Ich glaub‘, ich bin ein Huhn. Unsere gefiederten Eier- und Fleischlieferanten, sind zwar in der Lage bis zu 250 ArtgenossInnen nach Freund und Feind zu unterscheiden. Aber stressarm wohlfühlen können sie sich nur in Gruppen, deren Größe die 50 nicht überschreitet. Höchstens. An diese Lesefrucht aus dem Internet hat mich der Besuch meines ersten Tangofestivals erinnert. Weder die Chance, als Freilandgockel unter 250 und mehr aufgeplusterten Hennen wählen zu dürfen, noch die Aussicht, mir dieselbe Wiese, pardon: Pista, mit der entsprechen Zahl von Paaren zu teilen, löst in mir Wohlbehagen aus. Und die Praxis schon gar nicht. Wenn ich dran denke, dass die goldigen Altmeister im Karneval für 1000 und mehr TänzerInnen aufgespielt haben… Ich glaub‘, ich hätte auch damals die Homemilonga in meinem Barrio bevorzugt – selbst auf die Gefahr hin, dann Anibal Troilo oder Osvaldo Pugliese zu verpassen. Und das bei meiner Vorliebe für Livemusik.
Die Band war dann auch das aus meiner Sicht Beste an meiner Festival-Premiere. Die vier Jungs von „Solo Tango“ aus Moskau haben sich zu Recht als Stars im internationalen Tango-Zirkus etabliert. Deshalb können sie es sich leisten, ihren Einstieg vor bestuhltem Saal mit einem Konzert voller (auch für meine Begriffe) zum Tanzen nicht geeigneter Musik zu geben. Nach einem live begleiteten Show-Auftritt schaltete die Mehrheit der Anwesenden umstandslos in den Milonga-Modus aus der Konserve. Mir fällt das schwer. Zu intensiv hallt in mir die Energie des lebendigen Hörerlebnisses nach. Da hilft auch die energiereichste Computerdatei nichts. (**)
Aber davor und danach gab es zwei Veranstaltungen, die mich durchaus gepackt haben. Mindestens halbwegs. Am ersten Abend hatte der Veranstalter in der Milonga seiner Mitveranstalterin aufgelegt und das übliche Edolei mit einer kleinen Dosis „otros ritmos“ aufgelockert. Das hebt umgehend meine Laune. Aber das Konserven-Highlight fand für mich nicht irgendwann in tiefer Tangonacht statt, sondern an einem hellen Nachmittag. Es legte auf: Michael Lavocah, der Bücher schreibende Tango-Guru aus Norwich in England. ( ***)
Enzyklopädisches Wissen, gepaart mit seiner Autorität als DER Experte in Sachen klassischen Tangos, erlaubt es ihm, sein Publikum immer wieder einmal zu überraschen, ohne gleich auf Skepsis oder Wderstand zu stoßen. Er tandisierte nicht die immer gleichen Hits in den immer gleichen Kombinationen. In ungewohnter Umgebung klingt dann auch ein abgenudelter Gassenhauer erstaunlich frisch, finde ich. Obendrein nimmt Michael sich heraus, ziemlich bis total unbekannte Titel unter die Tänzer zu werfen. Er experimentiert auf offener Bühne. Da kann es sogar vorkommen, dass er irgendwann vor sich hin murmelt: “That didn’t work!” Das hat nicht funktioniert. Insgesamt hat’s dennoch funktioniert. Aber vielleicht haben die Festveranstalter Michael L. nicht zufällig am Nachmittag musikalisieren lassen – weil sie den Tanzenden im prall gefüllten großen Saal am Abend keine Experimente zumuten wollen.
Die hatten ohnehin genug zu tun mit der PartnerInnenwahl und der Suche nach einem Plätzlein, um mit der/dem Gefundenen zu tanzen. Das ist die Gelegenheit, wo ich mich wie das eingangs erwähnte Huhn fühle, wenn es in in einem unübersichtlichen Riesenacker zwischen zu vielen Fremden scharren muss. Im Lauf der Jahre hab ich es gelernt. Aber ich mag es immer noch nicht. Mal abgesehen vom Gewusel auf der Tanzfläche, wie rondaisiert es auch sein mag – schon die Partnerinnenwahl geht mir auf den Wecker. Ich erwische mich dann dabei, dass ich heimlich Verständnis für jene habe, die lieber auf den bewährten Pool der Bekannten zurückgreifen. Mag sein, es ist falsch: Aber aus dieser Erfahrung extrapoliere ich die Unterstellung: Hier geht’s (mindestens nicht nur) um die souveräne Wahl der Besten, sondern um die Bewältigung der eigenen Unsicherheit in bewährten Armen.
Zur Klarstellung: Ich will hier keine Kritik an den Organisatoren des Dresdener Tangofests üben. Dagegen spricht auch der Spaß, den die meisten Teilnehmerlnnen hatten – mit Ausnahme jener Frauen, die nicht so oft zum Tanzen kamen, wie sie wohl gehofft haben. Aber Gender-Management ist im Format eines solchen Festivals auch andernorts nicht vorgesehen. Meine Frau und ich hatten es schlicht einmal ausprobieren wollen und mussten feststellen: Es ist nichts für uns – was die Zahl angeht, vor allem aber die Druckbetankung mit Musik aus goldigen Tangozeiten. Wir waren freiwillig da. Deshalb können wir unseren Fehlgriff niemandem vorwerfen. Vor allem nicht Anja Treß und Armin Krieger, die sich so viel Mühe mit der Veranstaltung gegeben haben. Ich begründe hier nur, warum mir so ein Festival grundsätzlich nicht liegt. So hatte ich vor einiger Zeit auch geschildert, warum wir gern Tangourlaube buchen. (***)
Wenn ich mich dann doch ins Offene wage, erwische ich mich bei einem Macho-Gehabe, von dem ich normalerweise behaupte, dass ich es ablehne. Auf der ersten Stufe der Suche beurteile auch ich dann die Aspiratinnen zunächst nach Alter, Gewicht und Beautykoeffizient. Das dient meinem Wohlbefinden schon deshalb nicht unbedingt, weil es die Erfolgsaussichten eines älteren nicht eben großen, nicht eben leichten Herrn nicht unmittelbar erhöht. Und schon bin ich mitten im Cabeceo-Stress: Hat sie mich gesehen, hat sie mich nicht gesehen oder wollte sie mich nicht sehen?
Ich mag keine Mutmaßungen darüber anstellen, wie sich die Ladies fühlen, wenn sie sich oft so verhalten, wie sich sich eben verhalten, um einen Tänzer zu ergattern. Es gab gerade eine interessante Debatte über einen diesbezüglichen Post auf Facebook. (****) Vor diesem Hintergrund hab ich eine Frau aufgefordert, die einen Korb von einem Mann bekommen hatte, dem gegenüber sie initiativ geworden war. Wir haben nicht überragend, aber doch annehmbar miteinander getanzt. Dann hab’ ich meinen entscheidenden Fehler gemacht und zu erkennen gegeben, dass ich ihre “Schmach” beobachtet habe. Als solche empfand sie es offenbar, denn ein Gespräch darüber war nicht möglich. Ob es durch ihr Hirn ratterte: Wer weiß wie viele das noch mitbekommen haben? Keine Ahnung. Meine Aufforderung roch für sie nun anscheinend streng nach entwürdigendem Almosen. Dabei hatte ich über die aus meiner Sicht bescheuerte Situation reden wollen… vergeigt.
Für mein Empfinden war die Situation am Nachmittag entspannter: Weil das Geschlechterverhältnis ausgewogener war, weil die Stimmung der Tanzenden tagsüber ohnehin lockerer ist, weil’s eine andere Musik gab – ich weiß es nicht. Für eine genauere Analyse hätte ich mein Tanzvergnügen noch weiter hinter den soziologischen Blick zurücktreten lassen müssen – und (ich geb’s zu) ich hätte an mehr Veranstaltungen dieses Festivals teilnehmen müssen. Aber so wenig ich daheim Freude daran habe, mehrere klassische Milongas hinter einander zu besuchen, so wenig mag ich es außerhalb in einem noch gedrängteren Zeitraum.
So fand der Tango-Höhepunkt dieser Tage nicht im Rahmen eines sorgfältig und liebevoll organisierten Tangofestes statt (siehe oben), das meiner Frau und mir ein paar schöne touristische Tage in Dresden eingetragen hat. Nein, am besten hat es uns am Sonntag drauf daheim im Berliner “Tangoloft” gefallen – bei Musik, die sich nicht auf Hervorbringungen aus goldigen Tangozeiten beschränkt, in einer verträglichen Gruppengröße und in einer sozialen Atmosphäre, der v e r b i n d l i c h e Aufforderungsrituale fremd sind. Hier kann (nicht nur meine) Frau selbstverständlich initiativ werden, ohne auf unsere codifizierte Gockelei warten zu müssen. Ich mag niemandem vorschreiben, was er/sie schön zu finden hat, aber mir sagt es so erheblich mehr zu. Und der Liebsten auch…
(*) Ich hab diesen Text mit einigen der “offiziellen” Videos aus Dresden illustriert, die im immer wieder empfehlenswerten Portal “030 Tango” veröffentlicht wurden. Die für mich interessantesten Instrumentalstücke aus dem Konzertteil, Eigenkompositionen von Solo Tango und Kompositionen von von Astor Piazzolla, wurden leider nicht dokumentiert.
(**) Siehe dazu auch meinen Text: http://kroestango.de/aktuelles/lieber-lebend/
(***) Er stellte in Dresden die deutsche Übersetzung seines Buches über Carlos Di Sarli vor. Erschienen ist es in der Reihe “Tango-Meister. Milongapress 2019, 284 S.
(****) http://kroestango.de/aktuelles/warum-mir-tangourlaub-lieber-ist-als-marathon/
(*****) http://kroestango.de/aktuelles/von-last-und-lust-des-sitzenbleibens-2/
12 Comments
😎 Der Hahn von nebenan kräht dir ein herzliches “Yeahhh” zu. Das kann ich sooo gut nachvollziehen und mich frohgemut in dem Glück suhlen, hier in Berlin wirklich in einem Sonnenzirkus der tangösen Vielfalt mit kleinen, aber eben auch ganz eigenartig feinen Milongas zu leben !!!
🤩🧜♀️💃🕺🧜♂️🤩
Tja, lieber Thomas, ich kann Deine Eindrücke sehr gut nachvollziehen. Drum meide ich Großevents – auch wenn ich dann auf die eine oder andere Live-Musik verzichten muss. Und wie Du ja schön beschrieben hast: Am besten funktioniert der Cabeceo in der Theorie…
Tangofestivals besuche ich schon lange nicht mehr. Auf denen, die ich besucht habe, gab es selten etwas wirklich Neues zu sehen. Dafür war die Hoch-Nasen-Quote in der Regel überdurchschnittlich und stand in einem negativen Verhältnis zum durchschnittlichen Tanzniveau. Als Berliner Tanguero bekomme ich obendrein über kurz oder lang zuhause fast alles geboten, was weltweit so auf Festivals an Performern kreucht und fleucht, ohne mich mehrtägig auf überlaufenden Dancefloors hochpreisig zu ärgern.
Ja lieber Thomas,
wenn Du so auf Tango Urlaub und kleine familiäre Milongas stehst, musst Du unbedingt mal nach La Rogaia kommen: – ) und mit zu den Milongas in Perugia gehen. Allerdings ist die Musik dort, ich wage es kaum zu sagen, meistens eher traditionell.
Thomas, wie viele Teilnehmer hat denn das hier im März hoch gelobte Tangofestival in der Komischen Oper?
Aber für mich hat letztes Jahr ein großes Festival auch gereicht, keine Frage.
man kann sich natürlich in seiner stadt gemütlich eingraben. man kennt dort wer wie tanzt. manchmal kommen auch tänzer/innen von außerhalb. das war es dann aber auch schon. möchtest du dich weiterentwickeln, auch mit sehr guten tänzer/innen tanzen, dann hast du auf manchen festivals eine sehr große auswahl. ich finde das toll.
zu “Dann hab’ ich meinen entscheidenden Fehler gemacht und zu erkennen gegeben, dass ich ihre “Schmach” beobachtet habe.” ich glaube du hättest in dem moment fast nicht schlimmeres machen können. vielleicht dachte sie bis zu diesem satz, dass du wirklich mit ihr tanzen wolltest, und nun dachte sie möglichweise sie, es war nur aus mitleid.
Zu beiden Punkten Volltreffer 🙂
Lieber Thomas
Festivals sind stets ein Abenteuer. Du stösst auf unbekannte Wesen. Es kann positiv überraschen oder auch mal in die Binsen gehen. Bitte kommentiere NIEMALS wieder eine Aufforderung, wie Du eben geschildert. Solche Körbe sind für unsere lieben Damen eine Spur unangenehmer als für uns (wenngleich auch wir Männer geliebt werden möchten). Gehst Du an einem Marathon wirds wirklich stressig. DAS was Du eben beschrieben hast, ist im Vergleich ein Kindergeburtstag.
An einem Marathon muss man meistens gut vernetzt sein, relativ jung sein, die richtigen Klamotten (z.B. vom DNI in BsAs) tragen, stets etwas ernst bleiben (andersrum gesagt….spassbefreite Gesellschaft), klinisch in der Ronda tanzen und bleiben….
“Solo Tango” gehören zu den wohl fünf weltbesten kleinen Orchestern. Ich werde sie bald wieder am Ostertango in Basel erleben. Letztes Jahr hatten sie zwei Mann Verstärkung. Sublime! Zwischendurch war eine Krise, weil ihr ehemaliger Bandoneonist vor ca. 3 Jahren entschied (ich glaube aus fam. Gründen) in Moskau zu bleiben. Dort spielt er allerdings in einer neuen, ebenfalls brillianten Formation. Ich sah ihn Oktober 2017 am wunderschönen Tango-Congress in Moskau, den ich allen Mitlesenden nur empfehlen kann. Sergey, der Organisator ist ein effektiver Organisator, ein toller Tänzer und ein wunderbarer Mensch, der auch im grössten Stress die Ruhe bewahrt. Die Gastlehrer aus Argentinien setzten die Messlatte hoch, da Russinnen und Russen diesbezüglich positiv ehrgeizig sind. Die Nachmittags- und Abendmilongas waren ein Traum. Russen haben ein gutes Gefühl für den Abrazo wie traditionell die Lateiner auch. Die Frauen haben Klasse und die meisten Männer tanzen einfach elegant.
https://www.youtube.com/watch?v=rUN_Z4c5xQg
Ich fand auf die Schnelle noch folgenden Video, bei welchem am Ende die Aurora Lubiz zu sehen ist (jene mit dem kurzen Haarschnitt). Auch sie war zu Gast und seitdem liess ich mich von ihr in Buenos Aires schon zwei mal intenisv “piesacken” in der neuen Tanzschule an der Av. Sarmiento.
https://www.youtube.com/watch?v=jkGB0FkBLI8
Warum also an Festivals gehen? Weil man erstmals neue Ortschaften und Leute kennen lernen darf. Was für ein schönes Geschenk.
Weil häufig viele unerwartete Dinge geschehen, die sich als heitere Anekdoten offenbaren. Ich könnt just von diesem Festival erzählen, vom Typen, dessen Vater in Genf lebt, vom Armenischen Taxifahrer, vom Jesidischen Käseverkäufer. Alles Typen, mit denen ich mich auf Anhieb gut verstand. Ich könnte erzählen von der schönen, wohlgeformten jungen Frau im goldigen Lamé (wie aus einem James Bond Streifen), die mich anlächelte und die mir während unserer Milonga erklärte, dass sie die Schweiz kenne, weil sie mittlerweile im Stab der Russischen Snowborderinnen unterwegs wäre. Russische Frauen halten sich gerne am Cabeceo und warten auch immer schön artig, bis der Kavalier vor ihr steht.
Und so stand ich mit meinem knappen 1.72 vor einer hübschen, jungen Russin, die sich nun erhebte und zur 1.85m grossen Amazone (ohne Absätze) mutierte. Ich bin zwar eine bekennende Rampensau…aber da wurde ich auch etwas unsicher. Etwas offener geführt, schaffte ich die Tanda und wir beide hatten ein listiges Lächeln im Gesicht.
Ich könnte vom jüngeren Bruder von Sergey sprechen, er ist etwa 30 Jahre jung, mit dem ich auch gerne ein Bier trinken würde, dessen englisch aber dermassen unterirdisch war, dass jede Kommunikation sehr schwierig wurde.
Festivals, mehr den Marathons, sind kleine Abenteuer. Ich nannte lediglich wenige Episoden eines einzigen Festivals in einem Land, in einer Stadt, ohne Tango ich kaum besucht hätte. Dem Tango sei Dank, durfte ich in kurzer Zeit so viele wundervolle Menschen und Kulturen erleben und die Gewissheit erfahren, wie ähnlich wir doch alle ticken auf dieser kleinen, schönen Welt, just in Zeiten, in denen uns falsche Politiker Feindbilder an die Wand malen. Mein Denken und mein Herz wurde und wird just durch den Tango (nicht nur) befruchtet und gedüngt.
Das Leben ist so verdammt kurz. Was gibt es Schöneres als auf fremden Äckern zu scharren, zu picken, zu gackern, zu krähen, still zu sein, zuzuhören, zu fühlen, zu bewegen, zu lachen und zu lieben?
Nun war ich schon fünf Mal in Buenos Aires und gab nicht mal so viel Geld aus. Jedes Mal lerne ich neue Menschen kennen und jedes Mal treffe ich auf bekannte Gesichter und teilweise Freunde.
Ich kann nur für mich selber sprechen, aber ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich mich vor Jahren dem Tango zuwandte und mich wider Erwarten auf ein Lebensabenteuer einliess, auch wenn ich dann und wann schimpfe und poltere. Das war wohl eine der besten Entscheidungen meines Lebens.
Ihr Berliner seid ja ein so verrücktes Völkchen, das jeder aufmerksame Besucher lieben muss. Als ich meinen Silvester 16/17 in der Tangoloft verbrachte (statt am Berliner Marathon, von dem ich wegen einer sehr starken Erkältung fern blieb), fühlte ich mich als Italo-Schweizer unter Fremden (meine Kollegin aus der Schweiz entschwand irgendwann zum Marathon) wie zuhause.
An dieser Stelle möchte ich offtopic noch folgendes anfügen: “Ihr Deutschen seid tolle Gastgeber, egal ob in München, Stuttgart, Saarbrücken, Bielefeld oder Berlin”
Hühner können kaum fliegen, die meisten Vögel schon. Wir Menschen können fliegen real mit Flugzeugen aber auch mit unserer Haltung. Fliegen wir!
https://www.youtube.com/watch?v=HmQq6yLe2ww
schön beschrieben roberto! ich denke viele besucher solcher events machen ähnlich tolle erfahrungen. denn warum sonst sollten sie sie immer wieder besuchen? aber es gibt auch einige die dort nicht glücklich werden. ich denke das liegt weniger an den events als an deren vorstellungen und vorlieben. so hat jeder die möglichkeit das für ihn passende zu finden und seine eigenen grenzen zu erfahren. letzteres kann man für weiterentwicklungen oder für ablehnung nutzen.
eine frage zu deiner unterscheidung zwischen festivals und marathons. ist für dich da so ein großer unterschied? ich komme seit ein paar jahren fast nur noch dazu neotango marathons zu besuchen. dort erlebe ich was du oben von festivals berichtest. mag sein, dass sich “traditionelle” von neotango marathons unterscheiden.
Man könne sich “in seiner Stadt gemütlich eingraben”, schreibst Du, lieber Andreas Lange. Das mag für Lüneburg, Euskirchen oder sogar Pörnbach (wie komm’ ich bloß auf diese Auswahl?) gelten… in Berlin isses mit dem Eingraben a bisserl schwierig. Dazu bekommt der tangolesische Maulwurf hier doch zu viel Besuch. Die Stadt ist fast ganzjährig voll von TangotouristInnen jeglichen Formats und fast jeder Nationalität. Einige Russinnen, aber auch Britinnen oder Skandinavierinnen (um nur einige zu nennen) sind mir in bester Erinnerung. Zwar würde ich die Liebenswürdigkeit der Eingeborenen in Berlin nicht so überschwänglich preisen wie Du Roberto, aber ich stimme Arnold Voss und Tom Opitz in ihrem Befund “tangöser Vielfalt” zu. Hier bekome ich in der Tat über kurz oder lang fast alles geboten, “was weltweit auf Festivals an Performern kreucht und fleucht” – “Solo Tango” sogar alle Jahre wieder. Aurora Lubiz hab ich übrigens bei zauberhaften KLEINbahn-Festival im ostwestfälischen Enger erlebt. Aber das nur nebenbei. Ich verlasse “meine” Stadt mit einiger Regelmäßigkeit – aber eben zum Besuch anderer Formate, nach dem Motto “small is beautifull”, wie sie offenbar auch Du schätzt, Gerhard Riedl. Bei unserem jüngsten Tango-Urlaub auf Mallorca kannte ich zum Beispiel kein einziges Paar. Eine “Fremdheitsquote”, mit der das Dresdener Tangofest bei weitem nicht mithalten konnte. Eh’ ich’s vergesse: Die Villa Rogaia stand schon vor Deiner charmant unauffälligen Eigenwerbung im Katalog meiner Möglichkeiten (obwohl ich um das musikalische “Problem” weiß), lieber Wolfgang Sandt. Zum Schluss noch eine grundsätzliche Bemerkung: Für meine Frau und mich gibt es noch viele weite Felder zum Scharren – außerhalb des Tango. Auch da lassen sich “neue Ortschaften und Leute” kennen lernen.
Lieber Thomas, Dein Gefühl eines Huhns (eigentlich ja eher Hahn in meinem Falle) in einem riesigen, aber übervollen Geläuf kann ich aus eigenem Erleben nachvollziehen, bzw. bestätigen. Meine bisherigen Festivalteilnahmen beschränken sich auf vier Veranstaltungen (2x Dresden, 1x Basel, 1x Spiekeroog) und bei allen musste ich eine ähnliche Erfahrung machen, nämlich die, dass es trotz drangvollem Überangebot an Tänzerinnen schwierig ist, wirklich aufzufordern und zum Tanzen zu kommen. (Cabeceo funktioniert praktisch aufgrund der Größe der Säle nicht). Das lag zum einen daran, dass auffallend viele Gruppen aus irgendweilchen Tangoclubs einen ganzen Tisch oder Tischbereich in Beschlag nahmen, so dass es fast unmöglich war eine Dame vom fünften Stuhl dahinten aufzufordern, zumal die Gruppenteilnehmer eher auch untereinander tanzten. Zum anderen sind diese übergroßen Hotel- oder sonstigen Ballsäle dermassen unbersichtlich, dass man zwar ständig auf der Suche sein kann, ohne wirklich fündig zu werden. Am besten ist es wirklich, man reist mit eigenem Partner an, wie du es ja auch gemacht hast. Und kommt man dann tatsächlich, bekannt oder fremd, wirklich mal zum Tanzen, ist man ringsrum eingepresst in eine rempelnde Tanzmeute, dass bestenfalls ebenfalls rempelnd ein Schritt vorwärts und einer seitwärts möglich ist, was man dann eher nicht Tango Argentino nennen kann. Man kann nur das tanzen was einem die hautnahen Paare ringsum zulassen, aber nicht das, was man eigentlich machen möchte. Gerade hier ist mir das Dresdner Festival in bester (will sagen in schlechtester) Erinnerung. Der Saal war schon brechend voll, aber man ließ rein, man ließ rein, man ließ rein und die Kasse klingelte. Ein bekanntes dort anwesendes Paar berichtete mir, dass es erst sowieso nach 24 Uhr gekommen ist, um dann ab 2 Uhr recht gut zu tanzen… Also zusammengefasst, Tangofestival ja, wenn man dabei sein will (notfalls auch rumstehend), nein, wenn man tatsächlich tanzen will.
Danke für Deine offene Stellungnahme lieber Jürgen, sie kam etwas zu spät für meine Sammelantwort. Es ist schon irgendwie beruhigend zu lesen, dass ich mit meiner “Massophobie” nicht allein bin. Das Klingeln der Kasse würd’ ich jetzt nicht so kritisieren. Soweit ich es mitbekommen habe, schrammen derlei Veranstaltungen ehe am Defizit vorbei. Den Preis in Dresden fand ich außerdem nicht überhöht. Es hat mich ja niemand gezwungen. Ich wollte es kennenlernen. Jetzt kenn’ ich’s.