Dies ist eine Premiere: Der erste literarische Text in meinem Blog. Auf der Suche nach GastautorInnen war mir Heinrich von der Haar eingefallen. Wir begegnen einander immer wieder auf Berliner Milongas. Ab und zu tanze ich mit seiner Frau. Über ihrer beider Reise nach Buenos Aires hat Heinrich einen eindrucksvollen Video-Vortrag gehalten. Heinrich ist promovierter Sozialwissenschaftler. Bis zu seiner Pensionierung hat er als Berufsschullehrer gearbeitet. Aber heute ist der 71jährige Schriftsteller. In diesem Jahr ist “Kapuzenjunge” erschienen, der dritte Teil einer Triolgie, in der er Motive aus der Reise seines Lebens vom Münsterland bis nach Berlin in Romanform verarbeitet hat. Ob er denn vielleicht…, setzte ich an zu fragen. Nicht nur vielleicht. Im bestem “Viejo Milonguero”- Alter hat Heinrich sich daran gemacht, seine Erfahrungen in und mit der Tangoszene aufzuschreiben. “Oskars Tangoliebe” lautet der Arbeitstitel des Manuskrips, das längst nicht abgeschlossen ist. Wie lange die Arbeit daran noch dauern wird, vermag Heinrich nicht zu sagen. Der Auszug für “mYlonga” lässt sich durchaus als Männerphantasie bezeichnen. Ich behaupte einmal: Viele von uns hegen derlei Gedankenspiele. Aber wer traut sich schon, so etwas offen zuzugeben? Vor allem: Wer ist in der Lage, es zu formulieren wie Heinrich von der Haar es kann? Vielen Dank meinem Gastautor! Und gutes Gelingen beim weiteren Schreiben! Am Schluss ein Hinweis auf den nächsten großen Auftritt mit seinem “Kapuzenjungen”, dazu einige Hinweise über den Autor und seine bisherigen Bücher.
Plüschsofas und Sessel säumten die Wände, auf Tischchen Kerzenleuchter mit Wachsbergen. Wände voller Spiegel und Schwarz-weiß-Fotografien in abgestoßenen Goldrahmen. Die Mischung aus Wohnzimmer und Trödelladen gefiel Oskar. In der Saalmitte spielte eine Argentinierin auf einem Flügel unter orientalischen Hängelampen und sang, zog sehnsuchtsvoll Silben lang. Ihm wurde feierlich zumute. Die Sängerin endete mit corazón, das kannte er, Herz. Auch mit sechzig möchte er noch etwas fürs Herz, eine, die sich aus Liebe auf ihn einließ. Oskars Blick wanderte über die tanz- und flirtbereiten Schönen an der Fensterseite. Rotes Licht zeichnete ihre Gesichter, Schultern und Arme weich. Lust gesehen zu werden, spiegelte sich in ihren Mienen, in Gebärden, im Lächeln, im Aufblühen sehr roter Lippen, im Übereinanderschlagen nackter Beine. Ja, sie wollten umworben werden.
Bald würde er eine ans Herz drücken. Die Klavierspielerin stimmte den Tango de mi flor, von meiner Blume, an. Oskar trat mit einer schlanken Rothaarigen in ein Blickduell und zwinkerte ihr zu; sie lächelte. Es prickelte ihm den Rücken hoch. Er forderte sie mit Kopfnicken auf. Nun schaute sie weg. Mist! Hoffte sie auf einen Jüngeren? Da nahm er wahr, dass eine große Frau ihn anblickte. Aus größerem Abstand nickte er ihr zu. Doch sie beugte sich vor, zupfte an den Schuh-Riemchen. Störte sie seine Größe? Eine langbeinige Blondine, die er anblinzelte, sah ihn kurz an, kramte dann in der Tasche und fischte nach dem Taschentuch. Mistvieh! Eingebildet! Sie wissen nicht, wie gut er tanzt. Er drehte auf dem Absatz herum und ging mit erhobenem Kopf zur Theke.
So ein beschissenes Lokal! Er musste hier nicht bleiben und könnte gehen. Draußen waren Nacht und Sterne und frische Luft. Auf seiner USA-Radtour hatte er viele Frauen kennengelernt. Damals hatte er alle vernaschen können, dachte er. Ein Barhocker war noch frei. Darauf überblickte er das Treiben.
Oskar sah Katja hereinkommen, im blauen Kleid, weiße Punkte funkelten darauf. Mit ihr, obwohl füllig, hatte er im letzten Jahr viel getanzt. Anfangs hatte sie ihn auf Distanz gehalten. „Trinken wir einen Wein?“ Dabei war es geblieben, bis zur Trennung von ihrem Mann. Oskar erinnerte sich an die Nächte damals in ihrer Wohnung, wie sie übereinander hergefallen waren. Es hatte ihm so gutgetan. Schön griffig fand er sie, eine reife Pflaume, da hatte er Glück gehabt. Wäre sie nur nicht so eifersüchtig auf Sally gewesen, in die er zeitgleich verliebt war.
Oskar ging Katja entgegen.
Katja strahlte, breitete die Arme aus, schlang sie um ihn, drückte sich an ihn und küsste ihn auf den Mund. „Schön, dich wiederzusehen.“
Sie schien nicht mehr beleidigt zu sein. Dass er sich im Herbst verzogen hatte, hat sie wohl vergessen. Katja umarmte ihn noch und hielt fest. Sie krallte ihn, spürte Oskar, leicht in Panik, und löste sich von ihr. Wollte sie ihn wieder einfangen? Sie hatte von Zusammenziehen geschwärmt, einer Beziehung mit allem Drum und Dran. Das war ihm zu nah gewesen, obgleich er ihre Wärme und Weichheit genossen hatte. Von ihr zu lassen, war ihm schwer gefallen, aber er wollte nicht wieder in einer Ehe festgenagelt werden.
Aber was ist das Leben im Frühling ohne Liebe?, fragte er sich, während Katja in ihre roten Schuhe schlüpfte. „Du siehst heute mal wieder wunderbar aus!“ Seit ihrer Scheidung kleidete sie sich noch anziehender. Oskars Blick glitt von ihren nackten Beinen hoch zum Figur betonenden Kleid, zur Taille, den Armen, dem Gesicht. Ihr Haar wirkte feurig. Vielleicht wird es ja doch mal wieder kuschelig mit ihr, sagte er sich. Hüte dich nur vor besitzergreifenden Ansprüchen.
Als das Trio aus Klavier, Gitarre und Bandoneon Una placer – ein Vergnügen, einen sanft schwingenden Vals spielte, ging Oskar in die Umarmung mit ihr, führte sie in überraschende Wendungen; sie kicherte. Die nackte Haut ihrer Schulter, die sich an seine Hemdbrust schmiegte, ihr voller Busen und der warme Hauch ihrer Lippen an seinem Ohr belebte ihn, je länger sie tanzten. Vielleicht konnte er mal wieder eine Nacht in ihrer Wohnung beenden. Seine Hand glitt von der Taille hoch zu ihrem Hals, seine Finger fuhren durch ihr Haar. Er steuerte mit ihr ein rotes Sofa in einem gemütlichen Winkel im Halbdunkel an, das eben noch mit Knutschenden belagert war.
Sie lachte auf, stoppte ihn. „Ach, ich muss erstmal die Strapazen vom Tag vergessen. Die Kinder waren wieder so nervig. Und dann habe ich noch drei fiebernde Kleine mit Masern reingekriegt.“ Sie schmiegte sich an ihn. „Komm, wir tanzen weiter.“
Oskar schob sie mit seinem Bauch weiter. Er sollte nicht gleich wieder mit dem Bett ins Haus fallen, ärgerte er sich, aber sich auch nicht zu sehr aufregen, dann kriegte er wieder ein unruhiges Herz, wie öfter, seit dem Stress um Katja und Sally im letzten Herbst. Ein unbelasteter Flirt ist auch reizvoll, beruhigte er sich.
Nach weiteren Tanzrunden rann Schweiß über seinen Rücken. „Lust zu einem Sekt?“, fragte Oskar.
An der Theke stieß Katja mit ihm an. Als sie sich mit ihrem tiefen Dekolleté ihm auf dem Barhocker zuneigte, schob Oskar ihr ein Stück Salzstange in den Mund und blinzelte ihr zu.
Sie lächelte, warf ihm ein Luftküsschen zu. „Wie läuft’s mit der Rikscha?“
„Wunderbar – draußen im Frühling. Man trifft nette Leute.“
„Wolltest du dir nicht eine leichtere anschaffen?“
Oskar stöhnte auf. „Der Akku ist hin. Ich habe schon überlegt, wer mir was leihen könnte.“
Katja drehte sich zur Tanzfläche.
Einen zweiten Sekt wollte Oskar nicht investieren. Er zückte sein Portemonnaie, kramte darin.
„Lass mal!“ Katja streckte dem Barkeeper einen Zehner hin.
„Super!“ Oskar gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Katja wendete sich einem Mann zu, der auf sie zukam. Der Mann – im dunkelgrauen Anzug – verneigte sich etwas steif vor ihr und hielt ihr die Hand hin, die sie ergriff. Ungläubig schaute Oskar ihnen nach.
Nach Mitternacht tauchten andere Frauen auf, als würde die Schicht wechseln. Eine Schwarzhaarige ging, begleitet von einem Endvierziger im T-Shirt, wippend auf glitzernden High Heels nah an Oskar vorbei, in kleinen, sicheren Schritten. Ihr Rock hoch geschlitzt, ein Strumpfband blitzte hervor. Ihr Blick schien Oskar entrückt, aber er nahm ihren Duft wahr, intensiv, frisch nach Rosen; tief sog er ihn in sich auf und blickte ihr nach. Die beiden tanzten. Seine Haltung schräg, als wäre der Endvierziger an einem Nagel aufgehängt, Kopf zwischen den Schultern, Rücken gekrümmt, Ellbogen erhoben, sahen aus wie Krebsbeine.
Der Endvierziger schüttelte die Schwarzhaarige nur nach dem simplen Grundtakt wie im Schraubstock hin und her, wie um sie zu bezähmen. Sie bewegte sich schwerfällig. Wieso lässt sich eine Attraktive von so einem führen? Als der Schraubstocktyp sich zwischen anderen wie einen Bulldozer hindurchschob und ein Paar anrempelte, entzog sie sich ihm und blickte mit dunklen Augen bittend zu den seitlich stehenden Männern. Niemand rührte sich, sie zu befreien; es wäre auch zu ungewöhnlich. Einer ihrer flehenden Blicke traf Oskar. Er straffte sich. Sicher kann sie wunderbar tanzen, wenn einer wie ich sie führt, dachte Oskar und ging mit vorgewölbter Brust auf sie zu. Zeit, das Weltgeschehen in die richtige Richtung zu lenken. Er klopfte dem Schraubstocktyp auf die Schulter, bot der Schwarzhaarigen seine Linke und entzog ihm die Frau.
„He!“, brummte der Schraubstocktyp.
Die Schwarzhaarige stoppte ihn mit erhobener Hand und lächelte Oskar zu. Oskar nahm ihre Hand, ihr Kreuz richtete sich auf. In ihrem Rosenduft fühlte er sich wie auf Wolken. Sie neigten sich gegeneinander. Oskar legte den Arm um ihren Rücken. Er sah, dass Katja mit großen Augen herüber starrte. Stolz schritt Oskar los, in seinen Fersen eine starke Bewegung, stieg seinen Rücken hinauf, über den Nacken hoch zum Scheitel – wie aus einem Guss. In seinen Armen wurde die Schwarzhaarige locker, agierte kompakt, aber elastisch, mit geschlossenen Augen. So war die Welt besser. Der Schraubstocktyp blickte noch griesgrämig, was Oskar noch mehr mit Stolz erfüllte. Und in seinen Augenwinkeln registrierte er bewundernde Blicke der Männer am Rand und dass Katja sich erhob und ihnen noch nachsah.
Aus dem Bandoneon floss ein sentimentaler Tango, wie süßer Likör, so schien es Oskar. Er führte die Schwarzhaarige mit der Hand am Rücken seitwärts und drängte ihren Beinen eine Kreisbewegung vor- und rückwärts auf. Er spürte eine innige Verbindung. Sie folgte ihm wie im Traum, nahm sich aber Raum und strich mit den Füßen über den Boden, wie um ihn zu erforschen, was ihn beflügelte zu improvisieren. Inmitten des Schrittes hielt er inne, scheinbar unbeweglich, als hörte er die Stille, setzte neu an, deutete einen Schritt an, machte einen anderen. Die Frau darf sich seiner nie zu sicher sein, sollte immer gespannt sein und ruhig ein wenig zittern. Er konnte provozieren, das wollte er auch, wollte wissen, wie weit er es mit ihr treiben konnte, mit ihr spielen, vor, zurück, seit, kreuzte die Schritte, als wäre er zwiespältig, er wollte mehr von ihr als nur tanzen. Er liebte schon jetzt alles an ihr: seidiges Haar, dunkle Augen, sinnliche Lippen, ihre starke Brust, zierliche Figur, dass ihm fast schwindlig vor Glück wurde. Die Schwarzhaarige reagierte sensibel, schlug Haken, fließend leicht und frei, alles Schwere in den Drehungen war weg. Jede ihrer Bewegung strahlte Sinnlichkeit aus. Es kribbelte ihm den Rücken hoch.
So gut hatte er noch nie getanzt.
Noch nie war eine Frau so sehr auf seine Wünsche eingegangen. Kein Klammern wie bei Katja. Seine Hand am Rücken der Schwarzhaarigen spürte Oskar, wie sie nachgab, das An- und Abschwellen im Strom melodischer Geigenklänge, der ihn immer weitertrug, ihnen beiden Bewegungen eingab, sich gehen zu lassen. Wie eine Meereswelle stieg ein Glücksgefühl durch seine Füße, Beine, Hüfte und Taille hoch, als hätten sie schon ewig zusammen getanzt.
Behutsam führte er sie in Drehungen und bemühte sich bei diesen Achten, das Beben ihres Herzens zu begleiten, anzustacheln und wieder zu beruhigen. Mit ihr konnte er noch viel mehr als einen erregenden Tanz zustande bringen, etwas großes Gemeinsames, das spürte er. Innigst ineinander verschmolzen bewegten sie sich beflügelt, auf vier Beinen – mal schmachtenden, mal gebieterischen, mal lockenden, mal fordernden – ein Vierfüßler, ein Fabeltier mit zwei Köpfen. Runde um Runde schwamm das Fabeltier inmitten all der Paare durch den Saal, schwebte wie in den Weiten des Ozeans, über die sich rotes Licht sanft wie ein Schleier gelegt hatte.
Im Schlussakkord verdrehten sie sich leicht gebeugt ineinander. Das Fabeltier ging in die Knie, erstarrte, Arme und Beine verschränkt, als wollte es sich gegen das Ende stemmen. Doch der steigende Gesprächslärm umstehender Paare trennte die zwei Köpfe, spaltete den gemeinsamen Körper, zerteilte das Tangotier.
Oskar musste die Schwarzhaarige loslassen, stand wieder auf eigenen Füßen, wankte aber, als könne er nie mehr alleinstehen, und machte trotz der Musikpause keine Anstalten, mit ihr die Tanzfläche zu verlassen. Er neigte sich ihr zu, umarmte sie und strich über ihre schmalen Schulterblätter und die süße Höhlung darunter. Ihr Kopf drehte sich zu ihm; seine Lippen ließen sich zaghaft auf ihrer Wange nieder, eher wie ein warmer Hauch, als fürchtete er, sie zu zerbrechen. „Das war schön!“, flüsterte er.
Sie lächelte. „Ja, wenn du meinst!“
„Tanzt du öfter hier?“
„Lieber im Werk36, samstagsnachmittags.“
In dem Augenblick kam der Schraubstocktyp auf sie zu.
„Ich muss mal frische Luft schnappen“, sagte sie und entfernte sich rasch zur Saaltür.
Der Schraubstocktyp folgte ihr mit schnellen Schritten.
Oskar sah den beiden nach, unfähig zu reagieren. Seine Schläfen pochten. Seine Kehle war unglaublich trocken. An der Bar trank er ein Glas Wasser leer. Sicher kommt sie gleich wieder, dachte er. So wie sie mit ihm getanzt hatte, musste sie etwas für ihn empfinden. Irgendwann wird sie genug frische Luft geschöpft haben. Wieder schweifte sein Blick zur Eingangstür. Dann ging er auf die Suche, im Garderobenraum, in der Frauentoilette. Er lief die Treppe hinunter, nach draußen in den dunklen Hof. Keine Schwarzhaarige. Nirgendwo. Sie war längst weg, definitiv! Nicht mal verabschiedet hat sie sich. Verflucht! Sein Herz hämmerte. Sollte er sie Samstagnachmittag, den lukrativsten Rikschastunden, im Werk36 suchen gehen? Er musste sie wiederfinden.