Ich weiß nicht, welche Gedanken sich die Redaktion der Tangodanza bei der Wahl des Titelbildes ihrer aktuellen Ausgabe 2/21 gemacht hat… Aber ein jung aussehendes Tanzpaar, das auffährt in einen tiefblau/weißen Himmel, finde ich keine schlechte Wahl zum Ende des ersten Jahres der “Epoca Corona”. Das christliche Glaubensbekenntnis, das ich als Knabe noch auswendig lernen musste, gewinnt dem Tod ja auch eine optimistische Perspektive ab. Nun ist der Tango trotz der Pandemie noch nicht “hinabgefahren in das Reich des Todes”, wie es dort heißt. Doch eine ordentliche Portion Glaubensstärke können seine Freundinnen und Freunde auf Erden in diesen Tagen allemal brauchen. Und Geduld. Denn nach drei Tagen wird die Warterei wohl längst noch nicht zu Ende sein.
Dafür stak die “Tangodanza” so früh in meinem Briefkasten wie noch nie, seit ich sie abonniert habe . Eine Woche vor Beginn des neuen Quartals. So früh. So schmal. Gerade mal 84 Seiten zählt das Heft – obwohl sich die Zeitschrift einen gewohnt umfangreichen Terminkalender leistet. Termine? Im Grunde hätte sie es beim dem Appell bewenden lassen können, der bereits den Eintrag des “El Corazon” aus Aachen ziert: “Schaut bitte auf unserer Homepage, wann es wieder losgeht.” So oder ähnlich geht es weiter durch die deutschsprachige Tangowelt bis zum “Cafetin de Buenos Aires” in Zürich. Ohne feste Daten stellt der traditionelle “Tanzkalender” eher eine Corona-bedingt traurige Parodie auf einen Tanzkalender dar.
Es wäre also hinreichend Platz gewesen, ein Ereignis angemessen zu würdigen, das für den Tango mindestens so wichtig ist wie die Practica in der Kulturwerkstatt zu Paderborn. Ich meine den 100. Geburtstag von Astor Piazzolla. Immerhin fällt der Name fünf Mal (Ich hoffe, ich hab richtig gezählt) im Heft, am Rande von in Rezensionen. Einmal steht er um Mittelpunkt. Da geht es um eine DVD des in der Tat empfehlenswerten Films “The years of the Shark”. Der “liebevolle” Schluss: Wer sich den Film vor Jahren aus der Arte Mediathek besorgt habe, könne “sich den Kauf der erweiterten DVD-Fassung sparen”. Das ist der Geist, aus dem Tangueres hierzulande ihr eignes Wasser zu einer Milonga mitbringen, oder aus heutiger Perspektive: mitgebracht haben. Interessierte Sparfüchse können auf Youtube übrigens eine BBC-Dokumentation über den neben Carlos Cardel wichtigsten Tangomusiker des 20. Jahrhunderts finden. Kostenlos. https://youtu.be/LT8HsSM8blg Oder in meinem Blog hier nachschlagen. httpp://kroestango.de/aktuelles/nein-mein-junge-das-ist-kein-tango-zum-100-geburtstag-von-astor-piazzolla/.
Ich hab’ keine Lust, mich noch einmal mit der leidigen Frage herumzuschlagen, ob man zu der Musik des Meisters tanzen könne und wenn ja, zu welchen Stücken. Das habe ich an anderer Stelle hinreichend getan. http://kroestango.de/aktuelles/zu-piazzolla-tanzen-warum-nicht/ und http://kroestango.de/aktuelles/tanz-den-piazzolla/ Hier nur so viel kurz und trocken: Hätte Astor Piazzolla den Tango nicht aus dem Museum geholt, hätten mit einiger Wahrscheinlichkeit auch diejenigen sich nicht auf ihre geliebte Musik aus den goldigen Zeiten bewegen können, die seine Musik für “untanzbar” erklären.
Es ist übrigens auch keine Argument, das Thema werde in den Medien hinreichend behandelt. Dann hätte man sich auch die Behandlung der TV-Films “Tanze Tango mit mir” (S. 24f) schenken können. Indem der Autor den Tango-Coach in den Mittelunkt seines Artikels stellt, gewinnt er einen eigenen Zugang. Wenn der Text auf diese Weise zur Personality-Show für den ehemaligen Berliner Tanzlehrer Sven Elze gerät… Sei’s drum. Da fällt mir die Eigenwerbung für die Besprechung in meinem Blog leichter. http://kroestango.de/aktuelles/tanze-tango-mit-mir-wie-richard-gere-nur-dicker/
Aber ich will die Meckerei nicht übertreiben. Insgesamt zieht sich die “Tangodanza” durchaus ehrenwert aus der Bredouille, angesichts einer leeren Tango-Agenda auf einer Glatze Locken drehen zu müssen. (*) Dazu mobilisiert sie bewährte Kräfte wie den Münchener DJ und Autor Olly Eyding. Er steuert gleich drei empfehlenswerte Doppelseiten über Angel Agostino und Angel Vargas bei – die beiden “Engel” der goldenen Tango-Zeiten. Das regt an, im eigenen CD-Regal oder wo auch immer, nach ihrer Musik zu stöbern. (S. 10ff.) Ich liebe übrigens den Gesang von Angel Vargas, selbst wenn ich bei Olli Eydings Zuschreibung “Glockenstimme” etwas anderes assoziiere als dies prägnant männliche Organ.
Gelungen finde ich das Portrait von Dana Frigoli, die auch immer wieder in Deutschland gastierte. Ihr Studio “DNI Tango” war jahrelang ein Anlaufpunkt für Tango-Aficonados aus aller Welt. Das allgegenwärtige Virus hat auch dieser Institution ein Ende gemacht. Dana hat alles verkauft. Sie siedelt mit Mann und Kind in die USA um. Nach Colorado. In Boulder leben und arbeiten bereits seit langem Nuevo-Legende Gustavo Naveira und seine Partnern Giselle Anne. https://www.bouldertangostudio.com Dana Frigoli will den Tango nicht aufgeben, aber: “Ich weiß …, dass ich Talente und Aufgaben habe, die mit dem Tanz einher gehen, dass er aber nicht mein primäres Ausdrucksmittel ist.” Seit zwei Jahren beschäftigt sie sich verstärkt mit dem Thema Sexualität und will ihre “Kenntnisse anderen Menschen nahebringen”. Ihr neues Projekt heißt “Heilige Sexualität” – was auch immer sich hinter diesem Label verbergen mag. Tango will sie aber weiter unterrichten. Live und online. (S. 20f.)
Wenn Michael Lavocah etwas veröffentlicht, ist das ein Pflichtthema für die “Tangodanza”. Leider geht es nicht um das schon lange angekündigte, aber immer noch immer nicht erschienene Buch über Francisco Canaro. Stattdessen bedient der Meister der goldigen Zeiten in unseren eher lausigen Zeiten ein neues akustische Format. Gemeinsam mit dem norwegischen Tango-DJ Dag Stenvoll plaudert er sich durch die Tango-Historie. Jahr für Jahr. Nicht nur TD-Autor Olli Eyding ist begeistert. Das Tango-Talk-Duo hat inzwischen eine stattliche Hörergemeinde gewonnen. Keine Angst, Traditionalisten sind hier vor den Zumutungen Astor Piazzollas sicher. Die beiden lassen es bei den Jahren 1927 bis 1955 bewenden. Unter dem Stichwort “News” sind alle Folgen auf Michael Lavocahs Site zu finden. https://www.milongapress.com/news/
Ich hab’s versucht. Aber mir fehlt die Geduld für die stundenlangen freundschaftlichen Gespräche unter Freunden. Ich bevorzuge ein Format, auf das die TD leider nur unter “Tango im Radio” in ihrem spärlich bestückten Terminkalender hinweist. Die Berliner Tangolehrer Daniela Feilcke-Wolff und Raimund Schlie https://www.facebook.com/danielayraimund führen uns “In 80 Tangos um die Welt”. In zehn bis 15 Minuten stellen sie jeweils ein Stück unter einem besonderen Gesichtspunkt vor. Die Lieder werden nur angespielt, aber die wichtigsten Textteile übersetzt. Wer mag, kann sie in den einschlägigen Streaming-Kanälen komplett hören. Das Paar macht auf seiner Reise sogar kurz beim Electrotango halt. Leider ist die Reise inzwischen zu Ende. Aber über ihre Site “Tangomundo” https://www.tangomundo.de oder direkt auf spotify sind alle Episoden nachzuhören.
Womit ich beim Thema Nr. Eins wäre – der Epoca Corona: Die vorige Ausgabe der “Tangodanza” habe ich nicht besprochen. Ein kleiner Protest wegen des Artikels von Stefan Senger ” Milongueros & Covid 19. Eine Gefahr für sich uns andere” (TD 1/21, S. 21). Ich fand die widerspruchslose Veröffentlichung des Textes unverantwortlich. Damit habe ich mich in meinem Blog auseinandergesetzt http://kroestango.de/aktuelles/die-verquerdenker-sind-unter-uns Diesmal habe ich die Beschäftigung mit dem Thema bewusst an den Schluss dieser Besprechung gesetzt.
Zunächst das Positive: Die Mehrheit der TD-Leserschaft neigt offenbar eher zu meiner Einschätzung: Von neun abgedruckten Zuschriften setzen sich sieben kritisch mit dem Text auseinander. Nur zwei begrüßen ihn. Nach meiner Erfahrung als Journalist veröffentlichen Redaktionen Leserbriefe zu derart kontroversen Themen in etwa proportional. 7:2 finde ich eine beruhigende Mehrheit.
In seiner aktuellen Stellungnahme “Worum es in meinem Artikel ging” (TD 2/1021, S. 76) bleibt der Autor bei seiner Meinung. Er bedauert nur, dass er mit seiner Argumentation nicht durchgedrungen sei, “weil viele Leser den Artikel unter dem Eindruck der hohen Infektionsdynamik als Statement eines ‘Corona-Verharmlosers’ missverstanden haben”. Was an dem Kernsatz seines Beitrags misszuverstehen ist, vermag ich bis heute nicht zu verstehen:
“Eine infektiöse Gefahr von nationaler Tragweite geht von Covid 19 ganz offensichtlich nicht aus”.
Und die Redaktion? Ihre Reaktion macht mich eher, nun ja: unfroh. Sie habe den Beitrag veröffentlicht, “weil wir für eine pluralistische Gesellschaft eintreten und einen breiten Diskurs befürworten”, heißt es unter dem Titel “Corona und die Tangoszene” (TD2/2021, S. 27). Die TD zieht sich auf die Position zurück, sie wolle die Spaltung in der Gesellschaft nicht forcieren. Außerdem sei es für sie als nur vierteljährig erscheinendes Periodikum “nicht einfach” auf die “schnelllebige Entwicklung stets aktuell zu reagieren”. Stimmt. Aber dass Sengers zentrale These – nicht nur aus meiner Sicht – gefährlicher Unfug ist, daran hat das Auf und Ab der Aktualität nichts geändert. Im Gegenteil.
Statt dies einzugestehen, raisoniert man in Bielefeld über eine “journalistische Blase der Leitmedien” und beklagt, dass “abweichende Meinungen und deren Vertreter weitgehend ignoriert, mitunter diffamiert und vom öffentlichen Diskurs im Wesentlichen ausgeschlossen” worden seien. Sorry, aber das ist genau der Sound der “Covidioten”.
Immerhin steht in der aktuellen Ausgabe ein Text mit der Überschrift “Das aktuelle Risiko beachten. Verantwortungsvoll Tango tanzen unter Covid 19.” Hatte Stefan Senger noch das Ziel eines “erfüllten Lebens” in den Mittelpunkt seines Strebens gestellt, steht es für Reinhart Göttert “erst an zweiter Stelle.” Vielmehr gehe es darum, “ein möglichst geringes Risiko einzugehen , mich selbst zu infizieren und – genauso wichtig – das Virus unwissentlich an andere weiterzugeben”.
Göttert spricht noch einmal aus, was wir alle wissen oder wissen sollten: In seiner engen Tanzhaltung “bietet ein Tango-Paar dem Virus optimale Übertragungsmöglichkeiten”. Mehr als Tanz in festen Paarungen ist nach seiner Ansicht auf absehbare Zeit nicht drin. Es sei denn, wir lassen uns auf zwei Einschränkungen ein, über die es in der Szene noch heftige Debatten geben dürfte: Man könnte erstens “den Zugang zur Milonga vom Nachweis einer Impfung abhängig machen” oder am Eingang einen negativen Antigen-Schnelltest fordern, der auch gleich anzubieten sei. Darüber einen “breiten Diskurs” anzustoßen, finde ich spannend. Über den Verlauf würde ich gern in der nächsten Ausgabe von “Europas größter Tangozeitschrift” lesen – selbst wenn die Redaktion sich erneut um eine eigene Meinung herumdrücken sollte.
Zum Schluss komme ich noch einmal auf das himmelstürmende Titelpaar zurück: Raquel und Ricardo Lang sind Profis. Aber sie gehen einen anderen Weg als viele Berufskollegen, die nun um ihre Existenz bangen. Sie haben keine Schule mit eigenen Räumen gegründet. “Wir wollen möglichst viel von unserer Kraft und Zeit für den Tanz nutzen”, sagen sie der “Tangodanza”. Deshalb unterrichten sie im “Bürgerhaus Stollwerck” oder geben Einzelstunden in der heimischen Wohnküche. “Eigentlich sollte man die Bestehenden Räume intensiver nutzen, so wie in Buenos Aires auch verschiedene Milongas in demselben Raum veranstaltet werden”, meint das Paar. Vorsichtig bringen Raquel und Ricardo ihren Minimalismus für die Zukunft der Tango-Szene ins Gespräch. Sie sehen darin “vielleicht ein Konzept für die Zeit nach der Pandemie.”
(*) Die Formulierung nimmt eine Sentenz des großen Spötters Karl Kraus auf, der einmal gesagt hat, ein Feuilleton zu schreiben, heiße auf einer Glatze Locken zu drehen.
2 Comments
Lieber Thomas ein beeindruckender Artikel handwerklich klar, zurückhaltend und doch mit bekennender Emphase. Respekt. Teile Deinen Post gerne in meiner Gruppe. Fridolin
Vielen Dank, lieber Fridolin. Verbreitung ist immer gut.