Meine Tätigkeit als halbwegs regelmäßiger Tango-Blogger habe ich vor einiger Zeit bis auf Weiteres eingestellt. http://kroestango.de/aktuelles/alles-hat-seine-zeit-2/ Hier werden aber künftig ab und zu Texte zum Thema erscheinen – zum Beispiel, wenn ich auf ein interessantes Buch gestoßen bin. Ansonsten erscheinen meine Texte in meinem neuen Blog. http://kroesflanaden.de
Nein, ein strahlender Held ist Oskar nicht, die Hauptfigur in Heinrich von der Haars neuem Roman „Rikscha Tango“. Eher ein Ritter von der traurigen Gestalt. Mehr schlecht als recht verdient er seinen Lebensunterhalt als fremdenführender Fahrradkutscher. Sein Herz macht ihm kaum weniger Probleme als der rostige Personen-Radlader, mit dem er durch Berlin zuckelt.
Am Beginn seines siebenten Lebensjahrzehnts haust er im kargen Chaos eines Junggesellen-Appartements. Zum Glück findet er immer jemanden, den er anpumpen kann. Meist ist der jemand weiblichen Geschlechts. Nach einer gescheiterten Ehe klappt es zwar nicht so recht mit einer festen Beziehung. Aber Oskar bewegt sich in einer Szene, die eine große Auswahl an mehr oder weniger flüchtigen Begegnungen der Geschlechter bietet. Er ist ein leidenschaftlicher Tangotänzer. Und ein guter obendrein.
Heinrich von der Haar, Rikscha Tango, Oskars fünfte Dimension, Hamburg 2021, 160 S.
Aber vor allem ist der Protagonist dieser Geschichte ein Mann. Heinrich von der Haar führt uns nicht nur in ausgewählte Berliner Milongas, deren Sozialgefüge sich kaum von einschlägigen Veranstaltungen in andren deutschen (Groß-)Städten unterscheiden dürfte. Der Autor nimmt uns mit auf eine Reise ins Innenleben des angeblich starken Geschlechts. Haarklein lässt er uns teilhaben an seinen testosterongesteuerten Phantasien. Tango hat nichts mit Sex zu tun? Ach, was!
Oskar hat genug Auswahl in der passenden Altersgruppe auf der anderen Seite der Gendergrenze. Aber er muss sich ausgerechnet in eine Schönheit vergucken, die seine Tochter sein könnte. Das Ende ist absehbar. Denn durch das Einziehen des Bauches und eine Kollektion elaborierter Tanzschritte ist die Differenz der Jahrzehnte nicht zu überbrücken. Doch nach einer Milonga wähnt er sich erst einmal am Ziel. In ihrem Schlafzimmer, genauer gesagt: Auf einem weißen Fell am Boden. So viel Kitsch muss sein. Und später noch ein bisschen mehr.
Schnell hat der möchte-gern-stürmische Liebhaber der Angeschmachteten die Initiative überlasen: „Nun komm!“ Der folgende Geschlechtsakt ist Höhepunkt und Ende ihrer Beziehung zugleich. Anschließend löschte sie das Licht, heißt es sachlich, „gab ihm einen Kuss und drehte ihm den Rücken zu“. Schon den verabredeten Tango-Urlaub auf einer Mittelmeer-Insel macht Madame mit einem anderen Mann.
Aber ein wenig Mitleid hat Heinrich von der Haar dann doch mit seinem Nicht-Helden. Statt des großen schenkt er ihm ein kleines Happyend – mit einer der Damen aus seinem Berliner Tango-Harem. Dafür nimmt er sogar „Jojo“ in Kauf. Ihr Enkelkind. Plötzlich ist es ihr Haar an seinen Lippen, das ihn elektrisiert. Und es freut ihn, dass die Großmutter in seinen Armen schnurrt: „Ich möchte noch an vielen Samstagen mit dir tanzen.“
Heinrich von der Haar ist ein routinierter und ökonomischer Erzähler. Er weiß, seine Pointen zu setzen und nicht zuletzt: Er weiß, wann Schluss sein sollte. Seinen Weg aus einer schweren Kindheit im Münsterland schildert er in drei dicken Bänden. Für die – aus meiner Sicht – tragikomische Geschichte des fiktiven Tango-Tänzers Oskar genügen ihm 150 Seiten. Ich hab’ sie gern gelesen. Nur eine Frage ist geblieben: Wenn wir Männer wirklich solch berechenbar schwanzgesteuerte Trottel sind – warum fallen die Frauen immer wieder auf uns herein?
In der Lesung zur Vorstellung seines Buches in Berlin hat der Autor sich übrigens auf Passagen beschränkt, in denen er Tangoszenen schildert. Wahrscheinlich wollte er niemanden der anwesenden Tänzerinnen und Tänzer aus der einschlägigen Alterskohorte verstören. Falls sich jemand über die – jedenfalls für Milongas – ungewöhnliche Musik zur Einleitung dieses Textes wundern sollte: Heinrich von der Haar zitiert es in seinem Buch gleich mehrfach. Wie ein Leitmotiv. Alle Tangos, die er erwähnt, hat er in einer Liste am Schluss alphabetisch zusammengestellt
PS: Da ich diesen Blog nur noch gelegentlich bestücke, ist mir Gerhard Riedl (zusammen mit seiner Ehefrau) mit seiner Rezension zuvor gekommen. http://milongafuehrer.blogspot.com/2021/06/rikscha-tango.html
Heinrich von der Haars Nontango-Bücher:
Mein Himmel brennt, Die Geschichte einer Kindheit im Münsterland, Zürich 2010, 530 S.
Der Idealist, Die Geschichte eine jungen Münsterländers in Berlin, Hamburg 2013, 320 S.
Kapuzenjunge: Die Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung im Berlin der 90er Jahre, Hamburg 2019, 528 S.
1 Comment
Lieber Thomas eine differenzierte Kommentierung des Buches, das ich aus selber gelesen habe. Ja, Heinrich beschreibt sachkundig Aspekte der Tangoscene. Zum Teil erscheint es mir jedoch als Karrikatur. Und wo hört Beschreibung dessen was angeblich ist auf und wo fängt Projektion eigener Phantasien in die Tangoscene an. Ich bin mir da bei dem Text nicht so ganz sicher. Ich erlebe die Tangscene nicht so aufgedonnert und aufgeladen wie sie von Heinrich langsam sich wiederholend beschrieben wird. Und dann gibt es mir, wo angeblich Männer und Frauen “beschrieben” werden zu vielen Zuweisungen und vielleicht sogar Wünsche.
Du fragst Dich in Deinem Text, warum so viele Frauen angeblich auf “schwanzgesteuerte” Männer reinfallen? Ist das wirklich noch so? Oder sind die im Text beschriebenen Frauen, die mehrfach von Oskar mies behandelt und hin und her geschubst werden, und dann doch noch dessen Küche aufräumen ja sogar anbieten, die Wohnung auf eigene Kosten!! zu renovieren, nicht doch reaktionäre Phantasien die aus den frühesn 60er Jahren stammen? Von daher mißtraue ich der “Beschreibung” vor allem dann, wenn sie von Oskar so gut wie nicht befragt werden, bzw. er erst dann anfängt zu jammern, wenn er endlich mal so richtig einen vor den Latz kriegt. Aber selbst dann kommen noch genügend Frauen mit “kaputte-Männer-Rettungssyndrom”, die seine gekränkte Eitelkeit besänftigen wollen. Und richtig hast Du registriert, daß Heinrich bestimme Textausschnitte eben in Lesungen nicht vorstellt. Einsicht, Kritik, Brüche, Distanzierung etc. kann ich nicht erkennen.
Und ich frage mich, warum es keinen Aufschrei in der Tango-Scene angesichts solcher Plattheiten gibt. Und selbstverständlich, das kann ich anerkennen, ist dies alles detailliert und mit litrerarischer Kraft beschrieben. Heinrich hat Erfahrungen. Gerade darum hätte ich mir etwas mehr dargestellte Widersprüchlichkeit beim Rikschafahrer gewünscht.
Fridolin