Sie ist wieder Grün. Nach 14 Tagen Rot hat die Warn-Kachel in meinem Smartphone auf „Niedriges Risiko“ geschaltet. Glück gehabt, aber auch verdient, find ich. In Anlehnung an einen weiteren Werbespot: Negativ ist das neue Positiv. Mir fällt auf Anhieb niemand ein, der braver als ich den Anordnungen von Papa Karl und Onkel Lothar Folge leistet. Außer meiner Liebsten. Aber die muss noch ins Büro. Fast jeden Tag macht sie einen kleinen Umweg zur nahe gelegenen Teststation unseres Vertrauens.
Früher hab’ ich behauptet, nach zwei oder drei Tagen ohne Tango befalle mich schlechte Laune. Rund zwei Jahre ist das inzwischen her. Zum letzten Mal hab ich getanzt, als der Herbst noch Reste sommerlicher Temperaturen enthielt. Was anderes als draußen kam ohnehin nicht in Frage. Meine Laune ist inzwischen unabhängig vom Tanzen. Beim aktuellen Wetter sowieso.
Stattdessen reagiere ich auf Mitteilungen ehemaliger Tanzpartnerinnen, die von ihren Infektionen berichten. Alle geimpft. Und geboostert. Mit einer von ihnen habe ich ins neue Jahr gefeiert. Und getanzt. Die ganze vorschriftsgemäß kleine Gesellschaft frisch getestet. Aber das waren noch Delta-Zeiten. Also negativ. Immerhin nur eine Person von zehn. Die Symptome nach ihrer Aussage: Unangenehm, aber erträglich. Kein Krankenhausbedarf. Nur Einkaufshilfe in der selbst verordneten Quarantäne daheim.
Omikron scheint in der Tat noch a bisserl verbreitungsfreudiger zu sein als Delta. Einerseits. Andererseits die Symptomatik: Eher mild. Ich mags dennoch nicht haben. Deshalb bleibe ich bei meiner „splendid isolation“ zuhause. Für mich als notorischen Einzelgänger gibt es Schlimmeres. Auch in den Milongas bin ich früher abseits der Tanzfläche meistens eher für mich geblieben.
Heutzutage gehe ich zum Einkaufen in den nahe gelegenen Supermarkt, ab und an zum Open Air Gemüsestand. Gelegentlich ein Ausflug in meinen alten westlichen Kiez zum Frühstück am Samstag Morgen. Ein preußisch ordentliches italienisches Cafe mit Kontrolle des Impfausweises, aufgelockerter Sitzordnung und hinreichender Auswahl an Zeitungen im Totholz-Format. Eine schöne Abwechslung für mich als notorischen Online-Leser.
Wir haben den Umzug in den Osten der Stadt noch nicht bereut. Aber die gastronomische Infrastruktur lässt hier halt zu wünschen übrig. Immer noch. Unser Feinkostgeschäft liegt jenseits des Streifens, wo einst Mauer und Stacheldraht die Stadt teilten: In Kreuzberg. Zum Glück ist das für uns nicht weit.
Ab und an laden wir Freunde zum Essen ein. Aber statt der früher üblichen sechs bis acht Menschen versammeln wir uns nur noch zu viert um unseren großen Tisch. Alle vier bis sechs Wochen gönnen wir uns einen Theaterbesuch mit anschließendem Abstecher in ein Restaurant. Nach einem dieser Ausflüge färbte sich meine Warnplatte rot. Der Schnelltest hat uns dann wieder beruhigt. Aber die leichte Unruhe ist da. Immer wieder.
Unser Aktionsradius ist geschrumpft, meiner zumal – obwohl ich mit meinen gut 70 Jahren nicht zur neuen, deutlich jüngeren Risiko-Gruppe zähle. Dennoch empfiehlt die „Ständige Impfkommission“ für meinesgleichen neuerdings eine vierte Impfung. Also den Doppel-Booster. Wirkliche Entwarnung sieht anders aus.
Ich nutze U-Bahn und Bus nur, wenn es unbedingt sein muss. Etwa zum Arztbesuch. Neulich haben wir uns einen Mietwagen geleistet und sind aus unserer kleinen Welt ausgebrochen. Ausflug ins Nachbarland. Nach Brandenburg. Ohne festen Plan, einfach drauflos. Am Weg haben wir ein herrliches Fisch-Lokal gefunden. Testanruf: „Wir haben aber nicht reserviert.“ – „Macht nichts. Hauptsache Sie sind geimpft.“ Das wurde am Eingang auch kontrolliert. Das Essen war so gut, wie wir gehofft hatten. Danach noch ein Abstecher in einen ländlichen Hofladen. Wie früher. Fast jedenfalls.
Gerade haben wir unsere private Boule-Saison eröffnet. Praktischerweise gibt es einen Platz für unser neues Hobby gleich vor dem Gebäude, in dem die Liebste arbeitet. Nach einer Stunde in der Kälte war uns jedoch klar: Das ist noch nicht das angemessene Wetter…
Und der Tango? Wird ohne Winterpause getanzt in Berlin. Outdoor an mehreren Stellen. Ohne uns. Siehe oben. Aber auch drinnen lebt er. Die düsteren Prophezeiungen des Lobby-Vereins „Pro Tango“ haben sich nicht bewahrheitet. Wie weit sich die Einkünfte der Profis verringert haben – keine Ahnung. In Berlin hat jedenfalls keine Schule wegen der Pandemie ihren Betrieb eingestellt. Bisher. Das berühmte „Tangoloft“ ist wohl weniger wegen Corona als wegen der galoppierenden Gentrifizierung über den Jordan gegangen.
Wem es auf Unterricht ankommt, der/die hat kein Problem, eine Gelegenheit zu finden. Die Tango-Schulen und -Veranstalter haben obendrein schon vor längerer Zeit begonnen, den Unterrichtsbegriff zu ihren Gunsten, ich sag mal: schöpferisch auszulegen. Da es keine „Tanzlustbarkeiten“ – ich liiiebe dies bürokratische Wortmonstrum – geben darf, gibt es auch keine Milongas. Aber Üben gehört doch zum Unterricht. Oder? So besann man sich frühzeitig des Begriffs der „Practica“ – also jener Übungseinheit, die es (nicht nur) in Buenos Aires traditionell vor vielen Milongas gibt.
In der „Epoca Corona“ ist, jedenfalls in Berlin, ein Teil der Milongas schlicht umbenannt worden. Sie heißen nun „Practicas“ oder auch “Practilonga”. Tanzlehrer sind anwesend. Aber sie mischen sich in der Regel nicht ungefragt ein. Der wichtigste Unterschied: Die Verbindlichkeit der Anmeldung. Die Veranstalter wollen einen Überblick über die TeilnehmerInnen behalten. Ist damit auch eine Mengenbegrenzung verbunden? Jedenfalls wird sie in den Ankündigungen nicht immer verraten.
Auf jeden Fall gilt das amtliche Hygiene-Reglement, also derzeit: 2 G plus ein tagesaktueller Schnelltest. Anfangs hieß es noch: Ohne Tanzpartnerwechsel. Ich habe ich an der ein oder anderen Practica dieser Art teilgenommen – mit restriktiven Teilnehmer-Begrenzungen. Es waren ziemlich traurige Veranstaltungen. Unter geboosterten und getesteten Tänzerinnen und Tänzern ist davon nicht mehr die Rede. Ich habe gerade eine Tanzbekannte getroffen, die genau zwei Mal an einer beliebten Practica teilgenommen hat: Das erste und das letzte Mal. Es sei ihr schlicht zu voll gewesen, berichtete sie.
Unter ähnlichen Vorgaben werden auch wieder Tango-Urlaube und Marathons angeboten. Wenn ich es recht sehe, haben sich aber keineswegs alle Veranstalter der Öffnung durch Umbenennung angeschlossen. Es werden auch immer wieder sorgfältig geplante Veranstaltungen (sogar mit Livemusik und Show-Auftritt) abgesagt, wenn die Inzidenzen ins Kraut schießen. Und auch das sei gesagt: Es gab und gibt Infektionen in der Tango-Szene (siehe oben). Nicht anders als im großen Rest der Gesellschaft. Trotz Impfen und Boostern.
Im Netz kursiert unterdessen ein Text der amerikanischen Familientherapeutin Virginia Satir. Auf Facebook lese ich dazu bisher ausschließlich Zustimmung. Zum Teil ziemlich enthusiastisch. Auf der anderen Seite nehme ich aber auch das Schweigen sonst fleißiger Poster wahr. Das Stück ist etwas feierlich formuliert wie ein Manifest und heißt „Die fünf Freiheiten“. Ich zitiere hier die Übersetzung von Wikipedia:
„Die Freiheit zu sehen und zu hören, was im Moment wirklich da ist,
– anstatt das, was sein sollte, gewesen ist oder erst sein wird.
Was hätte Virginia Satir wohl über Freiheit, Verantwortung und Risiko in Zeiten der Pandemie gesagt? Wir können sie nicht mehr fragen. Sie ist 1988 gestorben. Ich gehe derweil lieber weiter auf Nummer sicher.