Es wäre mir seltsam vorkommen, mit einem Blog über Tango zu beginnen, ohne wenigstens einmal in seine VaterMutter-Stadt geschnuppert zu haben. Drei Jahre ist sie nun her – die große Pilgerreise nach Mekka. Kurz darauf habe ich die ersten Texte veröffentlicht. Seither sind die Erinnerungen an Buenos Aires zu einem festen Kanon von Anekdoten geronnen. Die Erfahrung meines Berufslebens als Journalist sagt mir zwar: Zuverlässiger, was die Einzelheiten angeht, wird die Erzählung auf diese Weise nicht unbedingt. Aber es passt alles besser in einander. Zu lesen sind hier daher (erheblich kondensiert) einige Erinnerungsfetzen aus knapp zwei Wochen an, im Wortsinn: m e i n Buenos Aires. Also: Mit Vorsicht zu genießen.
Den ersten Eindruck lieferte mir der Blick aus dem Flugzeugfenster, den ich hier dokumentiere. Übermüdet vom langen Flug war ich überwältigt von der gigantischen Glitzerpracht in der Nacht. Eine Mega-City – auch wenn es sicher größere gibt. Aber ich war nie ein großer Reisender. In Buenos Aires hab ich mich meist zu Fuß bewegt. Nur ab und an mit der “Subte”, wie sie die U-Bahn hier nennen. Gelegentlich mit dem Taxi. Dabei ist mir aufgefallen: Buenos Aires mag die Hauptstadt des Tango sein. Aber dass er und die Erinnerung an ihn beherrschend seien, lässt sich nicht sagen.
Sicher, da gibt es Namen von Straßen und U-Bahnstationen, ein paar Platze, einige Lokale. Aber das ist es dann auch – abgesehen von dem bunten Tango-Disney-Land, das sie aus La Boca gemacht haben, dem Hafenviertel, in dem Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts, die meisten Einwanderer angekommen sind. Wer unter den FreundInnen des Tango auf sich hält, nennt die Einwohner daher bis heute “Portenos”, die vom Hafen. Aber die riesige Rolle des Tango – die ist wohl eher Geschichte. Man kommt über weite Strecken gut durch die Stadt, ohne mit ihm in Berührung zu geraten. In den meisten Reiseführern ist “Evita” wichtiger als Carlitos.
Die beiden Autoren, die hierzulande lange die wichtigsten, höchst gegensätzlichen Beblogger der Tangoszene waren, haben nie einen Fuß in die Stadt gesetzt. Bei Gerhard Riedl http://milongafuehrer.blogspot.com wundert mich das nicht. Er hat mit “Argentinidad” nichts am Hut. Im Gegenteil. Aber bei Cassiel, https://tangoplauderei.blogspot.com, der sich lange als Gralshüter der Rechtgläubigkeit geriert hat, find’ ich’s doch eher seltsam. Wollte er sich sein Ideal nicht durch die Realität ankränkeln lassen? Egal, seit einem Jahr verharrt er in tiefem Schweigen. Laura Knight https://berlintangovibes.com dagegen, die junge Aficionada aus Berlin, könnte gar nicht oft genug am Rio de la Plata sein. Wenn es denn wieder möglich wäre…
Am Rande von La Boca gibt es eine Kneipe, die man in Köln “urig” nennen würde. Holzgetäfelt und voller Tango-Devotionalien. Aber die Betreiber heben auch anderen Krempel auf. So hängt da ein Bild von Martin Schulz. In seinen besseren Tagen (als Präsident des Europaparlaments) hat er sich hier mit seinem argentinischen Amtskollegen getroffen. Zu finden sind auch die Größen des Fußball… und Oscar Bonavena. Ein Boxer. Kein Techniker. Aber ein beherzter Kämpfer, der nie aufgab. Ein Compadre. Ein Volksheld wie Carlos Gardel und Diego Maradona, deren Murales viele Häuser auf dem Weg vom Hafen zum Stadion der Boca Juniors zieren. Im Jahrzehnt vor seinem Tod 1976 hat er gegen die wichtigsten Schwergewichtler der Welt gekämpft – und verloren.
Die Geschichte seines Endes ist tangoreif. Mit 33 Jahren wurde er ermordet von einem Türsteher des Bordells “Love Range” in der Nähe von Las Vegas. Dessen Chef soll die Tat in Auftrag gegeben haben, weil er seiner Frau nachstellte. Es ist allerdings kein Tango draus geworden, sondern ein Film (“Love Range”), in dem Helen Mirren die Umworbene spielt. Bonavenas Leichnam wurde im Lunapark von Buenos Aires aufgebahrt. Ein Trauerzug von weit mehr als 100 000 Menschen folgte seinem Sarg. Wie bei Carlos Gardel.
Von einem Ort, den ich unbedingt hatte besuchen wollen, besitze ich leider nur ein Foto, das zwischen Tango-CDs und -Büchern in meinem Wohnzimmer hängt. Es zeigt eine Turnhalle, in der gegessen und getrunken, gequatscht und eben auch getanzt wird. Doch ich kam zu spät. Denn mit der “Milonga Malena”, die hier stattfand, war es schon lange vor Beginn der “Epoca Corona” vorbei. Geschlossen wie etliche andere Traditionslokale, an der Spitze die prächtige “Confiteria Ideal”. Die BBC hat einen sehr schönen Film über diese Institution gesendet: “The Tango Salon”. https://youtu.be/LKvgTinOM3w Das “Sunderland” war zu hässlich, als dass es zum Magneten für Touristen hätte werden können. Hier feierten die Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung, aus dem “Barrio”. Und die Tango-Profis. Auf Youtube sind stimmungsvolle Videos von ihren Festen zu finden.
Mein Tangohotspot war der “Salon Canning” im Stadtteil Palermo. Prächtig ausgestattet. Um eine quadratische Tanzfläche von 100 Quadratmetern sind die Tische gruppiert. An der Stirnwand des Saales eine Collage von Guillermo Monteleone mit Tangoszenen aus der ganzen Stadt. In der “Milonga Paracultural” treffen sich bis in die frühen Morgenstunden Einheimische und Touristen, Tänzerlnnen und Voyeure. (Ein Erinnerungsfoto steht am Kopf meiner Facebook-Site.) Die Plätze, zumal die besseren, werden nach einem informellen Mischsystem aus Anciennität und Trinkgeld vergeben. Der Abend beginnt mit einer einstündigen Practica. Oft gibt es später am Abend Live-Musik. Aber als Ausländer eine Portena zum Tanz aufzufordern, grenzt in dieser Location an eine Unmöglichkeit. Jedenfalls bei meinen Besuchen. Touristinnen helfen blonde Haare. Möglichst lang. Aber ein unfehlbarer Lockstoff waren auch sie nicht.
Für die Frauen bleibt immerhin die ehrwürdige Institution der “Taxitänzer”, um mit Einheimischen zu tanzen. Im alten Berlin hießen sie “Gigolos”. Sie arbeiten zu tarifähnlichen Konditionen: Zwei Tandas Tanzen. Eine Tanda Pause. Die Damen meiner Reisegruppe haben sich meistens einen Herrn geteilt. Besonders beliebt war Sergio Barreiro https://www.facebook.com/sergio.barreiro.94, mit rund 30 Jahren im Job der dienstälteste seines Fachs in der Stadt. Auf seinen stattlichen Buch angesprochen, pflegte er lächelnd zu antworten: “It’s my Milonguero-Muscle.” Die Ladies liebten diesen Muskel. Sergios Maxime: “I have to let the ladies shine – ich hab’ die Damen glänzen zu lassen”.
Meinen schönsten Tanz im Canning hab´ ich mit einer erheblich jüngeren (und leichteren) Sizilianerin absolviert. Intensivtango zur Musik von Osvaldo Pugliese. Aber dergleichen hätte ich auch mit einer Tangotouristin in Berlin haben können. Doch irgendwann, irgendwo hab´ ich’s noch geschafft, die ein oder andere Portena aufzufordern. Am besten klappte es in den Veranstaltungen am Nachmittag. Der Durchbruch gelang mir allerdings spät nachts in der vollsten Milonga meines Lebens. Zum Jubiläum der Website “Hoy tango” spielte das “Sexteto Milonguero”. Bei freiem Eintritt. Darüber und über andere Episoden meines Trips nach Buenos Aires hab´ ich schon an anderer Stelle in diesem Blog berichtet.
So hab ich die Portenas als Tänzerinnen erlebt (inclusive Erfahrungen mit dem Cabeceo): http://kroestango.de/aktuelles/cherchez-la-portena-tipica/
Mein Besuch im CAFF, dem anarchischen Zentrum des aktuellen Tango: http://kroestango.de/aktuelles/totenkult-lieber-leben/
Ein Gang über der Friedhof Chacarita zu Carlos Gardel und anderen Granden des Tango : http://kroestango.de/aktuelles/doch-noch-zu-besuch-bei-den-toten/d
Was für die Frauen beim Besuch in Buenos Aires fast so wichtig ist wie das Tanzen: http://kroestango.deDa/tagesspitzen/mittagsspitzen-tanzschuhkauf-im-gendergap/
Aber eine Anekdote will ich hier noch los werden. Sie fand auf der Plaza Dorrego statt. Der zweitälteste Platz der Stadt liegt in San Telmo. Auf dem benachbarten Kunstgewerbemarkte hab’ ich ein Mitbringsel für meine Frau gefunden (und eins für mich). Einmal in der Woche organsiert Pedro Benavente, wegen seiner indigenen Abstammung “El Indio” genannt, hier eine Milonga. Er hat schon im Bolschoi-Theater getanzt. Aber sonntags lädt er auf die Plaza ein. Ein Event, der in den meisten Reiseführern vermerkt ist. Nach seiner Show, die am Nachmittag mit Oldtime-Tango beginnt, wird bis gegen elf Uhr abends ebenso leidenschaftlich wie lustig getanzt. Aber nicht nur… Bei meinem Besuch stand in einer Ecke eine Gruppe von Jugendlichen und produzierte eine Qualmwolke, die nicht nach schlichtem Tabak roch.
Zunächst saß ich auf der Umrandung und schaute dem bunten Treiben zu. Irgendwann hab ich mir ein Herz gefasst und meine Nachbarin angesprochen – was man so radebrecht, wenn einer kein Spanisch spricht und die andere nur Spanisch. Aber meine Aufforderung zum Tanz hat sie verstanden. Als wir uns erhoben, stellte sich heraus, dass die Senora mit ihrer voluminösen Oberweite knapp über meine Taille reichte. Ein seltsames Paar. Spaß gemacht hat es uns trotzdem. Vor dem Tango hat sie mich noch in die Sicherheitsvorkehrungen dieser Outdoor-Milonga eingeführt: Die TänzerInnen binden ihre Taschen um einen Laternenpfahl mitten auf dem Platz. Da ist ein lustiges Kuddelmuddel beim Aufbruch programmiert.
Meine eindrücklichsten Erlebnisse hatte ich jedoch abseits des großen Tango-Circuit. Das eine fand in einem Sport-Club statt, nicht unähnlich dem “Sunderland”, nur kleiner: “Miercoles Santos 4040” . Meine Reise führenden Berliner Tangolehrer kannten ihn nicht. Der Tip kam von Carlos Libedinsky, dem Mastermind der Electrotango-Pioniere “Narcotango”. Es handelte sich um einen langen, eher schmalen Raum. Vorn eine Bar. Hinten wurde Tischtennis gespielt. Dazwischen konnten nach Bedarf Teile mit dicken Vorhängen abgeteilt werden.
Hier tanzte die junge Szene der Stadt. Oder ein Teil davon. Zu alter, aber auch zu moderner Musik, doch immer mit großen ausladenden Figuren. Cassiel & Co. hätte das Grauen gepackt. Als Zuschauer hab’ ich nicht gestört. Als potentieller Tänzer bin ich noch weniger wahrgenommen worden als im Canning. An dieser Stelle sicher zu recht, denn was die jungen Leute da veranstalteten, ging (und geht bis heute) weit über meine Fähigkeiten hinaus. Zu Carlos und seinen Musikern gesellte sich zeitweise eine treibende Percussion-Group.
Nicht vergessen werde ich eine Schrecksekunde. Da stand plötzlich eine seltsame Gestalt auf der kleinen Bühne, gleich vor den Musikern. Sie trug einen Fedora-Hut, hatte einen schlabberigen Trenchcoat an und hantierte mit einem Spazierstock. Aber anders als ich befürchtete, war kein Verwirrter am Werk, der auf die Musiker losgehen wollte, sondern Mario Rizzo, ein Showtänzer von hohen Graden. Er tritt mit Mauro Caiazza und Carolina Giannini im Trio “Tango Freestyle” auf. Bis heute schau ich mir gern ihre Shows auf Youtube an. Dabei bin ich auch auf eine faszinierend schräge Avantgarde-Band gestoßen: “Calavera Acid Tango”. Argentinidad der anderen Art.
Doch den in der Rückschau schönsten Abend in Buenos Aires hat mir ein Fehltritt beschert. Ich hab ihn allein verbracht – auf der Dachterasse des zauberhaften Guesthouses “Tango Oasis” https://www.danielayluis.com/housing-in-bae , in dem ich mit meiner Berliner Reisegruppe (Organisation: Laura Priori und Andreas von Maxen) gewohnt habe. Die Gehsteige von Buenos Airs erinnern über weite Strecken an die von Eisenhüttenstadt kurz vor der Wende. Da bin ich bei einem spätabendlichen Eilmarsch in eine heimtückisch tiefe Baumscheibe geraten und umgeknickt. Also erstmal nix mit Tanzen. Während die andern sich im “Salon Canning” vergnügten, humpelte ich vorsichtig auf die Dachterrasse der “Tango Oasis”. Bewaffnet mit meinem Smartphone und einer Flasche Wein hab´ ich mich in einen Liegestuhl gefläzt und in den Himmel gestarrt.
Auch ohne den Mitreisenden, der perfekt die Sternbilder der südlichen Hemisphäre zu erklären wusste, ein grandioses Erlebnis, das dem Blick auf die Stadt beim Anflug kaum nachstand. Phänomenal klare Sicht einschließlich Milchstraße. Von unten drangen auch gegen Mitternacht noch die Geräusche jenes Verkehrs nach oben, von denen Astor Piazzolla einmal gesagt hat, dass er sie in seiner Musik einfangen wolle. Den passenden Sound lieferte mein Smartphone: “Buenos Aires Hora Cero”. Beim Gang zum Tanz am nächsten Abend war ich dann vorsichtig, hab´s Sightseeing gebremst und lieber aufs Trottoir geschaut.
Zum Schluss eine Klarstellung: Der Titel “Mein geliebtes Buenos Aires” ist ein wenig euphorisch geraten. Aber so heißt nun einmal das berühmte Lied von Carlos Gardel, das zu meinen Lieblingsstücken gehört. Ich war gern in Buenos Aires. Es hätte auch eine Woche länger sein dürfen. Die ein oder andere Milonga hätte mich noch interessiert, das “Museo Gardel” und so manches moderne Orchester. Aber das war’s dann auch. Ich erinnere mich gern an die Tage in Buenos Aires. Je länger der Besuch zurück liegt, umso lieber. In unseren Zeiten des Lockdown erst recht. Aber deshalb noch ein-, nein zwei Mal mehr als 10 000 Kilometer fliegen – nein, das muss nicht sein. Der Focus meines Lebens (auch als Liebhaber des Tango) ist Berlin. Ich wollte, wie’s in der guten alten deutschen Redewendung heißt, nur mal vorbei schauen. Ein Flaneur eben…
1 Comment
Ach war das schön !!! Die Abende auf der Terrasse ebenso wie der Tanz auf den Straßen und den so unterschiedlichen Salons… und vieles mehr ! Danke fürs schöne Erinnern der gemeinsamen Zeit dort.
Und zwei Erlebnisgeschichten von meiner zweiten Hadsch nach Tango-Mekka mit unserer Gruppe sind ja auch in meinem Buch #LebenistTango – mit Herzblut und Staunen gelandet. Zum Nachlesen :Annähern und Begegnung im Tango – Kult? Kultur? (S. 161-164)
Und was dir, lieber Thomas, mit deinem “Fehltritt” passiert ist, ich erinnere mich, das hat auch mancher zielorientierten Tanguera den Absatz untern Füßen abgezogen…
(Schnappschuss Lokalcolorit der Gehsteige in Buenos Aires und kleine Hommage an die vibrierende Metropole im Buch S. 148 unten f, für die, die sich auch gerne erinnern !)
Mit virtuellen Abrazos in die Leserrunde von Thomas’ immer spannenden, tiefer blickenden und gut recherchierten Blogs, in denen auch manche Wortspielerei zum Schmunzeln einlädt , prima und Danke ! Martina