Wir tanzen wieder. Aber wie…
14. Juli 2020Tango? Kann. Aber muss nicht…
4. August 2020Sie waren meine zeitgenössische Lieblingsgruppe im Tango. Dieses Temperament. Diese Intensität. Diese Spielfreude. Nie klangen sie wie eine Cover-Band, die um größtmögliche Nähe zum Original bemüht ist. Stets spielten sie auch die alten Stücke aus der „Epoca d’Oro“, als wären es ihre eigenen. Und immer das Publikum im Blick, ohne sich anzubiedern. Ich hab‘ sie in Buenos Aires erlebt, in der vollsten Milonga meines Leben, und in kleinem Rahmen in Berlin. Immer waren sie mit vollem Einsatz dabei. Ich werde das „Sexteto Milonguero“ vermissen.
In den goldenen Zeiten des Tango war es üblich, dass die bekannten Orchester erfolgsträchtige Stücke der Konkurrenz „gecovert“ haben. Bei den aktuellen Bands ist mir dergleichen noch nicht aufgefallen. Deshalb ist es schon etwas Besonderes, wenn das „Orchesta tipica Misteriosa“ ein Lied einer anderen zeitgenössischen Gruppe aufnimmt. Geschrieben hat es Javier di Ciriaco, Kopf und Herz des „Sexteto Milonguero“. Eliana Sosa singt sein „Sabra´s“ mit großer Geste, wie wir sie Jahre lang von dessen Autor gewöhnt waren. Auf mich wirkt ihre Interpretation wie eine letzte dynamische Verbeugung der KollegInnen vor einem großen Ensemble, das den Weg geebnet hat für die jungen Gruppen, die nach ihm kamen. (In dieser Facebook-Veröffentlichung müsst ihr etwas blättern, um zu den Stück zu kommen. Bei einigen anderen Stücken in diesem Blog müsst Ihr den Link anklicken, um sie zu hören und zu sehen.) https://www.facebook.com/lamisteriosaba/ (1)
Derweil sagt Javier di Ciriaco leise „Servus“. Allein. In einer Erklärung verkündet er „das Ende der Aktivitäten des Sexteto Milonguero“. (2) Seine neue Solo-Version von „Du wirst es wissen“, etwas früher aufgenommen, klingt weniger zukunftsgewiss als die von „Misteriosa“. Der Mann, der nicht nur der Gründer, sondern auch das Gesicht einer der temperamentvollsten Bands des zeitgenössischen Tango war, singt das Stück eher zart und zögernd. Dennoch macht er mit seiner dezidierten Formulierung einen klaren Schnitt. Ich vermute, er will auf diese Weise auch Versuchen entgegentreten, andere MusikerInnen unter dem erfolgreichen Label zu vermarkten. So ist es mit dem legendären „Sexteto Mayor“ geschehen. Unter diesem Namen traten Musiker noch etliche Jahrze nach dem Tod seiner Gründer Luis Stazo und Jose Libertella und ihrer Mitstreiter auf.
Das Ende des „Sexteto Milonguero“ kam nur scheinbar plötzlich. Gegenüber den Musikern seiner Gruppe hat Javier „seit Jahren“ keinen Hehl aus seinen Ambitionen auf Autonomie gemacht, wie er jetzt berichtet. Ein wenig nahm er sich auch im Rahmen der Band heraus. Zu den Auftritten des Sexteto gehörte schon lange ein Block mit Solo-Stücken des Leaders. Darüber hinaus thematisierte seine Sehnsucht in einem Song: „Nuevos Rumbos“ – „Neue Richtungen“:
“Das Leben zeigt mir neue Wege, unsicher, verschieden, ohne Ziel. Sehnsucht, Verlangen, um die Welt zu durchwandern. Meine Träume führen mich zu meinen neuen Zielen…
Durch die Hindernisse der Zeiten suche ich meine eigene Wahrheit.”(3)
Wohin die Reise musikalisch gehen könnte, signalisierte 2017 sein Soloalbum: „Intimo“, aufgenommen in Deutschland mit dem Wuppertaler Pianisten Burkhard Heßler. Die AutorInnen reichen von Carlos Gardel und Astor Piazzolla bis zu Mariah Carey und Elton John. Dazu Eigenkompositionen. (4)
Die Corona-Pause sei nicht die Ursache für die Trennung, betont Javier in seiner Abschieds-Erklärung. Aber sie habe ihm „geholfen, Klarheit zu gewinnen und zu verstehen, dass das Leben genau jetzt stattfindet und dass dieses ‚jetzt‘ manchmal sehr schnell vergeht!“ Kurz: Er will nichts mehr versäumen. Schluss mit dem Warten. Keine Kompromisse mehr. Was das Repertoire von „Intimo“ musikalisch signalisiert, formuliert der Sänger nun im Klartext:
„Ich spüre, dass ich in der künstlerischen und musikalischen Welt der Mionga alles von mir eingebracht habe, und ich fühle den tiefen Wunsch und das Bedürfnis, mich ganz meiner individuellen künstlerischen Suche zu widmen, in die der Tango, aber auch andere Musik, die mit am Herzen liegt, einbezogen wird.“
Es gab mir mein Lachen, es gab mir mein Weinen,
und lässt mich das Glück von dem Leid unterscheiden,
mein Lied ist aus diesen zwei Quellen entsprungen,
mein Lied für mich selber und für euch gesungen,
mein Lied für mich selber und für alle gesungen. (4)