Sie waren meine zeitgenössische Lieblingsgruppe im Tango. Dieses Temperament. Diese Intensität. Diese Spielfreude. Nie klangen sie wie eine Cover-Band, die um größtmögliche Nähe zum Original bemüht ist. Stets spielten sie auch die alten Stücke aus der “Epoca d’Oro”, als wären es ihre eigenen. Und immer das Publikum im Blick, ohne sich anzubiedern. Ich hab’ sie in Buenos Aires erlebt, in der vollsten Milonga meines Leben, und in kleinem Rahmen in Berlin. Immer waren sie mit vollem Einsatz dabei. Ich werde das “Sexteto Milonguero” vermissen.
In den goldenen Zeiten des Tango war es üblich, dass die bekannten Orchester erfolgsträchtige Stücke der Konkurrenz “gecovert” haben. Bei den aktuellen Bands ist mir dergleichen noch nicht aufgefallen. Deshalb ist es schon etwas Besonderes, wenn das “Orchesta tipica Misteriosa” ein Lied einer anderen zeitgenössischen Gruppe aufnimmt. Geschrieben hat es Javier di Ciriaco, Kopf und Herz des “Sexteto Milonguero”. Eliana Sosa singt sein “Sabra´s” mit großer Geste, wie wir sie Jahre lang von dessen Autor gewöhnt waren. Auf mich wirkt ihre Interpretation wie eine letzte dynamische Verbeugung der KollegInnen vor einem großen Ensemble, das den Weg geebnet hat für die jungen Gruppen, die nach ihm kamen. (In dieser Facebook-Veröffentlichung müsst ihr etwas blättern, um zu den Stück zu kommen. Bei einigen anderen Stücken in diesem Blog müsst Ihr den Link anklicken, um sie zu hören und zu sehen.) https://www.facebook.com/lamisteriosaba/ (1)
Derweil sagt Javier di Ciriaco leise “Servus”. Allein. In einer Erklärung verkündet er “das Ende der Aktivitäten des Sexteto Milonguero”. (2) Seine neue Solo-Version von “Du wirst es wissen”, etwas früher aufgenommen, klingt weniger zukunftsgewiss als die von “Misteriosa”. Der Mann, der nicht nur der Gründer, sondern auch das Gesicht einer der temperamentvollsten Bands des zeitgenössischen Tango war, singt das Stück eher zart und zögernd. Dennoch macht er mit seiner dezidierten Formulierung einen klaren Schnitt. Ich vermute, er will auf diese Weise auch Versuchen entgegentreten, andere MusikerInnen unter dem erfolgreichen Label zu vermarkten. So ist es mit dem legendären “Sexteto Mayor” geschehen. Unter diesem Namen traten Musiker noch etliche Jahrze nach dem Tod seiner Gründer Luis Stazo und Jose Libertella und ihrer Mitstreiter auf.
Das Ende des “Sexteto Milonguero” kam nur scheinbar plötzlich. Gegenüber den Musikern seiner Gruppe hat Javier “seit Jahren” keinen Hehl aus seinen Ambitionen auf Autonomie gemacht, wie er jetzt berichtet. Ein wenig nahm er sich auch im Rahmen der Band heraus. Zu den Auftritten des Sexteto gehörte schon lange ein Block mit Solo-Stücken des Leaders. Darüber hinaus thematisierte seine Sehnsucht in einem Song: “Nuevos Rumbos” – “Neue Richtungen”:
“Das Leben zeigt mir neue Wege, unsicher, verschieden, ohne Ziel. Sehnsucht, Verlangen, um die Welt zu durchwandern. Meine Träume führen mich zu meinen neuen Zielen…
Durch die Hindernisse der Zeiten suche ich meine eigene Wahrheit.”(3)
Wohin die Reise musikalisch gehen könnte, signalisierte 2017 sein Soloalbum: “Intimo”, aufgenommen in Deutschland mit dem Wuppertaler Pianisten Burkhard Heßler. Die AutorInnen reichen von Carlos Gardel und Astor Piazzolla bis zu Mariah Carey und Elton John. Dazu Eigenkompositionen. (4)
Die Corona-Pause sei nicht die Ursache für die Trennung, betont Javier in seiner Abschieds-Erklärung. Aber sie habe ihm “geholfen, Klarheit zu gewinnen und zu verstehen, dass das Leben genau jetzt stattfindet und dass dieses ‘jetzt’ manchmal sehr schnell vergeht!” Kurz: Er will nichts mehr versäumen. Schluss mit dem Warten. Keine Kompromisse mehr. Was das Repertoire von “Intimo” musikalisch signalisiert, formuliert der Sänger nun im Klartext:
“Ich spüre, dass ich in der künstlerischen und musikalischen Welt der Mionga alles von mir eingebracht habe, und ich fühle den tiefen Wunsch und das Bedürfnis, mich ganz meiner individuellen künstlerischen Suche zu widmen, in die der Tango, aber auch andere Musik, die mit am Herzen liegt, einbezogen wird.”
“Sexteto milonguere se despide y dice muchas gracis”, hat Javier seine Erklärung überschrieben. “Das Sexteto Milonguero sagt Auf Wiedersehen und vielen Dank!! ” Er sei seit der Gründung “in gewisser Weise das Gesicht der Gruppe” gewesen und “in all diesen Jahren verantwortlich für alles, was mit der Gruppe zu tun hat”. Was hinter diesem Satz konkret steckt, ist in dem Dokumentarfilm “Joyride” zu besichtigen. Die ungarische Regisseurin Eszter Nordin hat die Gruppe einige Tage lang auf deren Europa-Tournee 2016 begleitet. Charakteristisch gleich die erste Szene: Da sehen wir den Bandleader als Chauffeur am Steuer des Tour-Busses. Javier überließ nichts dem Zufall. Der Film ist ein Dokument der systematischen Selbstüberforderung des Protagonisten. Er brannte an beiden Enden. Wie lange hält einer so etwas aus? In seinem Fall: 15 Jahre. Nun war es genug.
Wenn ich nicht völlig falsch höre, dann hat das Sexteto nie versucht, die Stücke der alten Meister möglichst originalgetreu von deren Platten zu transskribieren oder gar die Linie ausschließlich eines einzigen Orchesters fortzusetzen, wie “La Juan D´Arienzo” oder andere. Nein, sie bedienten sich selbstbewusst im großen Fundus der “Epoca dÓro” und arrangierten das Material nach ihren Vorstellungen und Fähigkeiten. Auf diese Weise entstand ein eigener, stets wieder erkennbarer Sound – auch wenn nicht die unverwechselbare Stimme von Javier di Ciriaco zu hören ist. So geht es mir übrigens auch, wenn ich die Klassiker, ganz ohne Gesang, in den Versionen des “Sexteto Mayor” höre. Unverwechselbar!
Mich erinnert Javier mit seinem Charisma und seiner Bühnenpräsenz an Alberto Castillo, die größte – ich gebrauch’ das Wort mal als “terminus technicus” – Rampensau des klassischen Tango. Er steht nicht würdig auf der Bühne, sondern hantiert mit dem Mikroständer wie ein Rocksänger. Nicht ganz zufällig, denn mit Rock hat Javier angefangen. Nicht nur in seinen solistischen Ausflügen ist deutlich auch der Einfluss der argentinischen Folklore zu spüren. Der folgende Song könnte das Motto von Javiers Neubegin sein.
Mit dem ersten Projekt seiner Solo-Karriere steigt Javier hoch ein und bewegt sich in diese Richtung. Keine Eigenkompositionen, aber eine Hommage an eine Künstlerin, die größer kaum sein könnte: Mercedes Sosa – die Stimme Argentiniens, wenn nicht Lateinamerikas. Mit wem hat “La Negra” nicht zusammen gearbeitet? Wer in der Welt von Folk und Pop hat nicht ihre Lieder gesungen? “Gracias a la vida” aus ihrem Mundes ist so etwas wie die Hymne dessen, wofür sich der Begriff der Weltmusik eingebürgert hat. Auf “intimo” hat Javier bereits diesen Megahit gesungen : “Gracias a la Vida” – geschrieben von Violeta Parra. Die chilenische Sängerin hat sich, am Leben verzweifelnd, umgebracht, ehe sie den Erfolg ihre Liedes erleben konnte. Hier singt es Javier.
Ich danke dem Leben, das mir so viel gegeben:
Es gab mir mein Lachen, es gab mir mein Weinen,
und lässt mich das Glück von dem Leid unterscheiden,
mein Lied ist aus diesen zwei Quellen entsprungen,
mein Lied für mich selber und für euch gesungen,
mein Lied für mich selber und für alle gesungen. (4)
Im Titel klanglich an “intimo” anknüpfend, soll das erste Album seiner neuen künstlerischen Zeitrechnung “intenso” heißen. Nach “intim” also “intensiv.” Das Projekt ist eine Hommage an Mercedes Sosa. Und intensiv ist beider Gesangsstil zu nennen. Manchmal geht Javier bis an die Grenzen seiner Stimme. Ich bin gespannt, wie er es in Zukunft hält, wenn da keine Band mehr hinter, nein, neben ihm steht, die ihn einfangen könnte. “Buena, suerte”, liebe Javier, vielen Dank für die viele schöne Musik, die Du uns in der Welt der Milonga geschenkt hast. Und viel Glück für die Zukunft.
Beenden will ich diesen Text dennoch mit einer Tanda aus 15 Jahren Sexteto Milonguero. Dass Du in Zukunft nur noch allein auftrittst, daran werde ich mich erst noch gewöhnen müssen. Ich hoffe, Du verzeihst mir, wenn ich auf das ein oder andere Lied auch wieder tanzen möchte – und sei es, in den Gängen eines Konzertsaales, jener Welt in die Du nun strebst.
(1) Das Stück zählt zu einer Reihe von “Bocetos” – musikalischen Skizzen für künftige Arrangements.