Wo hat er angefangen, der Wahnsinn? Na, wo schon… in Buenos Aires! Susanne Cordula Welsch und Michael Dolak absolvierten ihren Hadsch ins Mekka des Tango. Unter den vielen Eindrücken war einer, der sie besonders faszinierte: Gut besuchte Tanzshows zum abendlichen Ausgeh-Essen. Dazu Live-Musik. Einen Ort dafür in Berlin zu etablieren, hatten die Geigerin und der Bandoneonist schon lange versucht. Mit begrenztem Erfolg.
Denn das kulturelle Angebot im Allgemeinen ist riesig, die Konkurrenz also groß. Das Interesse der Tango-Community an nicht konservierter Musik dagegen erwies sich als zu gering, um genügend zahlende Besucher in ihre „Casa del Tango“ zu locken. Live Musik allein war nicht attraktiv genug, selbst als es ihnen gelang, zusammen mit anderen „Sabor al Tango“ auf die Beine zu stellen – ein komplettes Orchesta Tipica. (*)
Live-Musik hat es ohnehin schwer in der Berliner Tangoszene. Andernorts (schon ein wenig außerhalb) sind Eintrittspreise von 25 Euro für ein Konzert mit Tanz an der Tagesordnung. In der angeblichen europäischen Hauptstadt des Tango sind sie nicht durchsetzbar. All zu vielen TänzerInnen reicht der Verzehr der gewohnten Audio-Dateien aus dem PC. Selbst international angesagte Gruppen wie das „Sexteto Milonguero“ oder „La Juan D’Arienzo spielen hier für zehn (!) Euro – in der Regel bei oft eher kleinen Zufallsveranstaltungen, wenn irgendwo ein Termin ausgefallen ist. Ich erinnere mich gut an mein freudiges Erstaunen, als ich auf dem Weg ins „Mala Junta“ (4. Stock) im Erdgeschoss des „Berliner Tanzhauses“ ein handgeschriebenes Plakat mit dem Hinweis auf ein Gastspiel des „Sexteto Milonguero“ fand. Sie spielten im kleinen „Zapatissimo“, dessen Besitzer sie kennen. Eintritt: Zehn Euro. Aus der zeitgleich oben stattfindenden klassischen Milonga verirrte sich fast niemand in die Niederungen der Gegenwart.
So kamen Susanne und Michael auf die Idee der „Dinner Show“ – nach dem Vorbild aus Buenos Aires. Aber bevor ihre heutige Form gefunden war, gab es im Winter 2012/2013 einen kleinen Umweg mit dem Titel „Obsession Tango“. Damals waren sie noch sechs MusikerInnen und ein Tanzpaar mit einer tangoklischetypisch melancholischen Geschichte. Die neue Show am alten Ort im „La Luz“ setzt dagegen einen radikal neuen Akzent. „Im tiefen Berliner Wedding ist der Tanz vom Rio de la Plata mit zwei nicht ganz so bekannten Zutaten zu genießen“, habe ich in der „Berliner Zeitung“ geschrieben. „Witz und Ironie“. (**)
„Locura Tanguera“ heißt das Unternehmen – der Tango-Wahnsinn. Die heitere Herangehensweise an den Tanz der ernsten Gesichter lag offenbar in der Berliner Luft. Denn der Schweizer Schauspieler, Regisseur und begeisterte Tangotänzer Andrej Togni erarbeitete 2012/2013 mit tanzenden LaiendarstellerInnen das Stück: „Tangomaxx – Colgada ist keine Zahnpasta“, in dem ein satirischer Blick auf die Tangoszene geworfen wird .(***)
Der blanke Tango-Wahnsinn ist kein Theaterstück, sondern eine Nummernrevue, und er wird von Profis gemacht. Sie führt musikalisch, tänzerisch und sozial durch die Geschichte unseres Tanzes. Zunächst haben die MusikerInnen um Susanne Cordula Welsch und Michael Dolak überlegt, welche Stücke sie gern spielen würden. Dann haben die TänzerInnen, mit denen sie arbeiten wollten, ihre Lieblinge hinzugefügt. Die aktuelle Tangoszene (nicht nur) in Berlin wird in der Revue mit genauem Blick und nicht ohne satirische Schärfe betrachtet.
“Die Show ist der Höhepunkt des Jahres für mich“, schwärmt Judith Preuss, die Leiterin des Tangostudios „Mala Junta“ (****). Sie bietet ihr die Möglichkeit, sich jenseits der Arbeit als Lehrerin und der Organisation einer der drei großen Berliner Tangoschulen künstlerisch auszudrücken. Außer ihr gehören zum aktuellen Lineup der Show: Christiane Rohn, Constantin Rüger und Felix Naschke. Neben ihren tänzerischen Fähigkeiten legen die vier ein beträchtliches schauspielerisches Talent an den Tag.
Eine besondere Rolle in der Show spielt Carola Söllner (*****). Als Anchorwoman hält die Schauspielerin, Regisseurin und begeisterte Hobby-Tanguera die Show zusammen. Mit ihrer Texten macht sie aus einer losen Nummernfolge ein dramaturgisches Gesamtkunstwerk. „Nebenbei“ führt sie auch noch ein wenig Regie.
Zum Schluss der letzten Saison gibt es noch eine kleine Veränderung im musikalischen Personal. Die Sängerin AnnA Franken (*******) wird im kommenden Jahr für eine Weile wieder ganz in Buenos Aires leben. Deshalb erhält der Tangowahnsinn eine neue Stimme: Laura Corallini (********). Die Argentinierin, als Tochter eines Tangokomponisten in Buenos Aires geboren, lebt seit einigen Jahren in Berlin. Musikalisch ist sie bisher allerdings eher der Folklore und dem Jazz als dem Tango verbunden. Das Publikum darf also auf eine neue Klangfarbe gespannt sein.
Mit dieser in fünf Jahren bewährten Mischung gelingt es offenkundig, die direkte Abhängigkeit der Show von der Tangoszene im engeren Sinn zu verringern. Die MacherInnen schätzen, dass höchstens ein Drittel der rund 5000 BesucherInnen in Berlin (dazu 1000 bei Gastspielen) zu ihr zu zählen ist. Anfang 2019 fällt nun der letzte Vorhang in Berlin. Gastspiele außerhalb sind aber noch möglich. Dann soll es etwas Neues geben – was, wird noch nicht verraten. Mehr als erste Ideen gibt es auch noch nicht.
*) http://www.lacasadeltango.de Diese Website enthält nicht nur das aktuelle Programm, sondern führt auch zu den früheren Versuchen, im Berliner Wedding eine regelmäßige Milonga mit Live-Musik zu etablieren. Aus allen Sufen sind Viideos zu sehen. Hier ist auch ein Video einer früheren Version der Show zu bestellen, außerdem die CDs des Cuarteto Rotterdam. http://www.cuarteto-rotterdam.com
(**) https://www.berliner-zeitung.de/berlin/tango-in-berlin-mit-witz-und-ironie-3640152
(***) Tangomaxx – Colgada ist keine Zahnpasta ein satiriscches Stück im Theaterforum Kreuzberg
(****) https://www.malajunta.de
(*****) http://www.carolasoellner.de/aktuell/
(******) https://www.annafranken.com
(*******) http://www.lauracorallini.com