Wie viele TangotänzerInnen kaufen noch oder wieder CDs mit unserer Musik – zum Hören daheim oder zum Verschenken? Nutzen sie Youtube oder Streamingdienste wie Spotify? Ich weiß es nicht. Aber meine ersten drei Besprechung in diesem Blog haben Erfolg versprechende Klickzahlen erreicht. Deshalb mache ich eine ständige Einrichtung aus der Rubrik “Tango zwischen gestern und morgen”. Wenn es sich anbietet, will ich auch auf neue Videos hinweisen. Heute geht es um Pablo Woiz, sein Projekt “Milonga Roots” und ihre CD “Volume I”tet und seine erste CD “criollo milonguero”. Die älteren Texte rücken nach hinten. In ihnen geht es um das Hanburg Tango Quintet, Luiz Stazo, Carlos Libedinsky und „Sonico“.
Pablo Woiz & Milonga Roots. Es zählte für mich zu den berückendsten Momenten beim Contemporary Tango Festival 2018 in Berlin, wenn in der Nacht der „Real Tradition“ mit sechs Stunden Live-Musik am Stück Pablo Woiz auf dem Klavierschemel Platz nahm. Während die Musiker des Quinteto Angel sich für eine kurze Auszeit zurückzogen, um ihren Mammut-Gig durchzuhalten, begleitete der Pianist den Sänger Omar Fernandez (hier ist noch Christian Gerber am Bandoneon dabei). Kraftvoll und umsichtig, phantasievoll und swingend sein Dialog mit der Stimme von „El Aleman“. Dabei immer und selbstverständlich den Beat in Hinterkopf und Händen. Hier blieb auch der Tango cancion stets Tanzmusik.
Das untrügliche Gefühl für den Beat und Rhytmus zeichnet Pablo Woiz auch in seinem eigenen Ensemble aus. „Milongaroots“ ist eine ungewöhnliche Tangogruppe: Ein Instrument zu wenig, eins zu viel. Kein Bandoneon, dafür ein Schlaggzeug. Dazu ein Kontrabass. Die klassische Besetzung eines Jazztrios. Der amerikanische Afrikanologe Robert Farris Thomas hat als Historiker dem schwarzen Teil der Wurzeln des Tango nachgespürt (*), der in der weißen Tangotradition vergessen oder unterdrückt wurde. Pablo Woiz betreibt diese Spurensuche in seiner Musik. Wer ihn und seine Mitstreiter sitzlauschend in einem Jazzclub erlebt, oder zu ihr in einer Milonga getanz hat, kann sich der Einsicht nicht verschließen: It’s Tango – selbst wenn es manchen Ohren zunächst ein wenig strange klingen mag
„Milonga Roots“ heißt programmatisch die Gruppe, die Woiz gemeinsam mit dem isralischen Kontrabassisten Or Rozenfeld und dem Argentinier Martin Innacone am Schlagzeug gegründet hat. Ihre erste CD: „Volume I“ – offenbar der Auftakt zu einem längeren Prozess. „Die Milonga ist der Ursprung des Tango, ein sehr perkussiver Rhythmus mit großem afrikanischem Einfluss, wie z.B. der des Candombe. Mit meinem Projekt will ich genau diesen Ursprung wiederbeleben, daher auch der Name“, hat er im Deutschlandfunk gesagt. (**) Der argentinische Pianist Pablo Woiz lebt seit mehr als zehn Jahren in Berlin und ist in der Szene gut vernetzt. Die übrigen Einflüsse auf den Tango aus Europa oder Lateinamerika leugnet er keineswegs. Seine Erweiterung der Perspektive ähnelt dem Prozess, den Carlos Libedinsky nach der Auflösung seiner Band „Narcotango“ als Solist begonnen hat. In seiner CD „#Fuye“ erweitert der Bandoneonist sein Spiel Rhythmen und Tänze aus ganz Lateinamerika.
Pablo Woiz gefällt der Einfluss, den nach Amerika verschleppte Sklaven mitbrachten, besonders, „weil es ein lebendiger, fröhlicher Teil des Tango ist und weil die Melancholie, die oft vorherrscht, hier nicht so präsent ist“. Deshalb ist sein großes Vorbild auch der Pianist und Orchesterleiter Horacio Salgan mit seiner Vorliebe für jazzige Elemente. Ebenso hebt er den Sänger Alberto Castillo hervor, der besonderes die Candombe gepflegt hat, die viel beim Karneval der Schwarzen nicht nur in Buenos Aires gespielt wurde. In den Tango-DJ-Foren, die ich auf Facebook verfolge, wird viel Ablehnung für deren forcierte Rhythmik laut. Tango und Trommeln? Igitt! Anders als in Brasilien wollte man im weiß dominierten Argentinien mit diesem Erbe aus Afrika nichts zu tun haben. Perkussionsinstrumente hätten „immer ein eher negatives Image“, sagt Pabölo Woiz. „Beim getanzten Tango tauchen sie so gut wie gar nicht auf. Eigentlich seltsam, denn sie haben viel mit dem Körper, mit der Bewegung zu tun, aber irgendwie nicht mit dem argentinischen Tango. In den großen, bekannten Orchestern gab es – ehrlich gesagt – gar keine Perkussion. Das heißt, wir haben diesen afrikanischen Einfluss angenommen, ‘desinfiziert’ und in europäischen Tango verwandelt, mit einer ebenfalls europäischen Instrumentalisierung: Geige, Bandoneon – ein deutsches Instrument, Piano, etc.”
Die CD beginnt programmatisch mit dem Stück „Roots“. Über seine Entstehung oder besser Entwicklung sagte Pablo Woiz im DLF: „Ich habe so lange gespielt, bis etwas geblieben ist, was mir gefallen hat. Ich glaube, dieses Stück ist die Synthese des Projektes Milonga Roots. Roots-Raices-Wurzeln. Den Titel habe ich ihm auch erst danach gegeben. Ich hatte bei diesem Stück erst das Thema, dann kam die Perkussion dazu. Wir haben uns für ein sogenanntes Tambor-Piano entschieden, ein Instrument aus dem Candombe, die tiefste und größte Trommel. Das gab dem Stück diesen sehr erdigen Ton.”
Mir gefällt besonders „Nocturna“, ein Stück von Julian Plaza, das so unterschiedliche Musiker wie Anibal Troilo und Gotan Project im Repertoire hatten. Hier lässt sich besonders gut das Besonderes dieses Trios hören: Über weite Strecken sind Bass und Drums nicht nur Begleitung, sondern gleichberechtigte Partner, die einander und das Piano in wechselndem Tempo umtanzen. Carlos Di Sarlis Klassiker „Nido Gaucho“ ist auf diese Weise ganz neu zu hören, ohne dass es seinen melancholischen Charakter völlig verlöre. Schlicht umwerfend finde ich die Interpretation con Astor Piazzollas „Buenos Aires Hora Cero“. Hier sind die afrikanischen Rhythmen zum schwebenden Cooljazz sublimiert. Und dann zum Abschluss „Una Senal“ (Ein Zeichen) – wieder eine Eigenkomposion, diesmal des Schlagzeugers Martin Iannacone, die ein Stück ländlicher Volksmusik aus demNorden Argentiniens aufnimmt, mit der sich auch Ariel Ramirez in seiner berühmten „Misa Criola“ auseinander gesetzt hat. Solist ist in aller Düsternis, zu der sein Instrument fähig ist, Or Rozenfeld am Kontrabass. Gänsehautmusik. (***)
(*) Tango. The Art History of Love, New York 2006, 363 S.
(**) Ich möchte mich herzlich bei Max Oppel bedanken. Von seinem Sachverstand und den Informationen, die er in der DLF-Sendung „Von den afrikanischen Wurzeln des Tango“ (6. 4. 2018) ausgebreitet hat, habe ich in hohem Maß profitiert. https://www.deutschlandfunk.de/der-argentinische-pianist-pablo-woiz-milonga-roots-von-den.2590.de.html?dram:article_id=414280
(***) Von den Stücken der CD sind nur die beiden hier veröffentlichten komplett auf Youtube verfügbar. „Malena“ mit „El Aleman“ hab ich selbst beim CTF 2018 aufgenommen.
PABLO WOIZ & MILONGA ROOTS – Volume I. Pablo Woiz (p), Or Rozenfeld (b), Martin Iannaccone (dr, perc)
CD erhältlich per E-Mail-Bestellung bei: pablowoi@gmail.com
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Das Hamburg Tango Quintet beginnt seine erste CD mit einem Titel von Glenn Miller. Eine ungewöhnliche Wahl – auch wenn der Swingmusiker nur als einer unter vielen Interpreten rangiert, die „Perfidia“ aufgenommen haben.(*) In den goldenen Zeiten von Tango und Swing war das Stück des mexikanischen Komponisten Alberto Dominguez zunächst ein Megahit für Xavier Xugat – den König des Mambo aus Cuba. Es trägt auch Züge der Habanera, einer der Großmütter des Tango. Als „Tango Bolero“ avisiert das „Hamburg Tango Quintet“ den Titel bei seinen Live-Auftritten. Und ich mag es, mich beim Tanzen meiner Liebe zur Rumba aus Ballroomzeiten zu erinnern. Da lässt sich glatt von einem „all american tune“ sprechen.
Nach diesem Eröffnungsstück können die MusikerInnen auf ihrer ersten CD „criollo milonguero“ für meinen Geschmack nicht mehr viel falsch machen – tun sie auch nicht mit ihrer stilsicher zusammengestellten Mischung aus bekannten und weniger bekannten Stücken: 18 Tangos, Valses und Milongas von „El Flete“ und „Entre Amor Y Mi Amor“ bis „Milonga Para Gardel“ und „Palomita Blanca“. Die Musik ist stets klar strukturiert und am Beat orientiert. Die InstrumentalistInnen gönnen sich zwar hier und da ein Solo. Aber sie leisten sich keine Extravaganzen. Die TänzerInnen sollen auf keinen Fall verunsichert werden.
In ihrer Auswahl setzen sie durchaus mutige Akzente. Aus Francisco Canaros Repertoires haben sie sich ausgerechnet für „Poema“ entschieden – einen Titel, der in der Interpretation des „Orchesta tipica Misteriosa“ unter den aktuellen Coverversionen durchaus Kultstatus erlangt hat. Caio Rodriguez vermeidet es, in Wettbewerb mit Marisol Martinez zu treten. Die Gruppe auch nicht. Von üppiger 50er-Jahre- Schwelgerei halten sie sich fern und bleiben bei ihrem 40er-Jahre-Sound. Klar. Hanseatisch.
Ich will nur zwei MusikerInnen hervorheben: Die Bandleaderin Aneta Pajek und den Sänger Caio Rodriguez. Die Bandoneoistin bevorzugt einen lichten Sound, dem fast alle Düsternis abgeht, die das Signature-Instrument des Tango oft auszeichnet. Ich hoffe, sie empfindet es nicht als Beleidigung, wenn ich finde, dass es manchmal fast wie ein Akkordeon klingt. Für einen fröhlicheren Klang hatte Edgardo Donato einst ein Akkordeon in seine Bandoneonsection integriert. Aneta Pajek spielt beide Musikfarben auf einem Instrument. Sie scheut sich auch nicht, in Carlos Di Sarlis Klassiker „Bahia Blanca“ den Part der Geigen zu übernehmen, die beim „Sen~or del Tango“ im Vordergrund stehen. So gelingt es ihr, in der Melodieführung nah am Original zu bleiben und dennoch einen eignen Akzent zu setzen.
Ich schätze Caio Rodriguez, seit ich ihn zum ersten Mal als Gast des Berliner Frauen-Trios „Muzet Royal“ gehört habe. Der gebürtige Argentinier hat keine große Stimme. Vor allem weiß er, was er ihr zumuten kann. Und was nicht. So setzt der Sänger seinen mittleren Tenor instinktsicher ein und versucht erst gar nichts, was ihn überfordern würde. Anders als so mancher Star der Epoca d’Oro (nein, keine Namen jetzt) meidet er jedes Pressen, Knödeln, Schreien. Trotz oder vielleicht sogar dieser Mäßigung hat die Stimme in meinen Ohren einen hohen Wiedererkennungswert.
Häufig ist es ja so: Man erlebt eine Gruppe in einer Milonga, ist begeistert und ärgert sich daheim, noch vor Ort ihre CD gekauft zu haben. Das „Hamburg Tango Quintet“ kenne ich von dieser CD und ihren Videos auf Youtube. (**) Beide Arten von Konserven haben mich überzeugt. Nun bin ich gespannt, sie endlich einmal live zu hören. Zum Sylvesterball der Tangoschule „Tangotanzen macht schön“ kommen sie aber leider nur im Trio mit Aneta Pajek, Cajo Rodriguez und Hans-Christian Jaenicke (v). Die Berliner Veranstalter sind sparsam.
(*) Die Anmerkungen stehen in Zukunft gleich hinter der jeweiligen Besprechung. Die Nummerierung der Anmerkungen zum ursprünglichen Beitrag habe ich nicht verändert. Eine besonders schöne “Perfidia”-Aufnahme stammt für meinen Geschmack von Nat King Cole. Auf Wikipedia findet sich eine Liste der Versionen aus verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Stilrichtungen: https://en.wikipedia.org/wiki/Perfidia
(**) Aneta Pajek https://www.youtube.com/channel/UCWWSzyPpogOvL0SAVj3CjHQ?pbjreload=10
CRIOLLO MILONGUERO – HAMBURG TANGO QUINTET. Caio Rodriguez (voc), Aneta Pajek (bn); Hans-Christian Jaenicke (v), Javier Tucat-Moreno (p), Anna-Maria Huhn (b)
Pike’s Nice Records
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Luis Stazo habe ich nur einmal persönlich erlebt. Von weitem. Er war Ehrengast einer Filmvorstellung in Berlin. Einige Jahre zuvor war Jose „Pepe“ Libertella gestorben, mit dem zusammen er das „Sexteto Mayor“ gegründet hatte. Bei dem Berliner Event schien mir auch Stazo gesundheitllich angeschlagen. Den Auftrag der „Tangodanza“ für ein Interview habe ich aus unerfindlichen Gründen verbaselt. Bis es zu spät war. Leider. Dabei war die in Deutschland produzierte CD „Trottoirs de Buenos Aires“ eine meine ersten Tangoplatten. Bis heute zählt sie zu meinen Favoriten. Die Herren haben die Musik für „Tango Argentino“ gemacht, die berühmteste Tangoshow der Welt. Luis Stazo gehörte also zu einem Ensemble, das in den 80er Jahren des vorigen Jahrhundert erheblich zur internationalen Renaissance des Tango beigetragen hat. (**)
„Todo Corazon“ widmet sich seinem Vermächtnis. Der vielbeschäftigte Bandonenost Christian Gerber hat lange mit Stazo zusammengespielt. Er kennt seinen Stil genau. Die vorliegenden Kompositionen und Arrangements sind alle in Berlin entstanden, wo Luis Stazo sich niedergelassen und Manuela gefunden hat, die große Liebe seines Alters. Zur Erinnerung an ihren Mann hat sie diese CD produziert – mit den Musikern seines Sextetts „Stazomayor“ und einigen Gästen. Lauter ebenso hörenswerte wie gut tanzbare Stücke. Die Titel stammen meist von Manuela Stazo. „Er hatte nicht wirklich ein Händchen dafür“, verriet sie der „Tangodanza“. (***) Für meine Ohren ist da ein sehr leichter, fast fröhlicher Tango entstanden.
Zu „Perfume de Bandoneon“ ist Manuela Stazo zunächst die Titelzeile eingefallen: Der Duft des Bandoneons. Dann schrieb Luis die Musik – arrangiert mit einem jazzigen Intro auf dem Piano. Nach vorsichtigem Beginn geht die Post ab. „Un Tango para Manuela“ist ein gefühliges Stück für seine Ehefrau, „A mi Esposa“ ein Geburtstaggeschenk für sie. Die beschwingte Milonga „Rosita“ wiederum ist seiner Schwiegermutter gewidmet. Soweit meine vier Lieblinge in dieser Produktion. „Limitierte Auflage“ steht auf dem Cover. Ich hoffe, dass genügend Exemplare für aufgeschlossene Djs übrig bleiben. Wenn nun die Milonas peu a peu für neoklassische Coverbands geöffnet werden, sollte auch Platz für die Musik von Luis Stazo sein, dem wir mehr verdanken, als die meisten TänzerInnen auch nur ahnen.
TODO CORAZON – STAZOMAYOR Sexteto. Orlando Dibelo, Christian Gerber (bn), Pablo Woiz (p), Bernhard von der Gablentz (v), Johannes Henschel (c), Kaspar Domke (b) sowie: Miguel Angel Bertero (v), Lissandro Adover (bn), Fernando Rodas (voc). Erhältlich unter https://todocorazon.wixsite.com/stazomayor
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Carlos Libedinsky höre ich immer wieder gern im Tangoloft. Am 21. August eröffnet er mit seinem Quintett das Contemporary Tango Festval (CTF) im Berliner Hauptbahnhof (****) – umsonst und drinnen. Auch der einstige Star des Electrotango ist (wo die Liebe hinfällt) inzwischen fast ein Berliner. Wie in den 1950er Jahren die große Zeit der Orchesta Tipica zu Ende gegangen war, flaute irgendwann auch die Beliebtheit des Versuchs ab, den klassischen Tango mit neuen elektronischen Beats und Loops zu verbinden. „Gotan Project“, das Flaggschiff der Bewegung, drang erst in die tangofernen Clubs vor und ging dann auseinander. Auch künstlerisch ging es nicht mehr wirklich voran. „Otros Aires“ flirtete wenig erfolgreich mit Balkan Beats. „Tanghetto“ versuchte es bei seinen Auftritten mit elektrifiziertem Carlos Di Sarli. Aber in den Neolongas wird allzu häufig gleich Rock, Pop und Techno gespielt. So löste sich auch „Narcotango“ auf. Für Carlos Libedinsky begann eine Phase von Neuorientierung und Experiment.
Er spielt viel solo mit mehr oder weniger großem elektronischen Zubehör und Programmierung. Er tummelt sich – zum Teil mit alten Weggefährten – in neuen Formaten und avantgardistischen Stilrichtungen. Seine aktuelle CD hat er allein aufgenommen. „#Fueye“ spielt gleich auf den ersten Blick mit Moderne und Tradition. Dem Titel gebenden Klassiker von Charlo hat er das Zeichen für einen Hashtag vorangestellt. “Fueye” heißt der Blasebalg des Bandoneons, den der Spieler auseinander zieht und zusammendrückt. Es handelt sich um ein Lunfardo-Wort, das auch als Synonym für das gesamte Instrument verwandt wird. (In einer früheren Fassung dieses Textes hatte ich behauptet, es handele sich um das Tuch, das die Musiker auf ihre Oberschenkel legen, um die Hosenbeine zu schützen. Danke für die Korrektur Carlos Libedinsky! ) Anibal Troilo hat die Komposition zum ersten Mal 1942 mit Francisco Fiorentino eingespielt. Mit dieser Huldigung an d a s Instrument des Tango macht Carlos Libedinsky sich auf den Weg in die Zukunft.
Der Bandoneonist ist nicht nur ein begnadeter Instrumentalist, sondern auch ein begeisterter Soundtüftler. So bastelt er zahlreiche perkussive Elemente in seine Musik, integriert elektronisch die Rhythmen argentinischer und anderer südamerikanische Folklore. Die Fesseln der Tangotanzbarkeit scheinen ihn nicht mehr zu interessieren. Zamba, Zouk und anderes (da sich zum Teil nicht einmal mit Namen kenne) tritt an die Seite des Tango. Pulsierend loungige bis rappig treibende Beats durchziehen die Klänge. Als Signature-Song hat er „Tanto Tanto“ mit einer Montage aus metropolitaner Videofahrt, Tanzsequenzen und psychodelisch fließenden Farbspielen visualisieren lassen.
Großprojektionen solcher „Visual Poetry“ tauchen in Teilen der Neotangoszene die Tanzfläche in einen schwindelerregenden Farbrausch. Mich erinnern sie an die einschlägigen Lightshows meiner Jugend – nur technisch perfektioniert. Faszinierende, aber am Ende auch ein wenig ermüdende Klangwelten tun sich da auf. In Buenos Aires hab ich akrobatische TänzerInnen zu derlei Musik Freestyle-Tango zelebrieren sehen. Aber bei aller Neugier: Mein Ding ist es nicht. Da schlägt meine Vorliebe für konventionell erzeugte Klänge durch – ganz spießig „von Hand gemacht“, wie Reinhard Mey einst gesungen hat. Ich hoffe, es ist nicht nur meinen Geschmacksgrenzen geschuldet, wenn ich die Prognose wage: Mit dieser Musik ist Carlos Libedinsky auf dem Weg in seine neue musikalische Heimat. Erreicht hat er sie längst nicht.
#FUEYE – CARLOS LIBEDINSKY (comp, arr, bn, electr) Tademus Producciones
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Edoardo Rovira ist nie angekommen. Er wurde mitten aus dem Versuch gerissen, seinen „Tango von der Taille aufwärts“ zu entwickeln – also ausdrücklich nicht für Tänzer. Der Bandoneonist und Komponist starb mit 55 Jahren vor den Tür seines Hauses in La Plata an einem Herzinfarkt. (*****) Auf ihn gestoßen bin ich durch Facebook. Hier wirbt Ariel Eberstein unermüdlich für seine Musik. Der Auslandsargentinier in Gründer und Bassist eine Ensembles, das sich nach einem seiner Stücke benannt hat: „Sonico“. Das Quintett mit Sitz in Brüssel will Rovira aus der Vergessenheit holen, wo er nach Meinung der Musiker zu Unrecht gelandet ist – im Gegensatz zu Astor Piazzolla. Die beiden Bandoneonisten war auch höchsst unterschiedliche Weise Revolutionäre des Tango. Die wichtigste Differenz: Rovira fehlten Piazzollas Wandlungsfähigkeit und sein durchaus skrupelloses Gespür für Marketing. (******)
Wie Piazzolla kam er aus dem klassischen Tango. Rovira spielte mit so unterschiedlichen Musikern wie Alberto Castillo und Miguel Calo, Orlando Goni und Alfredo Gobbi zusammen. In seinem eigenen Trio verwandte er Todotango zufolge, als erster eine elektrische Gitarre im Tango. Wichtiger aber, so die Musikhistorikerin Nelida Rouchetto: Er führte Strukturen von Kammermusik ein. Wie Piazzolla schätzte er den ersten großen Tangorevolutionär Julio de Caro (*******) über alles. Aber er entwickelte in seiner Art der Weiterentwicklung einen völlig anderen Stil: Ohne Synkopen. Mit eine starken Rolle des klassischen Kontrapunkt. So weit meine dilettantischen Anleihen bei der Musikwissenschaft.
Für Laien wie mich besser verständlich ist Roviras Geringschätzung für den Tango als Tanz. Dieser Aspekt sei der musikalisch am wenigsten interessante, fand er (darin Piazzolla wieder ähnlich). „Mich interessiert die Essenz des Tango, seine harmonischen Entwicklungen, die Veränderung seiner Rhythmen, die Entwicklung musikalischer Phrasen.“ Keine Sorge, Rovita lässt sich wie Bach und Beethoven (und Piazzolla) auch ohne Musikstudium genießen. Der treibende Rhythmus von „Sonico“, der auf der CD im Duo von E-Gitarre und Bandoneon beginnt, erinnert in seiner Expressivität an „Libertango“. „El Violin de mi Ciudad“ wiederum kann man sich gut mit Anne-Sophie Mutter als Solistin vorstellen. Und wem „La Cumparsita“ zu den Ohren herauskommt, der/die kann sie in Roviras Version, interpretiert von „Sonico“, auf ganz neue, frische Weise kennen lernen. Ob sich auf diese Musik wirklich nicht tanzen lässt? Jedenfalls lohnt es, hörend darin zu versinken.
Die fünf MusikerInnen bleiben konsequent im Sinne ihres Idols. Ausgerechnet Roviras bekannteste Komposition lassen sie aus: „A Evaristo Carriego“. Aber wer weiß schon, dass dies Stück aus dem Kernrepertoire des „reifen“ (Michael Lavocah) Osvaldo Pugliese von ihm stammt? Carlos Gavito und seine Partnerin Marcella Duran haben es durch ihre Interpretation in der Show „Forever Tango“ nahezu unsterblich gemacht – und die Ästhetik des Tangotanzes nachhaltig beeinflusst. Was Edoardo Rovira zu diesem Erfolg gesagt hätte… wir wissen es nicht. Er starb vor der Premiere.
PS: In diesen Tagen hat „Sonico“ seine Musik nach Hause gebracht: Auftritt im Club “Atle´tico Ferna´ndes Fierro” (CAFF) – dem legendärem Alternativschuppen der Tangoszene von Buenos Aires. Hier spielen die unterschiedlichsten Gruppen der aktuellen Szene. (********) Bei meinem Kurztrip hab ich im vorigen Jahr die namensgebende Hausband gehört mit ihrem aggressiven Sound und den linken politischen Texten. In Erinnerung geblieben ist mir auch die würzige Rauchwolke, die vom Pult der Licht- und Tontechniker aufstieg. Ein ziemlicher Kontrast zu den Konzertsälen, in denen „Sonico“ normalerweise auftritt. Gespannt erwarte ich Ariel Ebersteins Bericht auf Facebook.
(*) Die Anmerkungen stehen in Zukunft gleich hinter der jeweiligen Besprechung. Das unplugged Solo von Carlos hab ich selbst im Berliner Tangoloft aufgenommen. Zu “Todo Corazon” gibt es leider keine Videos oder Soundbites. Deshalb habe ich etwas ältere Aufnahme zweier Stücke der CD genommen, in denen Luis Stazo noch im Sexteto Stazomayor mitspielt. “Die Stücke von Sonico sind von der CD. Das zweite ist das erste offizielle Video zu dieser Produktion. ” A Evaristo Carriego” ist zwar nicht von Pugliese gespielt, aber in seinem Stil. Gavito/Duran bringen ihre klassische Choregraphie.
(**) http://www.todotango.com/english/artists/biography/962/Luis-Sta1zo/; http://www.todotango.com/english/artists/biography/1092/Jose-Libertella/; http://www.todotango.com/english/history/chronicle/493/Sexteto-Mayor-Time-passes-and-it-does-not-grow-old/
(***) Todo Corazon. Eine Hommage an Luis Stazo. Manuela Stazo im Gespräch mit Camilla Hildebrandt, Tangodanza 3/2018, S. 28f.
(****) Programm unter: Contemporary Tango Festival – Berlin | Facebook https://de-de.facebook.com
(*****) http://www.todotango.com/english/artists/biography/836/Eduardo-Rovira/
(******) siehe: Matthew B. Karusch, CosmopolitanTango: Astor Piazzolla at Home and Abroad in: Musicians in Transit: Argentina and the Globalization of PopularmUsik, Duke University Press 2017, 220 S.
(*******) http://www.todotango.com/english/artists/biography/34/Julio-De-Caro/
(********) http://www.caff.com.ar
2 Comments
Tango zwischen gestern und morgen. Leider habe ich den Tango erst übermorgen entdeckt. Zumindest betrifft das wichtige historische Etappen.
Nachdem ich die ersten handwerklichen, oder besser gesagt fusswerklichen Hürden genommen hatte und mit einer bezaubernden Frau die ersten Milongas besucht hatte, fiel ich langsam aber sicher, wie viele andere Menschen auch, dieser Passion anheim.
Die bezaubernde Frau ist weg von der Tangoszene und wurde wieder Mutter. Meine Liebe für den Tango ist geblieben. Fast zwei Jahre lang drei bis vier Kurse die Woche dank einer Flatrate, fast drei Jahre lang jeden Abend an eine Milonga tanzen gegangen und an Wochenenden sogar an zwei Anlässen. Bald fünf Mal nach Buenos Aires gereist und sonst wo. Meine Freunde machten sich um mich Sorgen.
Berauscht von der Bewegung innerhalb der Klangräume von Pugliese oder Di Sarli erklimme ich Stufe um Stufe in Sachen Tango und damit meine ich nicht nur das Tanzen, sondern alles was damit zu tun hat. Es ist wie wenn man einen neuen Kontinent entdeckt hätte und die Metapher hat sogar etwas Reales. Ich bleibe in meinen Betrachtungen erstmals nur bei der Musik.
Mit dem Tanz wuchs das Interesse an die verschiedenen Orchester immer mehr. Ich lernte und lerne fortlaufend „neue“ Künstler kennen, wobei ich das Wort „neu“ mit grosser Wehmut relativieren muss, denn die meisten Giganten sind schon gestorben.
Eine weitere Stufe im Tangoprozess war und ist das musikalische „Konzept“ von Tango zu erweitern. Meine apodiktische Meinung: Piazzolla und seine Weggenossen haben den Tango nicht zerstört, sondern ihn davor bewahrt nur noch „Folklore“ zu sein.
Mittlerweile werde ich auch mal ärgerlich, wenn gewisse DJs sich wie die „Hohepriester des reinen Tangos“ aus der vielzitierten „Epoca de Oro“ gebaren. Dieselben werden auch nie etwas von Luis Stazo und José Libertella spielen, die Gründer des brillianten „Sexteto Tango“, die Thomas erwähnt hat.
Tango Nuevo
Einen der letzten Giganten, Raúl Garello, durfte ich im April 2016 noch live erleben in der Academía del Tango. Es war einem liebevollen Hinweis eines Malers geschuldet, den ich in der Boca kennen gelernt hatte. Am Tag nach dem Konzert kaufte ich gleich zwei CDs von Garello. Fünf Monate später war ich darob entsetzt, dass der noch rüstige Musiker plötzlich von uns gegangen war, nur zehn Tage nachdem er nochmals das grosse Orchester im Teatro de Colón geleitet hatte.
https://www.youtube.com/watch?v=qeUJlU9a9yQ
Ich interessierte mich fortan für fast alle Modernisten. Auch sie sind gestorben, Leopoldo Federico, Ernesto Baffa und der hoch betagte Horacio Salgán (er schaffte grad noch die 100 Jahre Lebensmarke), um nur wenige zu nennen. Ich wollte und will sie alle kennen und ich suche bis heute nach seltenen Aufnahmen. Piazzolla sparte ich mir bis letzten Frühling auf. Um ein Haar hatte Piazzolla um etwa 1960 sein Bandoneón an den Nagel gehängt, weil niemand ihn hören wollte. Was ein Verlust für die Menschheit wär das gewesen, was leider für andere grosse Musiker gilt.
Die allererste Tango-CD, die ich gekauft hatte, ist ein heterogener Sampler mit zwanzig Einspielungen. Darunter befindet sich eine einzige Aufnahme von José Colángelo. Ich recherchierte und fand mehr von ihm in Netz.
Es war Liebe beim ersten Zuhören.
Heute weiss ich, dass er einer der letzten lebenden Giganten neben Atilio Stampone ist. Kommendes Jahr (2019) wird er gem. der verlinkten Seite zu Louis Stazo (vielen Dank Thomas) eine Europatournee machen. Ich krieg Herzklopfen beim Gedanken daran. Seinen Einspielungen, seiner herzerwärmende Leidenschaft und seinem Können kann ich mich nicht entziehen.
https://www.youtube.com/watch?v=vpNzyVTkWbg
Eduardo Rovira entdeckte ich in einer Dokumentation zur Geschichte der Bandoneoisten auf Youtube. Und so entdeckte ich viele grossartige Musiker (fast nur Männer), die man gemeinhin unter Tango Nuevo verbuchen müsste. Denn Tango Nuevo beginnt meiner Meinung nach mit dem berühmten „Octeto Buenos Aires“ von 1955. Horacio Malvicino improvisierte hierbei in jazziger Manier auf der elektrischen Gitarre. Zwischen 1955 und 2005 wurde viel Tango Nuevo eingespielt.
https://www.youtube.com/watch?v=80Sd8GuzBQo
Elektro-Tango
Die Studioproduktionen mit beigemischten Loops und Beats würde ich konsequent als Elektro-Tango oder Fusion-Tango bezeichnen. In der Tat ist da nicht immer Tango drin, auch wenn Tango auf der Hülle steht. Aber vieles ist tatsächlich spannend. Mag es ein Übergangsphänomen sein und mögen die Formationen sich auflösen und neu bilden. Es sind kreative Prozesse. Ich hatte Carlos Libedinsky noch gar nicht gekannt. Ein weiteres Dankeschön an Thomas.
Manchmal sollten wir uns weniger mit der Frage beschäftigen, ob eine ältere oder eine neuere Tango-Einspielung besser ist, als damit, ob sie qualitativ gut ist von der handwerklichen Seite her. Gute Musiker machen in der Regel gute Musik. Das ist keine pseudo-elitäre Haltung, sondern 40 Jahre Erfahrung. Im direkten Vergleich merkt auch der musikalische Laie, ob etwas gut gespielt wurde.
Tango als eigene Musikform
Piazzolla und die weniger berühmten Weggenossen wie der zitierte unglückliche Eduardo Rovira wollten den Tango den Tänzern nicht wegnehmen. Es gab ja weiterhin gute Tanzorchester in den Sechzigern.
Piazzolla und die Modernisten suchten neue musikalische Herausforderungen und neue Ufer. Damit haben sie ungewollt den Tango gerettet. Denn, Hand aufs Herz, Ende der Fünfzigerjahre überflutete der Rock’n’Roll die westliche Welt wie ein Tsunami und schon wenige Jahre später revolutionierten die Beatles und andere innovative Rockbands die Musikwelt.
Persönlich bin ich davon überzeugt, dass man zu etlichen TangoNuevo-Stücken sehr gut tanzen kann. Dazu könnt ich ein andermal mehr darüber schreiben, weshalb ich auf Beispiele verzichte.
Warum aber spielen die DJs diese Musik nicht? Zuweilen ist es ein Gemisch von Ignoranz und von Arroganz, häufig aber von Opportunismus und Angepasstheit.
Wohin führt der Tango?
Diese Frage sollte sich jeder Tangoliebhaber, ob Tänzer oder nur Zuhörer (ja, davon gibt es viele, vornehmlich in Argentinien), einmal stellen. Sie lässt sich einfacher beantworten, wenn wir kurz die Wurzeln zu ahnen versuchen.
Egal in welcher Reihenfolge, im Tango finden wir die Canzonetta der Italienischen Immigranten, die Spanische Habanera mit weiteren orientalischen Einflüssen und natürlich die Spanische Kultur.
Komponisten wie Canaro, Pugliese oder Mores bedienten sich fleissig der späten Klassik, der Italienischen Oper oder des Französischen Impressionismus, von Tschaikowsky über Waldteufel und Verdi bis Ravel, was ja in den 30ern noch nicht so „alt“ klingen musste.
Im Candombe finden wir Afrikanische Elemente und ausserdem flossen auch Einflüsse der Argentinischen Volksmusik in den Tango von Buenos Aires und Montevideo.
Hört man gewissen Stücken von Piazzolla aus den späten Sechzigern zu, winkt sein Zeitgenosse Philip Glass aus New York. Es hat mich auch nicht überrascht, dass Piazzolla während seiner Pariser Zeit ähnlich arrangierte wie sein Französischer Zeitgenosse Michel Legrand, der auch bei Frau Boulanger studiert hatte.
Horacio Salgáns eigenwillige Spielweise erinnert uns am Jazzpianisten Erroll Garner, der am gleichen Tag Geburtstag hatte.
Atilio Stampone studierte Musik im Italien, als Nino Rota grossartige Musik für die Filme von Fellini kreierte. Ich kann viele weitere Verbindungen erahnen und die Liste liesse sich fortsetzen.
Was bei allen Querverbindungen jedoch zu betonen ist. Tango ist sich selber. Tango ist eine musikalische Kunstform (und überdies noch einiges mehr), die ein eigenes Gewicht hat, genauso wie die Musik aus Kuba, aus Brasilien oder der Jazz. Pugliese verwendete für Tango meist nur den Begriff „Musica popular“ und Piazzolla meinte zuweilen, er spiele einfach Musik aus Buenos Aires, was eine durchaus berechtigte Formulierung ist.
Und damit liegt die Antwort fast auf der Hand. Die Stärke des Tangos liegt just in der Offenheit fremde Einflüsse zu integrieren. Wenn wir heute bei den Modernisten, moderne Elemente hören, die von der „atonalen“ Musik geprägt sind, von Drum’n’Bass, von Rockmusik und diversen Jazzrichtungen und Volksmusik aus aller Welt, namentlich aus dem Balkan, aus der Türkei oder aus Russland („Ojos negros“), spüren wir wie sich auch Tangomusik diversifiziert. Gewiss, es soll nicht immer tanzbar sein. Aber es ist ein gemeinsames Abenteuer. Spätestens jetzt drängt sich die Liebe für das grosse Argentinische Kulturverständnis auf.
https://www.youtube.com/watch?v=Wtuh2dfTbBE
Tango und Tanzen
Vielleicht existiert tatsächlich ein Dualismus zwischen den Tänzern und den reinen Musikaffinen. Den Tänzern ist es geschuldet, dass Tango fast in jeder grösseren Stadt dieser Erde popularisiert wird, fast schon wie in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Andererseits verbieten viele Tänzer, dass der Tango sich aus seinem künstlerischen Korsett befreit.
Ich bin trotzdem guter Dinge. Es freut mich unendlich, dass so viele Frauen mit denen ich tanzen darf, einen grossen musikalischen Horizont haben, weit mehr als viele Männer der Tanzszene.
Laut nachgedacht glaube ich, dass der Tango weiterhin die Argentinische Volksmusik, insbesondere Rock und Pop, beseelt. Tango floss übrigens über die beiden Argentinier Lalo Schifrin und Louis Enriquez Bacalov insgeheim in die Filmmusik.
https://www.youtube.com/watch?v=95IvXVD0Utc
Die synkopierten Riffs beim berühmten Titelsong „Mission impossible“ erinnern mich schwer an das Ostinato der Bandoneones von Osvaldo Pugliese. Jazz oder Tango? Huhn oder Ei?
https://www.youtube.com/watch?v=7HFakjigeFc
Tango wird aber auch im Sektor „leichte Klassik“, sofern solche Kategorien noch zulässig sind, viel zu reden geben. Nicht umsonst ist der Starviolinist Guidon Kremer der Musik von Astor Piazzolla derart verfallen. Dabei haben wir noch gar nicht von der Ästhetik eines Fresedo oder eines Canaro und vielen anderen gesprochen.
Tango lebt und hat insgeheim die Sphäre der Weltmusik erobert und ist mit dieser verschmolzen.
Mir kamen fast die Tränen als ich letzten Juni einen gut gelaunten Mariano „Ciccio“ Frumboli mit Moira Castellano in Zürich zur Musik von Erik Satie tanzen sah. Wenn das nicht Tango ist?
https://vimeo.com/271209026
Insofern möchte ich schliessen mit der Musik von Leopoldo Federico und behaupten, dass man dazu bald und gerne tanzen wird.
https://www.youtube.com/watch?v=oNbYwHWyA9U
Tango zwischen gestern und morgen. Tango im Niemandsland zwischen Abend und Morgendämmerung, dort wo die Seele atmet, gestern, heute und morgen. Tango bist Du. Tango sind wir, wo auch immer wir sind.
https://www.youtube.com/watch?v=dK3sSaB76k4
(BB)
p.s. Die tänzerische Interpretation von Carlos Cavito und Marcela Duran zu „Para Evaristo Carriego“ finde ich schrecklich. Sie geht an die tiefe Melancholie vorbei, die in der Komposition steckt, wie auch im Arrangement von Pugliese trotz der „lautstarken“ Dramaturgie.
Vielen Dank für diesen ausführlichen Kommentar. Ich werde mir Zeit für eine Antwort nehmen. Aber in dieser Woche bin ich mit dem Contemporary Tangofestival beschäftigt.