Die Vorstellung des neuen Buchs eines der Akteure/innen wird im politischen Berlin stets als Ereignis zelebriert. Meist tritt ein prominenter Politiker der Konkurrenz als Laudator auf. Es gibt Freigetränke und Häppchen. Dass die Hütte voll ist, liegt aber vor allem daran, dass die Gäste ein Frei-Exemplar mit nach Hause nehmen dürfen. Die Verlage, bei denen Spitzenpolitiker publizieren, zahlen derlei publizistische Landschaftspflege aus der Portokasse. (**)
Wenn in Berlin die neue CD der wichtigsten Tangoband der Stadt (nebenbei: eine der besten in Europa) vorgestellt wird, sieht das Setting anders aus. Die Musiker laden in eine bekannte Milonga. Die Besucher zahlen selbst – Eintritt und CD, wenn sie denn eine mögen. Da es Livemusik gibt (das Repertoire des Tonträgers), fällt der Eintritt etwas höher aus als üblich und Zahl der Gäste etwas geringer. Denn die Berliner TangotänzerInnen sind ein sparsames Bevölkerungssegment. Die Musiker aber haben keinen großen Konzern hinter sich. Denn mit Tango lässt sich nicht viel Geld verdienen. Das ist selbst in Buenos Aires heutzutage kaum mehr anders.
Hierzulande werden die meisten Tango-CDs im Selbstverlag veröffentlicht. Konzertmitschnitte halten die Produktionskosten gering. Häufig nutzen die MusikerInnen das Instrument des „Crowdfunding“. Das „Quarteto Rotterdam“ hat „Un Placer“ unter für Tangoverhältnisse eher aufwändigen Bedingungen plus Nachbearbeitungen im Studio produziert. Die Scheibe kommt im nostalgischen Vinylschwarz daher und steckt in einem Cover mit Begleitheft voller professionell aufgenommener Fotos. Der Verkauf bei ihren Auftritten dürfte dennoch der wichtigste Vertriebsweg bleiben.
Nach einer CD, die komplett Astor Piazzolla gewidmet war (***), präsentiert das „Cuarteto Rotterdam“ auf seiner neuen Scheibe „Un placer“ Musik der „vier Großen“ unter den Tango-Tanzorchestern der Epoca d’Oro: Carlos Di Sarli, Juan D’Arienzo, Anibal Troilo und Osvaldo Pugliese. Das titelgebende Stück ist ein (nach meinem Erleben) nicht häufig gespielter Vals aus dem Repertoire von Anibal Troilo. Ich finde, die Interpretation des Quarteto entspricht sogar ein wenig besser dem melancholischen Charakter des (nicht gesungenen) Textes von Adolfo Crosa als das Original. (****) Für Spezialisten, oder sagen wir: Tangofans, die sich etwas mehr für die Musik interessieren als die Mehrzahl, verraten die Musiker im Beiheft die Aufnahmedaten der Fassungen, an denen sie sich in ihren Versionen orientieren. Zu meinen Favoriten zählt ein weiterer Vals – einer der eher seltenen von Osvaldo Pugliese: „Marga“. Eine Vals zum dahin Schmelzen, den „Don Osvaldo“ ebenso wenig veröffentlich hat wie die Milonga „De mi Corral“. (*****)
Es dürfte dem Bandoneonsten Michael Dolak zu verdanken sein, dass auf der CD zwei Stücke seines Instrumentalkollegen Alejandro Junnissi zu hören sind – aus dem Fundus zweier Orchester, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. „El Ingeniero“ hat Carlos Di Sarli drei Mal aufgenommen. Der zweite Titel ist ein „Kracher“ aus Juan D’Arienzos Repertoire, der (ausweislich zahlreicher Versionen auf Youtube) von der aktuellen Creme der Showtänzer überaus geschätzt wird: „El Puntazo“. (******)
Die wichtigste Zielgruppe der Zusammenstellung aber sind die TangotänzerInnen wie Du und ich. Für uns präsentiert das Quartett eine spannender Mischung bekannter Titel mit Stücken, die eher selten in unseren Milongas gespielt werden. Aber ich will mich hier nicht (noch mehr) in Einzelheiten verlieren, so sehr es mir auch Spaß macht, den Kostbarkeiten auf Youtube und in den Büchern von Michael Lavocah nachzustöbern. Nur eins noch: „Pata Ancha“ ist ein Pugliese ohne den erkrankten Pugliese. Bei der Aufnahme saß Osvaldo Manzi auf dem Klavierschemel (*******).
Den Kern der CD bilden Stücke, die wir aus unseren Milongas kennen und schätzen: Von Carlos Di Sarlis „Indio Manso“ zu Donatos „El Hurrican) in der Version von Juan D’Arienzo, von Anibal Troilos „Tinta Verde“ bis zu Osvaldo Puglieses „Nochero Soy“. Dabei halten sich die Musiker nicht an die zeitlich engen Grenzen der „goldenen Epoche“, sondern nehmen sich auch Versionen von Ende der 1950er bis in die 1970er Jahre zum Vorbild. Dem Kriterium der Tanzbarkeit genügen sie alle. In der Quartett-Fassung klingen sie etwas leichter als die oft sehr wuchtigen Versionen der originalen Orchesta Tipica mit mehr als zehn Mitgliedern. Ich mag diesen Sound.
Die vier MusikerInnen des Quarteto sind bestens auf einander eingestellt: Die Pianistin Judy Ruks mit ihrem kraftvoll dynamischenen Spiel, Anna-Maria Huhn, die am Kontrabass stets eine zuverlässige Grundierung gibt (übrigens aauch in anderen Gruppen); dazu das Kernpaar – die Geigerin Susanne Cordula Welsch und Michael Dolak am Bandoneon. Beide ebenso brillante SolistInnen wie disziplinierte Ensemblespieler. Alle vier bilden eine kompakte Einheit, die aber allen genug Raum zum solistischen Atmen lässt. Zum Teil kennen sie einander schon aus ihrer gemeinsamen Zeit am Instituto Rotterdam, wo viele europäische Musiker den Tango studiert haben. Daher auch der ungewöhnlich Name.
Die gut 52 Minuten Spielzeit der CD sind als Minilonga organisiert: Jedes der vier präsentierten Orchester ist mit einer Dreier-Tanda vertreten; dazu je eine Einheit Vals und Milonga, gemischt aus Titeln der vier. Die ausgefeilte Dramaturgie zeugt von der großen Erfahrung des Quartetts in Tangoveranstaltungen. Für die Cortins hatte das Quartett einen besonders hübschen Einfall: Stücke der Beatles, gespielt auf einem Mini-Glockenspiel. Lacherfolg beim Publikum eingebaut. Wer da daheim ruhig sitzen bleibt – selbst schuld. Mein Tip: Tangofreunde einladen, Tisch zur Seite schieben, Teppich einrollen, CD auflegen, tanzen! Tip Nr. zwei: Falls DJs mal einen frischen Klang suchen: Hier finden sie ihn!
(*) Cuarteto Rotterdam, Un Placer, Clasicos para Bailar; La Casa del Tango Berlin 2018, sowie in den einschlägigen Streamingportalen.
(**) Manch eine dieser Gaben ziert auch meine Bücherregale. Die meisten hab’ ich gelesen. Über viele habe ich (kritisch) geschrieben.
(***) Cuarteto Rotterdam, Hommage a Astor Piazzolla (Live in Berlin), La Casa del Tango Berlin 2015, sowie in den einschlägigen Streamingportalen.
(****) Michael Lavocah, Anibal Troilo, milonga press 2014; https://youtu.be/YkVVfD2EUFs, für den Text siehe: https://youtu.be/gmwJ2hx_0yM
(*****) Puglieses früherer Bandoneonist Roberto Alvarez hat mit seiner Gruppe Color Tango einige dieser nie produzierten Titel aufgenommmen: Pugliese Inedito, Tipica, 2006. Auf youtube: https://youtu.be/KbMk2NwBwpA und https://youtu.be/D8kThGfgaZE
(******) Dennoch wurde es zu seinen Lebzeiten nie gecovert, Michael Lavocah, Carlos Di Sarli, milonga press 2018, S 185f. Das Quarteto bevorzugt die Version von 1955 https://youtu.be/lxTt8GRckhw. Eine der vielen getanzten Aufnahmen von „El Puntazo“ https://youtu.be/kruo2tTat_M
(*******) Lavocah, Pugliese, S. 170 f. https://youtu.be/NX9csSdv5a4