“Bei Durchsicht meiner Bücher” hat Erich Kästner sein erstes Buch genannt, das nach dem Ende des III. Reichs wieder erscheinen konnte – eine Sammlung von Gedichten aus den vier Bänden in der in der Weimarer Republik. Ich bin kein Kästner. Die Zeitläufte sind ganz andere. Aber ich find’ den Titel so schön. Deshalb rund um den (demnächst) 100. Text dieses Blogs eine kleine Auswahl aus “mYlonga” unter dem Motto: Bei Durchsicht meiner Werke… Ich hab’ sie im Original gelassen, einschließlich aller erkannten (und nicht erkannten) Irrtümer (ohne erkannte Rechtschreibfehler). Manchmal gibt’s ein paar Erläuterungen davor und Ergänzungen in den Artikeln, die ich durch Fettung kenntlich gemacht habe. Dies hier ist der mit Abstand erfolgreichste Text in meinem Blog: Mehr als 3800 Klicks bisher. Die Tänzerin, von der ich berichte, treffe ich immer weder auf Milongas. Ich tanze gern mit ihr. Aber dies Erlebnis erwies sich als unwiederholbar. Darüber gesprochen haben wir immer noch nicht.
Ich war irritiert. Ein so ein starkes, schnelles Herzklopfen bin ich nicht gewöhnt. Nach einer Runde Quickstep auf Benny Goodmans „Sing Sing Sing“ vielleicht… aber mitten in einem Tango der langsameren Sorte: Seltsam. Außerdem kontrahierte der Hohlmuskel, den ich da wahrnahm, auf der falschen Seite. Er pulsierte rechts von außen gegen meinen Brustkorb. Das Herz meiner Tanzpartnerin. Wie sich mein Herzschlag wohl für sie angefühlt haben mag?
Wir waren so mit einander im Einklang, dass uns für eine kleine Ewigkeit nichts trennen konnte. SIE blieb in meiner, nein, in unserer Umarmung – nach dem Ende des ersten Stücks, das wir gemeinsam tanzten und nach den weiteren. Wie lange? Keine Ahnung. Und die Musik? Ebenso wenig…. Cortinas gab es nicht an diesem Abend. Aber wahrscheinlich hätte auch ein Fetzen Benny Goodman uns nicht auseinander swingen können.
Irgendwann haben wir uns dann doch von einander gelöst und die Sache auf sich beruhen lassen. Vernunftbegabte Wesen. Konventionsgesteuert. Kein Wort über unser Erlebnis. Auch nicht beim Abschied. Über so etwa spricht man nicht, hat unserein(e) in jungen Jahren gelernt. Erst ein paar Tage später hab ich mich an ein Wort erinnert, das ziemlich gut beschreibt, was wir da miteinander geteilt haben: Einen Tangasmus (*)
Den Begriff hat die amerikanische Autorin und Bloggerin Sasha Cagen geprägt. Die begeisterte Tangotänzerin organisiert Reisen für Frauen nach Buenos Aires und verspricht ihnen ein authentisches Tanzerlebnis bis zum Höhepunkt – „Tangasm“ eben. Über die Seriosität des Unternehmens mag ich nicht rechten. Aber als Journalist hab’ ich etwas übrig für schlagzeilenträchtige Begriffe. Und dieser bringt plakativ auf den Punkt, was viele von uns vielleicht nicht sehr oft, aber doch immer wieder einmal erleben: Ein außergewöhnlich intensives Gefühl der Befriedigung, das ein Stück weit hinausgeht über die Freude an einem gelungenen Tanz. Wir spüren ein atemloses Glück, wie es sonst nur in weit intimerem Zusammenhang zu erleben ist.
Aber was ist es genau, das der Tango da mit uns macht? Ich bin nicht sicher, ob ich es exakt in Worte fassen kann. Zunächst finde ich die englische Unterscheidung zwischen „sensual“ und „sexual“ sehr hilfreich in diesem Zusammenhang – wenngleich nicht erschöpfend. Einerseits spricht sie die emotionale Seite des tänzerischen Geschehens an. Andererseits unterstreicht sie die Differenz zwischen einem einfühlsamen Tanz und der direkten geschlechtlichen Aktivität oder ihrer Anbahnung.
Dennoch finde ich die prononcierten Keuschheitsbekundungen bezüglich des Tango ein wenig verkrampft, die versuchen den „social Dance“ möglichst weit weg zu rücken von der Netzstrumpf/Dekollete´-Erotik des Bühnentanzes. Mich erinnert das an die verdrucksten Bemühungen einiger Lordsiegelbewahrer in Buenos Aires, die etwas unseriöse Entstehungsgeschichte unseres Tanzes zu säubern. Da wird mit großem Aufwand an Rhetorik und Recherche betont, der Tango sei nicht im Bordell entstanden, wie es immer wieder heiße. (***) Dabei bleibt unzweifelhaft, dass er aus eben jenen finsteren Vierteln stammt, wo der Puff gleich n e b e n der Tanzdiele zu finden war.
Dem konservative Blogger „Tangomentor“ gilt der sexuelle Aspekt gut katholisch als die „dunkle Seite des Tango“. Mit der (Ab-)Wertung „schmutzig“ ist er schnell bei der Hand. Da halte ich es lieber mit der fröhlichen Aufforderung von Melina Sedo: „Let’s talk about sex“. (***) Mir scheint ihr ein paar Jahre alter Befund nach wie vor aktuell: Sex ist eins der „offensichtlichsten und am meisten gemiedenen Themen“ in der Tangoszene. Wir werden spätestens daran erinnert, wenn wir Menschen, die zum ersten Mal eine Milonga besuchen, erklären müssen, dass die eng aneinander geschmiegten Paare auf den Pista gaaar nichts anderes im Sinn haben als… Tanzen.
Mit den Worten des Uralt-Bloggers Cassiel hat sich das social Dancing in den letzten Jahren vom „bewegungsfocussierten“ zum „umarmungsfokussierten“ Tango entwickelt. Doch gerade diese neoklassische Wende zur engen Umarmung auf der Pista bringt den Tango für die TänzerInnen nahe an George Bernard Shaws viel gescholtene Sentenz von der vertikalen Befriedigung eines horizontalen Bedürfnisses – weit näher jedenfalls als die leichtgeschürzte Klischeeakrobatik des Bühnentango oder die raumgreifenden Figuren des Tango Nuevo. (****) Auf den Punkt gefragt: In welchem anderen Tanz kommen die Paare einander so nahe, dass sie unmittelbar fühlen könnten, wie heftig das Herz der Partnerin/des Partners pocht?
Der „Klammerblues“ unserer Jugendjahre blieb der Freundin/dem Freund vorbehalten. Beim Tango gehen wir auch mit Wildfremden in den Clinch. Die Annäherungsqualität der Tanz-Partner erinnert an jene „Kuschelparties“, wie sie etlichen Großstädten hierzulande gang und gäbe sind. Da treffen sich Menschen verschiedenen Geschlechts zum Austausch von Zärtlichkeiten unter Aussparung der sekundären und primären Geschlechtsmerkmale. Kein Sex. Keine Verbindlichkeit – aber mit jenem Hang zu esoterischer Überhöhung, den wir auch aus Teilen der Tango-Community kennen. Die Fülle der Warnhinweise auf der Homepage einer geschlossenen Facebook-Gruppe in Berlin deutet mir die Schwierigkeiten an, das Unterfangen von Grenzüberschreitungen frei zu halten. (*****)
Im Tango haben wir es einfacher – weil der Kuschelkonsum nur als Kollateraleffekt des Tanzens daherkommt. Offiziell jedenfalls. Obendrein helfen ein paar Regeln und Gebräuche bei der Einhegung überschießender Bedürfnisse: Allen voran die Organisation der Musik in Abschnitte (Tandas) von drei bis vier Stücken, die schicklicherweise mit der/demselben Partnerln getanzt werden. Dies Gebot sorgt für die emotionale Abkühlung allzu heiß getanzter Paare. Andererseits potenziert das tänzerische Promiskuitätsprinzip die (Sehn-)Sucht der Beteiligten, in den Armen der/des nächsten einen womöglich noch intensiveren Tripp zu erleben.
Intellektuell klingt die plakative Unterscheidung zwischen „sensual“ und „sexual“ ziemlich verführerisch. In der Praxis sind die beiden Sphären allerdings längst nicht so leicht zu trennen wie in der Welt der Begriffe. Im Gegenteil. Wir bewegen uns zwischen ihnen in einer steten, manchmal etwas wackeligen Gratwanderung. Und mal ehrlich: Ist es nicht gerade dieser Balanceakt, der Kuschelparties wie Milongas so im Wortsinn: reizvoll macht? Mich erinnert das einschlägige Gefühl an den Blick vom Balkon eines sehr hohen Stockwerks. Ich hab nicht die Absicht zu springen. Aber Kopf und Oberkörper so weit wie möglich hinaus zu lehnen, erzeugt tief in der Magengegend einen eigenartigen Sog, der sich tendenziell auf den gesamten Körper ausbreitet. Genau diesen Schwindel erregenden Extrakick aber kann ein Tanz mit dem eignen Partner, der eigenen Partnerin nur in den seltensten Fällen bieten. Womit ich wieder bei der Wahrnehmung und lnterpretation weiblicher (oder männlicher) Herztöne wäre…
PS: Die Frau, mit der ich es liebe zu leben (und zu tanzen), ist die erste Leserin meiner Texte
(*) https://www.huffingtonpost.com/sasha-cagen/tangasm-vs-orgasm-or-is-t_b_6413098.html?guccounter=1
Gerhard Riedl bescheinigt mir, dass ich den Text kurz nach Erscheinen gefunden habe. Ich kann mich nicht daran erinnern, auch nicht an mein damaliges Urteil. Er hat sich über den Tex lustig darüber gemacht. http://milongafuehrer.blogspot.de
(**) http://www.todotango.com/english/history/chronicle/103/Reflections-about-the-origins-of-tango/
(***) http://tangomentor.com/dark-side-of-tango/; https://melinas-two-cent.blogspot.de/2011/04/lets-talk-about-sex.html; Melina Sedo, Geschlechterrollen im argentinischen Tango, Diplomarbeit an der Universität des Saarlandes 2003.
(****) http://tangoplauderei.blogspot.de/2011/06/zum-gefuhlten-widerspruch-zwischen.html; „Tango is a vertical expression of a horizontal desire.“ http://tangoplauderei.blogspot.de/p/zitate.html. Eine Primärquelle für diesen Satz hab ich nirgends im Internet gefunden.
(*****) Siehe die Facebook-Gruppe „Kuscheln, Fühlen, Spüren, Berühren… für Körper, Geist und Seele“4