Bilanz? Nicht ganz! Die 100 Tage sind sowieso vorbei. Statt 1000 hab ich inzwischen fast 1800 Zugriffe auf meine Startseite zu verzeichnen. Da kann ich noch ein wenig warten, ehe ich übers Bloggen im Allgemeinen und das meine im Besonderen philosophiere – bis mir etwas Zündendes einfällt, zum Beispiel. Stattdessen löse ich lieber das Versprechen ein, dass ich meinem Leser und Facebookfreund Eddy Schiebener (*) schon vor einiger Zeit gegeben habe: Ich schreibe etwas über das Verhältnis von musikalischer Wiederholung und tänzerischer Improvisation. An Stelle eine großen Bilanz also eine kleine Provokation.
In meinem – notabene bislang erfolgreichsten – Blogbeitrag „Tangotanzen macht lustig“ hatte ich (unter anderem) die Gleichförmigkeit des Repertoires vieler DJs beklagt, die sich auf Musik aus der Epoca d’Oro des Tango beschränken. Dies führe dazu, so meine, zugegeben, durchaus steile These, dass gerade sich gut oder besser dünkende Tänzer statt zu improvisieren immer wieder mit eingeübten Mustern operierten (**) Obendrein langweilt es mich zutiefst und verleidet mir zunehmend die Teilnahme an derlei Veranstaltungen.
Wie die meisten Afficionadas/os der Goldenen Zeiten hat Eddy Schiebener dies Problem nicht. Im Gegenteil. Er meint, „bei der Gleichförmigkeit und der Tatsache über einen langen Zeitraum immer wieder das gleiche hören zu müssen, ein Paradoxon entdeckt“ zu haben. Danach stelle „die wirkliche Improvisation sich erst nach jahrelangem Hören“ ein. „Nicht in der Auswahl irgendwelcher hipper Figuren oder Schritten sondern eher in der Fähigkeit deines Körpers durch Timing die Musik wiederzugeben. Erst dann sieht der Tanz auch so aus wie das Gehörte…“ (***)
Das klingt verführerisch, aber… Wie sieht Musik aus? Wenn das Bolschoi-Ballett „Schwanensee“ tanzt, sicher ein wenig anders als wenn eine Compagnie unter der Leitung von Sascha Waletz es tut. Was unterscheidet „wirkliche“ Improvisation von nicht wirklicher? Oder meinte E. S.: Vollendete Improviation und unvollkommene? Vor allem: Wer entscheidet zwischen beiden und nach welchen Kriterien?
Ich kenne die Differenz zwischen Showtanz und dem, was wir in den Milongas tanzen. Aber wenn ich mir auf Youtube Videos mehr oder weniger berühmter Tangopaare anschaue, denn unterscheiden sich deren verschiedene Versionen eines Titels in aller Regel nicht grundlegend von einander. Alles andere wäre verwunderlich. Denn sie haben sich intensiv mit dem Stück auseinandergesetzt, um herauszufinden, wie es am besten zu interpretieren sei – für sich und für ihr Publikum. Bei einem anderen Paar kann dieselbe Musik ganz anderes aussehen. Wie bei Bolschoi und Sascha Waltz. Oder auch nicht.
Doch halten wir Normaltänzer es nicht ähnlich, wenn wir ein ums andere Mal auf, sagen wir: „Hotel Victoria“ in der Version von Juan d’Arienzo tanzen? Mit der Zeit schleicht sich, ob wir es wollen oder nicht, ob wir es merken oder nicht, eine Art von Choreografie ein. Keineswegs immer als bewusste Entscheidung wie bei den Profis. Im Alltag des Tango wird diese eingeübte „Wiedergabe der Musik“ (E. S.) zur Grundlage unserer persönlichen „Kür“. Selbstverständlich variieren wir sie – aber meist weniger durch einen bewussten Akt, als durch die Tagesform bedingt, die Fülle der Pista und und nicht zu vergessen: unterschiedliche Tanzpartner. Aber das Gerüst steht. Ist es wirklich realistisch, zu unterstellen, dass uns zwischen dem 41. und 42. oder gar 95. und 96. Hören etwas grundlegend Neues einfällt – weil wir das Stück im Laufe der Jahre immer tiefer durchdrungen haben?
Den Vorwurf der Oberflächlichkeit in Kauf nehmend, bezweifele ich das. Ich räume aber ein, dass es komplexe Stücke gibt, bei denen wir länger brauchen als gewöhnlich, bis wir unsere persönliche Herantanzensweise gefunden zu haben. Deren ungeschriebene Choreografie tanzen wir (oder wenigstens die meisten von uns) dann mit den üblichen mehr oder weniger großen Variationen. Kluge Tangolehrer halten uns daher immer wieder dazu an, unsere eigenen Muster aufzubrechen, die wir zum guten Teil auch unabhängig davon tanzen, welche Musik zu unseren Bewegungen erklingt.
Vor dem Abspulen unserer persönlichen Maschen, bewahrt auch nicht mein Wunsch nach mehr Abwechslung in der Milonga. Im Gegenteil. Es kann sogar sein, das TänzerInnen, die sich durch die Begegnung mit einer für sie unbekannten Musik verunsichert fühlen – und deshalb erst recht „ihren Stiefel“abtanzen. Das ist erstens verständlich. Zweitens halte ich es für durchaus hilfreich, ein neues Terrain zunächst mit vertrauten Schritten und Figuren zu erkunden.
Siehst Du, sagen dann die Freunde der Wiederholung: Du willst bloß nichts Neues lernen, sondern Dich nur mit Deinen alten Fähigkeiten durchwursteln. Stimmt. Ein bisschen. Aber auch nicht mehr. Denn das ist ja nur der Beginn der wunderbaren tänzerischen Eroberung eines neuen musikalischen Landschaft. Wenn es gut geht, bleibe ich beim Hören neuer Musik eben nicht im Bewährten stecken, sondern transzendiere mit ihrer Hilfe ein Stück weit meine bisherigen tänzerischen Fähigkeiten. Oder mit dem berühmten Satz von Tete Rusconi: Die Musik führt mich (****) – im Zweifel sogar über mich hinaus.
In diesem Zusammenhang warne ich vor dem in der Szene verbreiteten Perfektionsdrang. Denn er ist es zu einem guten, respektive schlechten Teil, der zu Unsicherheit, Verkrampfung und in der Folge zu Angst vor Unbekanntem führt. Die Beziehung zu einem neuen Musik Stück kann (fast) auf Anhieb gelingen. Muss sie aber nicht. Na und? Deshalb plädiere ich für Unbefangenheit, Neugier und Experimentierfreude. Tangos, auch die komplizierten, haben eine relativ schlichte Struktur. Wer sie kennt, kann nicht ganz in die Irre tanzen. Da ich von anderen Menschen als „kompliziert“ gewertete Musik liebe (von Horacio Salgan über Osvaldo Pugliese bis zu Astor Piazzolla), füge ich hinzu: Man/frau muss auf komplizierte Musik nicht kompliziert tanzen. Nötig ist nur, genau hinzuhören – um so seine persönliche Art der Darstellung zu finden. (*****)
Dennoch bleibt es auch für mich eine immer wieder aufregende Herausforderung, ohne Vorbereitung in einer Milonga ein neues Stück auszuprobieren, womöglich noch mit einer mir bisher unbekannten Tänzerin. Aber dieser Thrill macht einen großen Teil des Reizes aus, den der Tango auf mich ausübt. Zu häufiges Hören selbst meiner Lieblingstitel in zu kurzer Folge kann bei mir Langeweile, irgendwann sogar Überdruss erzeugen. (******) Neue oder selten gespielte Stücke, die mir gefallen, heben dagegen (wie neue Tanzpartnerinnen) schlagartig meinen Adrenalin- und Endorphinspiegel. Mit zunehmender Vertrautheit kann dieser Effekt durchaus wieder abebben. Aber wie oft wird schon (zum Beispiel) „Deus xango“ von Astor Piazzolla und Gerry Mulligan in einer Milonga gespielt?
Statt meinen Tango am immer wieder repetierten Repertoire sauber zu polieren, schätze ich die vielleicht unvollkommene, emotional aber hoch aufgeladener Rohfassung der frischen Begegnung mit einem für mich neuen Stück. Ich weiß anschließend meist nicht einmal, wwelche Schritte ich da genau getanzt habe. Es ist der legendäre „Flow“, der sich da einstellt und mich mit der Musik und der Partnerin zu einer Einheit verschmelzt. Aber ich will diese Methode nicht verabsolutieren. Andere lernen, erfahren, tanzen anders.
Wenn ich meines Tuns und Tanzens bewusst bin, dann halte ich es mit Vio, einer ungewöhnlichen amerikanischen Profitänzerin und Tangolehrerin, die sich in Berlin niedergelassen hat. Weder strebe ich ihren nuevo-ähnlichen Tanzstil an, noch teile ich ihren Musikgeschmack. Aber ich finde ihre Risikobereitschaft und Experimentierfreude grandios. Wie heißt es im Anlauftext ihres Videos, mit dem ich diesen Beitrag eröffnet habe: „Tangoforge engagiert sich für den Beweis, dass wir improvisieren, um uns selbst auszuprobieren und den Tango durch Tanz zu unbekannter Musik auszuprobieren. Dies ist ein Song, zu dem ich noch nie geführt habe. Jessica (ihre Partnerin,T.K.) hat ihn vorher noch nie gehört.“ (*******) Ein solcher Schritt ins Offene kann aus meiner Sicht dem Tango jeglicher Couleur nur gut tun, wenn er überleben, sich erneuern und neue Interessenten erreichen will.
(*) Im Internet ist er unter http://www.indanza.de zu finden.
(**) kroestango.de 14. März 2018
(***) Kommentar auf kroestango.de am 15. März 20118 um 13.48 Uhr.r
(****)“La mu´sica me lleva“, zit. Nach Michael Lavocah, Tango Stories
(*****) Einer der für mich wichtigsten Workshops, an denen ich je teilgenommen habe, war ein Musikalitäts-Seminar von Murat Erdemsel (damals noch mit Michelle). Da haben wir „Bahia Blanca“ von Carlos di Sarli Stück für Stück auseinander genommen und wieder zusammengesetzt, um so die typische Struktur eines Tango kennenzulernen. Mit diesem Wissen hat jedes Paar eine seinen tänzerischen Fähigkeiten entsprechende Choreografie entwickelt. Ich profitiere bis heute davon – gerade bei für mich neuen Stücken.
(******) Zur Zeit etwa brauche ich eine Pause von einigen Stücken Osvaldo Puglieses, die in den Milongas zu Tode genudelt werden.
(*******) http://tangoforge.com. Statt Führen und Folgen verwendet Vio die Begriffe „mark“ and „revell“. Mehr zu ihrem Konzept auf ihrer Site.
4 Comments
Hallo Thomas, ich stimme dir voll zu: Mit Musik wie oben im Video fordern wir uns heraus, unsere kreativen Fähigkeiten, unsere Spontaneität. Ich finde das toll. Ich brauche das auch immer wieder. Für mich macht es aber die Mischung. Nur so was oder nur die “ewigen Klassiker” – das wäre mir zu einseitig.
Ich lege überwiegend aus der Epoca D´Oro auf, kann aber auch gemischt oder sogar 100% Neo/Non, wenn es gewünscht wird. Experimente mag ich, aber nicht jeder Veranstalter ist dazu bereit. Als Tänzerin kann ich nicht bestätigen, dass sich bei oft gehörten und betanzten Stücken ein “Abspulen” von Gewohntem einstellt. Kein Tanz ist wie der andere: Wie geht es mir heute, wie geht es meinem Partner/meiner Partnerin, folge oder führe ich, mit wem tanze ich? Diese und noch mehr Faktoren setzen sich für mich immer wieder neu zusammen und ergeben immer neue Tanzerlebnisse. Bis auf einige Leute, da gebe ich dir Recht, die immer die gleichen Schritt- und Bewegungsfolgen anbieten. Das ist auch wirklich langweilig. Mit der Musik hat das aber nach meinem Empfinden weniger zu tun als mit Können, Verständnis für den Tango und mit der Bereitschaft, sich einzulassen auf etwas Neues. So jemand wäre mit Musik wie oben komplett überfordert, es würde ihn nicht wirklich zu Neuem anregen, weil er es nicht umsetzen kann.
Liebe Grüße von Dana
Vielen Dank für Deinen differenzierten Kommentar, liebe Dana. Darf ich fragen, wo Du auflegst? Ich hab übrigens durchaus nichts gegen reine Edo-Veranstaltungen, solange sie sich nicht auf die üblichen Top of the Pops, incl. vorgefertigter Tandas beschränken. Aber lieber hab ich mixed Milongas. 100prozentiges mag ich auch auf der “anderen Seite” nicht, zumal die alternativen DJs häufig über keinen größeren Kanon verfügen als die Edoistas. Wenn die “klassische” Musik aus meiner Sicht gut ist, reichen mir auch ein paar eingestreute Rocknroll-, Swing- oder Latinstücke zum Ausschütteln des Körpers und Durchspülen der Ohren. Was Improvisation im Tanz und Gleichförmigkeit der Musik angeht… Vielleicht schließe ich ja zu sehr von mir auf andere, aber wenn ich zum xten Mal ein Stück höre, das mir schon beim vorigen Mal auf den Wecker gegangen ist – fällt mir schlicht nix ein außer dem Wunsch: hoffentlich isses bald vorbei. Und sorry, ich hab keine validen empirischen Belege. Aber dass Menschen beim Hören immer wieder derselben Musik immer wieder neue Bewegungen vollführen – diese Annahme widerstrebt schlicht meiner (auch außertänzerischen) Lebenserfahrung). Leider werden wir wohl so schnell niemanden finden der/die diese Frage jenseits unserer persönlichen Perzeptionen tanzwissenschaftlich einer Klärung näher bringt. Gutnächtliche Grüße Thomas
hallo Thomas, danke dass du mich und meine Meinung erwähnt hast. ich denke als Tänzer gehst du immer auf die Piste um deine Partnerinnen mit neuen Überraschungen zu beschenken. Das bedeutet, dass deine eigene Neugier nicht nachlässt und du in der Lage bist auch nach 1000maligem hören noch etwas in der Musik zu entdecken, das die Entwicklung deines Tanzes beeinflusst. Momentan beschäftige ich mich z. B. mit dem Thema: ” Tanzen ohne Schritte” (Cadencia), das erheblich zum Wohlfühleffekt beitragen kann. Ein anderes Thema ist ” Timing”. Die Art und Weise wie man den Zeitablauf einzelner Bewegungen gestaltet. Hier gibt es eine Potenzierung von Möglichkeiten. Ich glaube, wenn man offen bleibt was Musik und Tanz angeht, kann keine Monotonie und damit Langeweile aufkommen.
Liebe Grüße
Eddy
noch vergessen: wirkliche Improvisation fängt da an wo das Nachdenken darüber was ich als nächstes tue aufhört, das scheint mir auf obigem Video nicht der Fall zu sein.
lg Eddy