeht: Wenn man den an einem Gymnasium ausüben möchte, benötigt man in der Regel ein abgeschlossenes Hochschulstudium und zwei Staatsexamina. „Tanzlehrer“ oder „Tangolehrer“ hingegen ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Jeder, der möchte, kann sich das auf seine Visitenkarte drucken lassen. Dennoch habe ich in meinem Beruf das Feedback von Laien sehr geschätzt – man nennt diese „Schüler“ und „Eltern“. Übrigens handelt es sich bei Chemie um eine Naturwissenschaft – da gehen die Meinungen weniger stark auseinander als in der Kunst…
Es ist geradezu ein Charakteristikum im Tango, dass auch anerkannte „Experten“ eher ein Erfahrungswissen denn abgeschlossene Studiengänge aufweisen – und das muss ja nicht falsch sein. Ich weiß nicht, welche der von ihnen genannten Zelebritäten ein Musikstudium oder eine Tanzausbildung an einer staatlich anerkannten Akademie vorweisen können.
Mit dem leidigen „Profi-Begriff“ werde ich nun seit Jahrzehnten attackiert – auch, was eine andere nicht geschützte Berufsbezeichnung betrifft: Zauberkünstler. Meiner Ansicht bedeutet dieser Begriff lediglich, dass jemand mit seiner Tätigkeit zumindest einen Teil seines Lebensunterhaltes bestreitet. Über den künstlerischen Wert der Arbeit sagt das genau nichts aus. Es gibt in der Kunst hervorragende Amateure und grottenschlechte Profis.
Meiner Verantwortung als Autor komme ich schon deshalb nach, weil ich meinen Werdegang nicht verschleiere. Wer also Riedl kauft, weiß, was drin ist.
P.S. Über Profis und den Dunning-Kruger-Effekt gibt es übrigens Artikel von mir:
https://diemagiedesgr.blogspot.com/2015/02/profis-ein-geisterwort.html
http://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2016/05/damlich-ohne-es-zu-ahnen.html
Lieber Thomas, ja leider konnte ich dein gespanntes Interesse nicht wirklich befriedigen.
Ich habe mir nicht die Frage vorgelegt und beantwortet “Ist Piazzolla tanzbar?” Sondern ich habe versucht, für den Begriff “tanzbar” bzw. genauer “zum Tanzen inspirierend für den Improvisationstanz Tango” Kriterien zu formulieren.
Auf Piazzolla angewendet lautet die Antwort dann auch logischerweise “es kommt darauf an”.
Deshalb sind alle Sichtweisen, die die Tangowelt in Dogmatiker mit der Antwort “ja” oder “nein” einteilt, auf meine Überlegungen nicht anwendbar. Insbesondere nicht die Konstruktion von Widersprüchen oder Trendwenden, wie sie mir allein dadurch unterstellt wurden, dass ich Piazzolla zum Thema eines Seminars gemacht habe. Und deshalb habe ich auch Gerhard Riedl nicht erwähnt, weil er alle Äußerungen hauptsächlich daraufhin überprüft (Obwohl – implizit bin ich auf ihn eingegangen in dem Abschnitt “Eine kleine Polemik”).
Gerne erwähne ich auch “tanzbare” Musik von Astor Piazzolla: Am liebsten tanze ich zu seinem Orchester der 40er Jahre, z.B.
“En las noches” mit Francisco Fiorentino von 1946
https://www.youtube.com/watch?v=EyK9nJUALV0
Und vom modernen Piazzolla:
Einige Stücke aus “The rough dancer and the cyclical night”, z.B “Prologue” von 1987
https://www.youtube.com/watch?v=T8bm8le5oL0
und was immer geht: “Oblivion” von 1984
https://www.youtube.com/watch?v=dF-IMQzd_Jo
Ja, auch gerne die Musik mit Gerry Mulligan.
Ein tolles Stück ist auch “Triunfal”, meine Lieblings-Version ist allerdings von Troilo 1953 gespielt:
https://www.youtube.com/watch?v=PhZ504o2L1E
Und das von Jochen Lüders so treffend formulierte “Knarzen, Kratzen und Quietschen” finde ich häufig gerade gut an Piazzolla – also kein Anlass, mir ein peinliches Mich-Winden gegenüber einem konservativen Publikum zu unterstellen.
Wie ich schon in meinem Text schrieb: Letztlich ist der Spaß, den zwei Leute haben, das Kriterium für gelungenes Tanzen zur Musik. Aber dass man erst mit Piazzolla die Höhen des Tangos erreichen könne und mit den Klassikern nicht, das leuchtet mir überhaupt nicht ein, auch dann nicht, wenn ich mal den Tanzstil derer, die das besonders vehement behaupten, ausblende.
Fußnote: Astor Piazzolla und Juan Carlos Copes (vielleicht sollte man aber auch seine Partnerin Maria Nieves erwähnen!) haben zur Wiederbelebung des Tango beigetragen. Aber dass der Tango jetzt weltweit so begeistert und so gut getanzt wird, dazu haben noch viel mehr die Sammler und Verlage, die die Musik konserviert und neu aufgelegt haben, beigetragen, sowie die Tänzer, die jenseits von durch die Welt tourennden Bühnen-Shows den sozialen, für jedermann zugänglichen Tanz in den mageren Jahrzehnten gepflegt und überliefert und ab den 90er Jahren enorm weiterentwickelt haben.
Lieber Thomas,
“Deus Xango” ist ohne Frage ein interessantes Stück. Zum Tanzen inspiriert es mich aber nicht. Dazu ist mir der Rhythmus zu marschmäßig, oder vielleicht sollte ich besser sagen zu maschinenmäßig. Auch die Melodie ist in meinen Augen /Ohren nicht stark genug, um einen ausreichenden Gegenpol zu setzen.
Wenn man so will ist dieses Stück, wie manche andere seiner Stücke, Piazzollas Referenz an das moderne, von Maschinen geprägte Zeitalter
Aber ich tanze nicht gerne zu Musik die ich als zu maschinell, zu rummsartig empfinde. Für mich muss Musik schwingen, damit sie mich auf die Tanzfläche zieht.
“Lo que vendra” dagegen empfinde ich, obwohl die Geige am Anfang hart an der Schmerzgrenze ist, als gut tanzbares, interessantes Stück, für jeden der bereit ist, zuzuhören.
“Knarzen, Kratzen und Quietschen” also mit experimentelleren Tönen zu arbeiten, die den Raum des Belcanto verlassen, gehört zu den Stilelementen von Piazzola. Viele Stücke gewinnen dadurch. Warum soll es verwerflich sein, das zu benennen, nur weil “Kreise des konservativen bürgerlichen Konzertpublikums” manchmal diese oder eine ähnliche Terminologie benutzen? Ein bißchen Souveränität sollten wir uns da schon herausnehmen.
Puh, was hab’ ich mir da bloß eingehandelt? So viele tolle Kommentare. Erst einmal pauschal: Vielen Dank! Die Antworten werden mich wohl bis in den Montag hinein beschäftigen. Bin am Wochenende noch anderweitig gebunden.
[…] Mittagsspitzen: Theresa trifft Astor… (*) […]
Jawohll