Zum Glück bin ich nur Blogger. Kein DJ. Zu viel Stress. Aber ich lese gern, was “Musicalizadores” aus ihrer Werkstatt berichten. Mein Liebling ist die Wienerin Sylvia Dorn, die in unregelmäßigen Abständen vom “Tanda Basteln” erzählt. https://www.facebook.com/christine.dorn.37 Das klingt gemütlich. Doch wie oft quält sie sich mit der Frage, ob dies oder jenes musikalische Konstrukt ihren Gästen zumutbar sei. Meist gefallen mir die Tandas am besten, bei denen sie die größten Bedenken hat. Aber das ist ein anderes Thema…
Hier geht’s um jemand anderen – einen, der sich vor allem als Schreiber einen Namen gemacht hat. Zu den Einträgen in meiner “Blogroll” zählt nach wie vor das Portal des fast verstummten Cassiel.
Zur Erläuterung für die Jüngeren: Jahre lang war Casssiel https://tangoplauderei.blogspot. das, was Gerhard Riedl http://milongafuehrer.blogspot.com heute ist: Der fleißigste Be-Blogger der Tango Szene. Nur mit umgekehrten Vorzeichen. Fast humorfrei achtete er mit eiserner Sanftmut auf die Einhaltung jener Grenzen, die für ihn den richtigen Tango einhegten: Figurenarmer Tanz in enger Umarmung, kontaktlose Fernaufforderung per Augenkontakt (“Cabeceo”). Alles zu Musik, die allerspätestens Ende der 1950er Jahre entstanden sein durfte, also der “Epoca d’Oro” entstammen musste. Wie der klar benamte Oberbayer Gegner sammelt, scharte der Engel aus den Sphären der Anonymität Jünger um sich. http://kroestango.de/aktuelles/seit-zehn-jahren-plaudert-cassiel/ Aber irgendwann wusste er nichts mehr zu sagen – warum auch immer.
Ab und an schaue ich immer noch rein – besonders gern in die Eintragungen aus seiner Frühzeit, als er sich der Mühe unterzog, jede Woche einen Tango vorzustellen. Auch solche, die nicht den Geboten der goldiger Rechtgläubigkeit gehorchten. Da hab ich erstaunliche Funde gemacht. Einer davon steht am Ende dieses Beitrags. Als Nachtisch. Bei den Planungen für meinen Blog hab ich dergleichen auch überlegt… aber wieder verworfen. Dem Zwang zur der Regelmäßigkeit mochte ich mich nicht aussetzen.
Neulich bin ich bei einem Text hängen geblieben, in dem Cassiel über das Basteln einer Tanda berichtet. Es begann dort, wo auch etliche meiner Blogtexte ihren Anfang nehmen: In der Küche. Beim Kochen von Nudeln dudelte eine präfabrizierte Playlist. Und dann geschah es:
“Mein Ohr hakte ein bei Adiós corazón, ein später Di Sarli gesungen von Roberto Florio… sehr langsam – feierlich getragen. Das gefiel mir musikalisch ganz besonders gut. Klar! Gesungene Di Sarlis da denkt man an Durán, Rufino oder Podestá. Mich hat die Stimme von Florio dann aber doch gepackt. Also suchte ich mir alle Di Sarli-Tangos gesungen von Roberto Florio heraus und nach mehrmaligem Durchhören blieben (neben dem bereits erwähnten Adiós corazón) folgende Titel übrig: Fumando Espero https://youtu.be/QmwfL8OTQns , Y todavia te quiero https://youtu.be/ICSNTMkwund Buenos Aires. https://youtu.be/XK2iXizfYJ0Alle Titel sind ähnlich langsam und getragen .”
Ich weiß nicht, ob Cassiels Nudeln darüber zu Brei geworden sind oder ob er sie rechtzeitig vor seinem Hörmarathon verspeist hat. Dass “Adios Corazon” den krönenden Abschluss bilden würde, war meine Vermutung. Denn ich liebe das Stück, wenngleich in der Version eines Orchesters, das bei manchen eingefleischten Traditionalisten nicht sonderlich hoch im Kurs steht: Eine international angesehene D-Jane drohte auf Facebook sogar einmal, sie würde eine Milonga verlassen, sobald dieser Gottseibeiuns erklänge. Für meinen Geschmack dagegen bilden die flirrenden Violinen in Fulvio Salamancas Fassung einen der schönsten Anfänge im klassischen Tango.
Aber zurück zu Cassiels Bastelstunde. Schließlich mussten die übrigen drei Titel noch in die rechte Reihenfolge gebracht werden:
“Nach einigen Überlegungen habe ich Fumando espero an den Anfang der Tanda gestellt. Es ist bekannt und die sehr homogenen Violinen zu Beginn sind vielleicht programmatisch für die Tanda. Fest stand auch, daß Adiós corazón an das Ende der Tanda wandert. Es bildet (zumindest für mein Empfinden) virtuos die Quintessenz dieser Stücke.” Auf die Positionen zwei und drei hat Cassiel schließlich Y todavia te quiero https://youtu.be/ICSNTMkw Ba0 und Buenos Aires https://youtu.be/XK2iXizfYJ0 gestellt. Denn “Y todavia te quiero ist ähnlich lyrisch wie das Largo oder Adagio im 2. Satz einer Symphonie. Buenos Aires ist zwar nicht wesentlich schneller aber deutlich weniger dramatisch”.
Ob viele DJs so tief schürfen? Egal. Nachdem die Binnenstruktur feststand, ging es noch um die Frage, an welche Stelle einer Veranstaltung der wenig flotte Vierer passt. Weil die Stücke alle “sehr getragen” daher kommen, konnte Cassiel sie sich am besten “direkt nach einer Milonga-Tanda am späteren Abend” vorstellen. Zum Verschnaufen. Kein Widerspruch! Aber nach einer fetzigen Milonga-Runde hab ich, als wir noch tanzen durften, auch gern mal einen kompletten Lockdown eingelegt. Ohne Tanz. Ob Cassiels Tanda mich zurück auf die Pista getragen hätte? Sicher nicht ohne die Hilfe einer Partnerin, mit der ich auch gern tanze, wenn ich die Musik eher so lala finde. Denn für meinen Geschmack ist des Erzengels Nudelei ein eher wenig inspirierendes Teil aus der Rubrik: Allerweltstango. Da liegt auch am Sänger. (1) Ob die Küchen-Tanda den Praxis-Test einer Milonga bestanden hat, ist leider ebenso wenig überliefert wie die Qualität seines Nudelgerichts.
Ach ja, zum Schluss der Beschäftigung mit Cassiels Bastelstunde wäre ich beinahe in Versuchung gekommen. Wie wär´s, wenn ich mich an einer Tanda rund um “Adios Corazon” a la Salamanca versuchte? Der Gedanke begann mich umso mehr zu reizen, als ich die Beispiels-Tandas von DJs im Netz ziemlich unbefriedigend fand. Immer dieselben Hit-Zusammenstellungen: “Bombocito” https://youtu.be/RYrqkHBu9qg , “Todo es amor” https://youtu.be/14Fz4BZq7AA , “Hasta siempre amor” https://youtu.be/MhnJYT5-e-I . Undsoweiter. Irgendwann fand ich die flirrenden Geigen am Anfang nicht mehr originell. Doch dann bin ich auf eine Alternative gestoßen.
Der argentinische DJ Carlos Gianna, https://www.carlostangodj.com, Gründer des Youtube Kanals “Cantando Tangos” https://www.youtube.com/c/CantandoTangosPlus/featured, hat eine Tanda mit lauter instrumentalen Stücken von Fulvio Salamanca zusammengestellt. Faszinierend. Da hab’ ich ihn ein Stück weit neu entdeckt. Genuss ohne Stress. Ich bin ja kein DJ..
Naxhtisch: Bei Gelegenheit dieser Küchen-Tanda hab´ ich noch etwas gefunden: Cassiels ersten Blogtext. https://tangoplauderei.blogspot.com/2009/02/willko: mmen-bei-der-plauderei-uber-den.html Und obendrein ein Musikstück, das ihm so schnell niemand zutrauen würde: Tristeza de un doble A von und mit Astor Piazzolla. Das doppelte “A” spielt übrigens nicht nur auf die beiden “A” im Namen des Bandoneon-Bauers Alfred Arnold an, wie der Plauderer uns mitteilt. Piazzolla hat mit Amelita Baltar, die seinen ersten Hit “Balada para un Loco” aufgenommen hat, nicht nur gemeinsam Musik gemacht. Als er “Tristeza de un Doble A schrieb, steckten die beiden tief in einer Beziehungskrise: Es dürften also auch die Anfangsbuchstaben beider Namen gemeint sein. Da die Musik-Links der “Plaudereien” nicht erhalten sind, hab ich einfach eine der kürzeren Versionen gewählt. Über Astor Piazzolla insgesamt siehe meinen Text: http://kroestango.de/aktuelles/nein-mein-junge-das-ist-kein-tango-zum-100-geburtstag-von-astor-piazzolla/
(*) https://tangoplauderei.blogspot.com/2009/10/die-tango-tanda-ein-hochst-subjektives.html Ausnahmsweise eine kleine Rechtschreibkorrektur: Auch wenn’s Jahre lang niemandem aufgefaIlen ist – ich hab mir erlaubt, das überzählige “h” aus Cassiels “Largho”)zu entfernen.
(1) Ich gebe zu: Durch Cassiels Blog hab ich Roberto Florio zum ersten Mal bewusst wahrgenommen. Ich habe mir dann einiges von ihm angehört, auch über die hier vorgestellte Tanda hinaus. Mein Eindruck: Der stärkste unter Carlos Di Sarlis Sängern war er nicht. Ohnehin ist der “Senor” für mich eher der König des instrumentalen Tango. http://kroestango.de/aktuelles/carlos-di-sarli-der-glenn-miller-des-tango/
1 Comment
Wenn ich DJ wäre würde ich es schwer finden eine Salamanca Tanda zu bauen, die auf Adios Corazon beruht und nicht die Standardschmalzstücke enthält.
Die benannten vier haben einfach einen besonderen, romantischen Stil. Ich finde von ihm nicht viel was wirklich dazu passen würde. Vielleicht noch Alma en pena- irgendwie aber auch nicht. Ich habe Salamanca früher sehr geschätzt, finde ihn inzwischen aber irgendwie ausgenudelt. Man kann sich schnell daran satt hören. Was ich immer noch an besagter Tanda mag ist, dass, gerade wenn alles auf einen ruhigen Schluss hindeutet nochmal ein paar knackig-dynamisch Takte kommen und man plötzlich nochmal eine calesita tanzt, statt des erwarteten dramatischen Abschlusses 🙂
Beim Thema Sylvia Dorn bin ich ganz bei Dir.